Auf den Spuren der spirituellen Lehrer
Im 11. Jahrhundert wanderten die ersten Sufis in Indien ein. Im Lauf der Jahrhunderte entstanden dort vier große Sufi-Strömungen. Eine davon sind die Naqschbandi. Der Orden hat Anhänger auf der ganzen Welt – und manchmal besuchen sie einander.
In Neu-Delhi, vor einem Hotel im Stadtteil Saket. Der Motor läuft bereits, als die Teilnehmer einer kleinen Reisegruppe in den Kleinbus klettern. Die zwölf Männer tragen alle einen Turban. Sie sind gerade aus Deutschland angereist und kommen aus dem Sufi-Zentrum Rabbaniyya, das sich in Eigeltingen-Reute am Bodensee angesiedelt hat.
Das Zentrum gehört zu dem Sufi-Orden der Naqschbandi. Der Meister des Zentrums, Sheikh Esref Efendi, stammt aus der Türkei und lebt seit 1972 in Deutschland. Der Krummstab, den er stets in der Hand hält, ist Zeichen seiner geistlichen Autorität. Als der Bus losfährt, erklärt er, warum er mit seinen mehrheitlich aus Deutschland, der Schweiz und der Türkei stammenden Schülern nach Indien gereist ist:
"Unser Hauptgrund hier zu sein in Indien, das ist die Sehnsucht und die Anziehungskraft unserer Großsheikhs der ‚Goldenen Kette‘ unseres Ordens, und das ist der ehrenwerte Naqschbandiya-Orden. Wir haben Sehnsucht nach unseren Wurzeln. Sie gehören zu unseren Wurzeln diese Großsheikhs, sieben Großsheiks in Indien."
Eine Kette von Vorgängern
Der Naqschbandi-Orden soll von dem Propheten Mohammed selbst gegründet worden sein, fährt Sheikh Esref Efendi fort. Einst habe sich der Prophet vor Andersgläubigen in eine Höhle flüchten müssen. Dort habe Allah ihm befohlen, den Orden zu gründen. Seit jener Zeit hat es nach der Lehre der Naqschbandis vierzig Großsheikhs gegeben, die ihr göttliches Wissen von Meister zu Schüler weiterreichten.
Sieben dieser Großmeister der "goldenen Kette" liegen in Indien begraben. Ihre Gräber sind zu Pilgerstätten geworden, wo sie als Heilige verehrt werden. Für den Sheikh beweisen die Gräber, dass die Naqschbandis einer alten Tradition angehörten, die über diese "goldene Kette" direkt mit Gott verbunden sei:
"Das ist diese Elektrik, das sind die Kabel, elektrische Kabel, die zur Zentrale führen. Und so bekommen wir immer noch unsere Kraft, und von ihnen von allen vierzig kriegen wir unsere Elektrik."
Der erste Schrein, den die Sufis aus Deutschland ansteuern, ist zu Ehren von Sheikh Baqi Billah erbaut. Der Sufi-Meister stammte aus Usbekistan, ging nach Indien und gründete hier den Naqschbandi-Orden. Seine Grabstätte ist mit zahlreichen farbigen Malereien verziert, das Grab ist mit prächtigen Tüchern abgedeckt. Dort beginnen die Sufis ihre Gebete.
Der Heilige lebt in den Herzen weiter
Sayed Kashif Ali begleitet die Gäste aus Deutschland. Er und sein Vater gehören den indischen Naqschbandi-Sufis an, sie sind die Gastgeber. Der junge Mann erklärt, was der Name des Heiligen Baqi Billah bedeutet:
"Sein Name bedeutet so viel wie: der, der niemals stirbt. Er lebt noch immer. Baqi Billah hat für Allah alles hinter sich gelassen. Er liebt Gott und existiert nur für Gott. Er ist hier ein großer Heiliger und liest die Herzen der Menschen."
Dann fügt der 27-Jährige noch hinzu, warum das Herz im Sufismus so wichtig ist:
"Das Herz ist der Kopf unseres Körpers. Von allen Teilen unseres Körpers ist das Herz der Kopf. Das Herz ist der König aller Körperteile."
Der indische Sufi-Schüler Uvais Raavi begleitet die Reisegruppe aus Deutschland. Für den 29-jährigen Fotografen spielt das Herz auch die entscheidende Rolle zwischen den deutschen und indischen Sufis:
"Wir haben eine göttliche Verbindung, wir sind über unsere Herzen verbunden."
Dann verabschieden sich die deutschen Sufis und brechen zum nächsten Schrein auf. Der Verkehr ist dicht und die Sufis beginnen wieder ihr Gebet. Emin Walther ist seit 14 Jahren ein Schüler Sheikh Esref Efendis. Der 49-Jährige erklärt, warum er bereits das dritte Mal mit dem Sheikh nach Indien reist:
"Also als Schüler eines Sheikhs ist es immer eine große Ehre, wenn man ihn begleiten darf. Wohin er auch geht. Für mich ist die Motivation, dem Sheikh zu folgen und im Alltag mit ihm zusammen zu sein. Und besonders auf Reisen ist viel Potential zum Lernen."
Gesang an Gräbern
Es ist dunkel geworden, als die Sufis einen großen, parkähnlichen Friedhof betreten. Hier liegt Hasad Quasad Noor Muhammed Badayuni begraben. Ein Heiliger, der für übersinnliches Wahrnehmungsvermögen bekannt wurde. Eine Kerze auf seinem Grab leuchtet im Dunkeln, der beschwingte Gesang der Sufis, ist weithin hörbar.
"Der Qawwali ist Nahrung für unseren Geist. Genauso wie wir essen, damit unser Körper überlebt. Man könnte sagen, dass der Qawwali unserer Seele hilft. Es ist die Magie der Worte, die gesungen werden. Die Sänger loben Gott, den Propheten und die Liebe zu Gott. Diese Worte sind wie Magie und wir fühlen Frieden, wenn wir diese Worte hören."
So erklärt Sayed Kashif Ali die Bedeutung der Gesänge, die typisch für den Sufismus in Südasien sind.
Das dritte Mausoleum, das die Sufis an diesem Tag besuchen, ist vor allem für seine Qawwali-Abende bekannt. Begraben liegt hier Khawaja Nizamuddin Auliya, einer der bekanntesten Sufi-Heiligen auf dem indischen Subkontinent. Nizamuddin Auliya lebte im 13. Jahrhundert und betonte, dass Gott nur durch die Liebe erfahrbar werde.
Der Heilige steht für die Liebe zur Menschheit, für Offenheit und die Vielfalt der Religionen. Im Mausoleum schieben sich Menschentrauben um das prächtige, gold-weiß verzierte Grabmal. Nur eine Ecke weiter sitzen hunderte Pilger auf Teppichen und hören den Qawwali-Musikern zu.
Ein Zitat des berühmten persischen Dichters Dschalal ad-Din ar-Rumi besagt:
"Wenn wir tot sind, sucht nicht unsere Gräber auf der Erde, sondern findet sie in den Herzen der Menschen."
Doch hier am Grabmal Nizamuddin Auliyas hat man den Eindruck: Die irdischen Gräber tragen stark dazu bei, dass die Heiligen in den Herzen der Menschen Erinnerung finden. Die Sufis aus Deutschland haben jedenfalls noch einige weitere Grabstätten auf ihrem Reiseprogramm.