Deutsche Wirtschaft

Das Narrativ vom kranken Mann

04:20 Minuten
Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz
Warum denn so ernst, Herr Habeck? Statt den Untergang heraufzubeschwören, könnte der Wirtschaftsminister mehr Zuversicht ausstrahlen, findet Inge Kloepfer. © picture alliance / dpa / Jan Woitas
Ein Kommentar von Inge Kloepfer · 04.03.2024
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Deutschland sei träge geworden, sagte kürzlich Bundesfinanzminister Lindner. Als "dramatisch schlecht" beschreibt Wirtschaftsminister Habeck die Lage. Unsere Autorin stört sich an dem Krisennarrativ und fordert mehr Optimismus.
Narrative sind mächtig. Sie waren es schon immer. Seit Jahrtausenden prägen Geschichten und Erzählungen nicht nur den Blick auf die Wirklichkeit, sondern wirken sich auch auf das Handeln der Menschen und auf ihr Miteinander aus.
Derzeit zeigen sich Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und Bundesfinanzminister Christian Lindner vor allem in einer Sache selten einig. Sie betrifft das Narrativ über den Zustand der deutschen Wirtschaft. Die nämlich sei nicht mehr wettbewerbsfähig. So verkünden es die beiden Minister geradezu apodiktisch und bestätigen damit eine Erzählung, die von der Wirtschaft selbst und dem Ausland – aus jeweils sehr unterschiedlichen Beweggründen – schon seit geraumer Zeit verbreitet wird: Deutschland sei der kranke Mann Europas.

In Krise hineinreden statt Umstände verbessern

Vergessen wir mal die Tatsache, dass  Habeck und Lindner an den Hebeln der Macht sitzen und schon längst etwas gegen den inzwischen auch ihrer Meinung nach fatalen Zustand von Deutschlands Wirtschaft hätten tun können: Bei solchen Aussagen der für Wohlstand und Wachstum entscheidenden Minister kann man sich nur an den Kopf fassen. Sind die beiden von allen guten Geistern verlassen, ein Land, das zugegebenermaßen derzeit ein paar gravierende Schwächen zeigt, verbal immer weiter in seine Krise hineinzureden?
Sie könnten, nein, müssten mit ihrem Narrativ in dieser Phase ganz anders ansetzen, bei den Stärken des Landes etwa, seiner einmaligen Forschungslandschaft, seinem Erfindergeist, seiner weltweit immer noch einzigartigen Produktionspräzision oder dem großen Wissen um industrielle Fertigungstiefe.
Sie könnten sich überlegen, wie sie ganz grundsätzlich und vor allem gemeinsam diesen Stärken wieder zu größerer Durchschlagskraft verhelfen: Indem sie zum Beispiel die Umstände günstiger gestalteten, durch eine bessere Bildung, eine modernisierte Infrastruktur und allen voran ein radikal entschlacktes Behördenwesen.

Konjunktur für Populisten und Systemgegner

Sie könnten darüber hinaus auch erklären, dass Phasen wirtschaftlicher Schwäche für jedes Land zum ganz normalen Auf und Ab gehören. Deutschlands lange Stärkephase nach der Finanzkrise 2008 musste irgendwann ein Ende haben. Schon allein deshalb, weil Erfolg träge macht.
Und davor? Hatten wir uns nicht Anfang der 2000er-Jahre die Bezeichnung als kranker Mann schon mal eingefangen? Oder die rote Laterne auf dem letzten Platz im Ranking des Wirtschaftswachstums?

Gut Ausgebildete verlassen Deutschland

Die Brisanz der gegenwärtigen Mainstream-Erzählung, die die Bundesregierung selbst so sehr befördert, liegt in der Reaktion der Bevölkerung. Nichts wie weg hier, sagen sich zum Beispiel hervorragend ausgebildete Hochschulabsolventinnen und -absolventen und suchen in London, Paris oder auch in der Bay Area in Kalifornien ihr Glück. Dabei bräuchte man sie dringend hier. Andere wiederum treibt das Krisennarrativ in die Arme von Populisten und Systemgegnern.
Es ist natürlich eine Illusion zu glauben, dass sich die Lage eines Landes allein durch eine Veränderung des Narrativs verbessert. Es wäre schon einiges mehr zu tun. Nicht nur von der Regierung, die sich mit dem gerade vom Bundestag verabschiedeten sehr dürftigen Wachstumschancengesetz nicht zufriedengeben darf.
Auch die Wirtschaft selbst muss ihren Beitrag leisten. Und die Bevölkerung sollte sich nicht nur in der Sicherheit wiegen, dass jeder krisenbedingte Einkommensverlust vom Staat kompensiert wird. Aber an jedem neuen Anfang steht nun mal eine Erzählung, die Fantasien beflügelt. Ein Narrativ also, das die Vorstellungen einer vielversprechenden Zukunft weckt, anstatt weiterhin den Untergang heraufzubeschwören.

Inge Kloepfer ist Wirtschaftsjournalistin, Sachbuch- und Filmautorin. Sie schreibt regelmäßig für die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung". Zuletzt erschienen ihr Roman "Die Zweifel des Homer Spiegelman" und die Musikerbiografie "Kit Armstrong - Metamorphosen eines Wunderkinds"

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