Deutsche Wirtschaft

Von wegen "Überhitzung"

Hochöfen von ThyssenKrupp
Hochöfen von ThyssenKrupp in Duisburg Bruckhausen (Nordrhein-Westfalen). © picture alliance/dpa: Arnulf Stoffel
Von Ulrike Herrmann · 21.11.2017
Viele Kriterien deuten darauf hin: Die Wirtschaft brummt. Einige Experten warnen nun vor "Überhitzung". Die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann bezweifelt diese Analyse. Für sie ähnelt die Wirtschaft einem lauwarmen Dampfkochtopf, der nicht auf Touren kommt.
Neuerdings macht ein Wort die Runde, das seit über 40 Jahren nicht mehr zu hören war, wenn es um die deutsche Wirtschaft ging: "Überhitzung".
Das Wort erinnert an einen Dampfkochtopf, der kurz vor der Explosion steht – und diese Assoziation ist gewollt. Mit ökonomischer "Überhitzung" ist gemeint, dass das Wachstum so stark zulegt, dass es gefährlich wird. Anfang November haben beispielsweise die fünf Wirtschaftsweisen vor einem riskanten Boom gewarnt. Was stimmt: Die deutsche Wirtschaft legt zu. In diesem Jahr wird mit einem Wachstum von zwei Prozent gerechnet, und 2018 sollen es sogar 2,2 Prozent sein.

Eine Million offene Stellen

Auch der Arbeitsmarkt scheint weitgehend leergefegt. Die Unternehmer klagen lautstark, dass es für sie immer schwieriger wird, geeignetes Fachpersonal zu finden. Allein bei den Technikern, Informatikern und Naturwissenschaftlern fehlen etwa 290.000 Fachkräfte, wie das Institut der deutschen Wirtschaft ausgerechnet hat. Auch in der Alten- und Krankenpflege wird das Personal knapp. Insgesamt gibt es über eine Million offene Stellen.
Trotzdem – und dies ist seltsam – steigen die Löhne kaum. Die angebliche ökonomische "Überhitzung" ist bei den meisten Beschäftigten nicht angekommen. Wer auf seinen Gehaltszettel guckt stellt fest: Viel hat sich dort nicht bewegt. Zuletzt sind die Gehälter real nur um ganze 1,8 Prozent gestiegen. Offenbar haben es die meisten Arbeitgeber nicht nötig, deutlich höhere Löhne zu zahlen, um die angeblich so knappen Arbeitskräfte zu halten.

Kerninflation bei nur 0,9 Prozent

Auch die Statistik gibt nicht her, dass die Wirtschaft "überhitzen" würde. Im Gegenteil. Die Arbeitsmenge hat sich nicht nennenswert verändert. Seit dem Jahr 2000 sind die geleisteten Arbeitsstunden insgesamt um ganze 2,6 Prozent gestiegen. Das ist fast nichts. Auch ansonsten wirkt die deutsche Wirtschaft keineswegs "überhitzt", sondern bewegt sich im Normalbereich. Diese Tatsache lässt sich bereits an der Ladenkasse beobachten: Die Preise steigen fast gar nicht. Die Kerninflation liegt derzeit bei nur 0,9 Prozent.
Bei einem echten Boom würde die Inflation jedoch galoppieren. Man stelle sich einmal vor, alle Fabriken wären komplett ausgelastet: Die Unternehmer würden sofort die Chance ergreifen, ihre Preise deftig anzuheben. Stattdessen sind sie derzeit froh, wenn sie für ihre Waren auch Käufer finden. Eine "Überhitzung" der gesamten Wirtschaft gibt es also nicht, was die Frage aufwirft: Warum wird sie dann von einigen Ökonomen behauptet?
Die angebliche "Überhitzung" ist ein taktisches Argument, das sich gegen die Europäische Zentralbank richtet. Viele Ökonomen wollen, dass die EZB endlich ihre ultralockere Geldpolitik beendet. Ihnen ist es nicht geheuer, dass die Zentralbank derzeit monatlich 60 Milliarden Euro in die europäischen Banken pumpt, um die Zinsen nach unten zu drücken. Denn die Nebenwirkungen sind nicht zu übersehen: Weil die Kredite so billig sind, werden Immobilien immer teurer.

Kosten auf dem Wohnungsmarkt explodieren

Hier ist das Wort "überhitzt" ausnahmsweise angemessen: Die Preise auf dem deutschen Wohnungsmarkt explodieren. Trotzdem wäre es extrem riskant, wenn die europäische Zentralbank anfangen würde, ihre Konjunkturpolitik zu beenden – und die Zinsen nach oben zu treiben. Das Wachstum in der Eurozone würde sofort abgewürgt – und zwar nicht nur in den Krisenländern, sondern auch in Deutschland.
Auf den ersten Blick mag das hiesige Wachstum sehr stabil erscheinen – tatsächlich ist es jedoch nur geborgt. Die deutschen Unternehmen profitieren davon, dass die geringen Zinsen den Eurokurs nach unten drücken, weil viele Investoren ihr Geld lieber in den USA anlegen, wo die Renditen höher sind.
Der niedrige Eurokurs macht wiederum die deutschen Waren auf den Weltmärkten besonders billig, was die hiesigen Exporte ankurbelt. Es ist daher ein Alarmzeichen, dass die deutsche Wirtschaft nur um zwei Prozent wächst – obwohl die EZB die Zinsen so stark nach unten drückt. In Wahrheit ist die deutsche Wirtschaft nicht "überhitzt", sondern ähnelt einem lauwarmen Dampfkochtopf, der nicht auf Touren kommt.

Ulrike Herrmann ist Wirtschaftskorrespondentin der Tageszeitung "taz", ausgebildete Bankkauffrau, Historikerin und Autorin zahlreicher Sachbücher. In diesen Tagen erscheint ihr neuer Titel "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung".



Die Journalistin Ulrike Herrmann
© Deutschlandradio / Manfred Hilling
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