Sachbuch Geschichte

Ist Deutschland ein Volk ohne Revolution?

06:42 Minuten
Cover des Sachbuchs "Die Deutschen und die Revolution" von Heinrich August Winkler
© C. H. Beck

Heinrich August Winkler

„Die Deutschen und die Revolution. Eine Geschichte von 1848 bis 1989“C.H. Beck, München 2023

176 Seiten

24,00 Euro

Von Hans von Trotha |
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In "Die Deutschen und die Revolution" spürt Historiker Heinrich August Winkler dem Verhältnis der Deutschen zur Revolution nach. Dabei nimmt er auch die Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft in den Blick.
175 Jahre nach der Revolution von 1848 legen Historikerinnen und Historiker Neuinterpretationen dieses für die deutsche Geschichte prägenden Ereignisses vor. Es überrascht, wie ergiebig das ist. Heinrich August Winkler, einer der Nestoren der deutschen Geschichtsschreibung, nutzt die Gelegenheit, das Verhältnis der Deutschen zur Revolution überhaupt zu hinterfragen.
Ans Ende dieses für einen historischen Überblick ungewöhnlich schmalen Bandes setzt er so etwas wie eine zweite Einleitung in das Thema. Ausgangspunkt sei die These des Historikers Rudolf Stadelmann gewesen, der Deutschland als „Volk ohne Revolution“ bezeichnet hat.

Freiheit und Demokratie

Nach einer Analyse der sogenannten Revolutionen von 1848/49 und 1918, aber auch der Reichsgründung 1871 (als einer „Revolution von oben“), der „Machtergreifung“ Hitlers und der sogenannten "Revolution von rechts“ sowie der „friedlichen Revolution“ von 1989 distanziert sich Winkler vor allem von Stadelmanns Prämisse, „'gelungene' Revolutionen verbürgten eine demokratische Nationalgeschichte“. Am Ende kommt er, dessen Forschungsinteresse stets der Geschichte der Freiheit galt, vielmehr zu dem Fazit, heute sei “kein Verlass mehr darauf, dass alte freiheitliche Traditionen Demokratien vor einer illiberalen Deformation bewahren“.
Winkler beschränkt sich nicht auf die Darstellung und Interpretation der Fakten rund um die genannten Wendepunkte in der deutschen Geschichte. Er bettet sie in Entwicklungslinien ein und spiegelt die Ergebnisse knapp, aber aufschlussreich in der Forschungsgeschichte.
Wie schlagend solche langfristigen Interpretationslinien sein können, zeigt der Umstand, dass die beiden Hauptziele, die die Revolution von 1848/49 in Winklers erstem Kapitel nicht erringt – nämlich Einheit und Freiheit – schließlich in der Folge der Ereignisse von 1989 im letzten Kapitel erreicht sind. Winkler zieht die Linien aber auch weiter – zurück bis zum Trauma des Dreißigjährigen Kriegs, seit dem „nichts die Deutschen so ängstigte wie alles, was auf einen Bürgerkrieg hinauslief“, und bis in unsere Tage über den Brexit, Trump und die erstarkte Rechte in Frankreich bis zu Putins Überfall auf die Ukraine und den Zustand der Demokratie in Deutschland und Europa im Jahr 2023.

Frischer Blick eines erfahrenen Historikers

Unabhängig von späteren Mythisierungen und Romantisierungen transportieren Revolutionen Erwartungen – Versprechen, die sie einlösen oder auch nicht. Deren Schicksal und ihren Folgen geht Winkler nach. Vieles wird dabei relativiert, etwa die Bedeutung der Zäsur von 1989/90. Stattdessen rückt ein Datum in den Fokus, das wenige auf dem Schirm haben dürften: 1979, das Jahr der Islamistischen Revolution im Iran – und eben auch zahlreicher anderer folgenreicher weltpolitischer Ereignisse: der Amerikareise Deng Xiaopings, dem Besuch Johannes Pauls II. in Polen, der Revolution der Sandinisten in Nicaragua und des Weltklimagipfels in Genf. Thema: die Erderwärmung.
Wie frisch der Blick eines erfahrenen Historikers auf vermeintlich bekannte Episoden der Geschichte sein kann, das ist eine von vielen Erkenntnissen, die die Lektüre dieses sehr lesenswerten Buchs bereithält.
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