Verdiente Gewinnerin aus einem starken Jahrgang
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Mit "Annette, ein Heldinnenepos" wird erzählerische Leidenschaft und das Plädoyer für unbedingten Mut ausgezeichnet. Doch auch die anderen Kandidatinnen für den Deutschen Buchpreis berühren wichtige Stoffe und sind formal überzeugend.
Der Deutsche Buchpreis für Anne Webers "Heldinnenepos" ist eine überraschende, aber gute Wahl. Wobei bei dieser Shortlist ohnehin nur eine gute Wahl möglich war. Webers Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für Mut, Unbedingtheit, Humanität, und es ist eine Liebeserklärung an Annette Beaumanoir, die all das bewiesen hat. Es ist ein Buch nicht ohne Witz, nicht ohne Ironie und voller Versuche, Distanz zu wahren – was bei dieser Lebensgeschichte ungeheuer schwer ist.
Denn Annette Beaumanoir hat mit 16, 17 Jahren während der deutschen Besatzung in Frankreich zunächst Botendienste für die Résistance geleistet, dann Gefährlicheres. Und sie rettete Juden, und weil sie dafür keinen Auftrag hatte, wurde sie von der kommunistischen Résistance exkommuniziert. Daraufhin ging Annette Beaumanoir zur gaullistischen Résistance.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verschloss sie die Augen nicht davor, dass ihre eigene Nation Algerien besetzt hatte. Sie begab sich nach Nordafrika, kämpfte auf der Seite der Unabhängigkeitsbewegung gegen die Franzosen und geriet 1965 beim Putsch in Lebensgefahr. Nur diesen Ausschnitt erzählt Anne Weber. Das Leben von Annette Beaumanoir, die heute 96 Jahre alt ist, geht weiter, aber die "Weltverbesserungsversuche" sind weniger spektakulär, urteilt Webers Erzählerin. All das lässt sich in Beaumanoirs Lebensgeschichte nachlesen, die auch auf Deutsch vorliegt.
Ironische Verfremdung des alten Epos
Der Titel des Buches "Annette, ein Heldinnenepos" ist zunächst einmal eine ironische Verfremdung des alten Heldenepos. Dann ist es ein Versuch, von einer starken Frau, einem starken Einsatz für die Humanität zu erzählen – bei beständigen Hinweisen auf die Erzählweise. Das Heldinnenepos wird nie staatstragend, es wird zerschossen. Es gibt mündliche Partien darin, und die Erzählerin ermahnt sich, nicht zu schnell vorzugehen und den Spannungsbogen nicht zu überreizen.
Die erzählerische Leidenschaft mit ihrer Eleganz und ihrer Wurschtigkeit ist berückend. Nur über den Humor kann man geteilter Meinung sein. Einmal kommentiert die Erzählerin, Annette trage "das Herz auf dem rechten Fleck und nicht in der Hose" – na ja.
Ich freue mich für Anne Weber, deren Bücher – etwa die verspielte fesselnde Liebesgeschichte "Luft und Liebe" oder "Ahnen" über ihre Familiengeschichte und die deutschen Todeslager – schon lange viel mehr Aufmerksamkeit verdienen. Nun endlich wird ihr diese Aufmerksamkeit zuteil.
Gespenster und die Puppenkiste
Insgesamt war es ein guter Literaturjahrgang. Schon auf der Longlist standen sehr viele Bücher, die wichtige Themen berühren und gut und ungewöhnlich erzählt sind. Etwa das Debüt von Deniz Ohde "Streulicht" über das Aufwachsen als Migrantin in Deutschland; etwas schrullig und souverän komisch der Kolonialismus bei "Die Dame mit der bemalten Hand" von Christine Wunnnicke; sehr avanciert die Grenze zum Essay überschreitend ist Dorothee Elmigers "Aus der Zuckerfabrik"; die Gespenster der Vergangenheit mit suizidaler Wirkung treten auf in "Serpentinen" von Bov Bjerg; deutsche Medien- und Fernsehgeschichte erzählt Thomas Hettches "Herzfaden" anhand der Augsburger Puppenkiste und mit klugen Überlegungen zu Anmut und Schwerkraft.
Alle diese Bücher der Shortlist waren gute Kandidaten für den Deutschen Buchpreis. Weshalb nicht nur Anne Webers "Annette, ein Heldinnenepos", sondern auch sie gelesen werden sollten. Ebenso die vielen anderen Bücher, die es außerdem gibt und die jeder Leser, jede Leserin für sich entdecken kann.