"Ich sehe mich immer noch als Außenseiter"
Wenige Stunden nach der Verleihung hat Frank Witzel, der Träger des Deutschen Buchpreises 2015, mit uns über seinen Roman gesprochen - und über den Titel: "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969".
Die Jury des Deutschen Buchpreises hat Frank Witzels Roman in ihrer Begründung "ein im besten Sinne maßloses Romankonstrukt" genannt. Maßlos ist auch der Titel des Buches: "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969". "Ab jetzt darf er einfach 'Die Erfindung' genannt werden", sagte der frisch gekürte Preisträger im Deutschlandradio Kultur über den Roman.
Ungeahnte Prominenz für ein 800-Seiten-Buch
"Die Erfindung" ging am Montagabend als Außenseiter in das Rennen um den wichtigsten Preis für deutschsprachige Literatur. Frank Witzel war bereits über die Nominierung seines sperrigen 800-Seiten-Buchs überrascht. Die Auszeichnung hat innerhalb von Stunden das Werk und auch den Autor ungeahnte Prominenz geschenkt - für Witzel eine ungeahnte Situation:
"Ich sehe mich immer noch als Außenseiter. Mal sehen, wie lange ich noch mit dieser Rolle umgehen kann."
In seinem Buch beschreibt Witzel mit Hilfe zahlreicher Perspektivwechsel und in vielfältiger literarischer Form die 1960er- und 1970er-Jahre in der hessischen Provinz. Der Protagonist ist ein dreizehneinhalb Jahre alter Teenager, der sich sich aus seinem konservativen, erzkatholischen Umfeld befreit. Sein Ausweg ist vor allem die Musik. Der Roman skizziert die Verhältnisse in der BRD zu einer Zeit, in der der politische Widerstand zu erwachen beginnt.
Fast 15 Jahre hat Frank Witzel an dem Romanprojekt gearbeitet. Zuletzt sei es nicht mehr darum gegangen zu schreiben, sondern aus der Textmasse eine Geschichte zu basteln und die Fragmente neu anzuordnen:
"Ich hatte am Ende so viel Text angesammelt, dass ich dann die letzten Jahre nur noch damit verbracht habe, diese Texte natürlich auch umzuschreiben. Ich habe auch bis zuletzt neue Kapitel geschrieben und neue Szenen erfunden, aber im Wesentlichen war es dann doch eine Art Komponieren."
Frank Witzel ist Schriftsteller und Musiker. Die Musik spiele eine entscheidende Rolle für "Die Erfindung". Der politische Widerstand junger Menschen in der damaligen Zeit sei vor allem von Entwicklungen in der Popkultur begleitet und angetrieben worden. "Das Meiste kam über das Radio, über die Songs, es kam über die Platten", sagte Witzel im Gespräch mit Christine Watty. "Es ging mir in dem Buch darum, einen Sound zu erzeugen."
Das Interview im Wortlaut:
Christine Watty: "Im Zimmer des dreizehneinhalbjährigen Protagonisten steht eine Ritterburg, und die Bewohner derselben heißen nicht Ritter Rost und Burgfräulein Kunigunde, es sind vielmehr Andreas Baader und Gudrun Ensslin als Indianersquaw. Ich habe sie mal in einer Wundertüte gefunden, wo sie zwischen Puffreis lag." So begründet der Ich-Erzähler die Existenz dieser Figur. Das war ein Ausschnitt quasi, nicht aus einem verrückten Popsong, sondern aus einem Roman, dessen langen Titel Sie sich inzwischen vielleicht schon langsam merken können: "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969". Geschrieben hat dieses Buch Frank Witzel, und er hat heute Abend den Deutschen Buchpreis gewonnen, trotz seines eher Außenseiterdaseins zuvor auf der Shortlist. Herzlichen Glückwunsch, Frank Witzel, und guten Abend!
Frank Witzel: Guten Abend!
Watty: Ich glaube, Sie waren wirklich überrascht über die Entscheidung der Jury. Können Sie inzwischen glauben, dass der 11. Deutsche Buchpreis Ihnen gehört?
Frank Witzel: Da Sie es gerade eben auch noch mal gesagt haben, glaube ich es!
Watty: Als großzügiger Gewinner haben Sie gleich eine gute Tat getan und haben Ihrem jetzigen und auch zukünftigen Publikum etwas geschenkt, nämlich eine Abkürzung für den Titel Ihres Romans. Wie darf er denn jetzt heißen?
Frank Witzel: Ab jetzt darf er einfach "Die Erfindung" genannt werden!
Christine Watty: Sehr schön, aber in lang ist der Titel auch sehr schön, wie ich finde! Ich habe überlegt, wie man denn dieses Buch zusammenfassen kann und habe mich am besten dafür an einem Zitat von Ihnen orientiert. Sie haben ja gesagt, dass der Roman eigentlich im Wesentlichen der Versuch ist, sich zu erinnern an die Zeit mit dreizehneinhalb, wie es damals war, und sich auch an den Blick von damals auf die Umwelt, auf Ihre Umwelt zu erinnern, also in die natürlich diverse politische Ereignisse fielen. Wie kam Ihnen denn die Idee dazu, sich genau an diese Zeit erinnern zu wollen und damit ja gleich auch ein großes Stück BRD zu erklären?
Lebensgefühl eines Teenagers
Witzel: Die Idee hatte ihren Ursprung eigentlich im Biografischen – im Autobiografischen, um genauer zu sein. Es war eine Zeit, in der ich Teenager war, und mir ist aufgefallen, dass es eine Zeit war, die natürlich gesellschaftliche Umbrüche hatte, aber natürlich auch ganz privat. Das geschieht jedem Teenager mehr oder minder so, dass er sein eigenes Leben auf der Folie der Historie oder der gesellschaftlichen Umbrüche, die in der Zeit gerade passieren – wenn heute ein Teenager dreizehneinhalb ist, ist das bestimmt auch eine sehr spannende, interessante Zeit. Damals aber, glaube ich, kommt noch etwas Eigenes hinzu: Man wusste selbst noch nicht genau in der Historie, wie man mit solchen Veränderungen und Umbrüchen – vor allen Dingen Umbrüchen, die aus der Jugendbewegung oder der Studentenbewegung kamen –, wie man mit denen umgehen soll. So gab es auf der einen Seite dieses starre Beharrungsvermögen der 50er-Jahre, auf der anderen Seite gab es schon das Neue, und dazwischen befindet sich dieser Teenager, der noch viel stärker – einfach dadurch, weil er nicht selbst agieren kann, weil er in die Schule geht, weil er im Elternhaus ist – in dem Alten verhaftet ist, und er sieht das Neue schon.
Watty: Die Jury des Deutschen Buchpreises hat diesen großen Roman, der aus all diesen Eindrücken und Versuchen, diese Umbrüche abzubilden, folgendermaßen beschrieben, und zwar: "Der Buchpreis gebührt diesem Buch, weil es ein genialisches Sprachkunstwerk ist, das ein großer Steinbruch zugleich ist, ein hybrides Kompendium aus Pop, Politik und Paranoia", und das spielt auch auf die unterschiedlichen Perspektiven an, die Sie in diesem Buch einnehmen und die in diesem Buch aufgezeigt werden. Das muss doch besonders berührend für Sie sein, weil das ja tatsächlich auch nicht nur 800 Seiten dick ist, sondern auch 15 Jahre dauerte, bis es fertig war. Wie haben Sie denn am Ende dieses große Werk – ich wollte eigentlich fragen, geschrieben, aber dachte gerade, vielleicht eher müsste man fragen, gebastelt oder gebaut oder zusammengesetzt?
Witzel: Ja, das trifft es ganz gut. Ich hatte am Ende so viel Text angesammelt, dass ich dann die letzten Jahre nur noch damit verbracht habe, diese Texte natürlich auch umzuschreiben. Ich habe auch bis zuletzt neue Kapitel geschrieben, neue Szenen erfunden, aber im Wesentlichen war es dann doch eine Art komponieren, würde ich es nennen. Ich habe genau gespürt, was jetzt kommen muss als nächstes Kapitel, welche Art von Textform oder von Erzählform dorthin gehört. Der Humor spielt eine große Rolle, aber es gibt natürlich auch viel sehr ernsthafte oder auch manchmal den Leser bestimmt herausfordernde reflektorische Passagen.
Ich wollte "einen Sound erzeugen"
Watty: Wenn Sie schon den Begriff des Komponierens verwenden: Sie sind auch selbst Musiker. Welche Rolle spielt denn in diesem Buch "Die Erfindung" der Soundtrack, also im Zweifel vielleicht sogar auch der, den Sie gehört haben, aber vielleicht auch im weitesten Sinne die Popkultur?
Witzel: Spielt natürlich eine ganz wesentliche Rolle, weil der Widerstand oder das Neue, das kam ja über einen Sound. Das war ja das Erste, was man sah, hörte vielmehr. Ich sage jetzt sehen, weil es natürlich auch eine Modeerscheinung ist, aber das meiste kam natürlich über das Radio, es kam über die Songs, es kam über die Platten, die man erst sehr spärlich hatte, und deswegen hat sich diese Veränderung wirklich zuerst als Musik angekündigt. Vielleicht ging es mir in dem Buch auch deshalb vor allen Dingen darum, auch wieder einen Sound zu erzeugen. Das ist mir eigentlich erst so im Laufe der letzten Arbeiten daran klar geworden, dass ich immer unzufrieden war, wenn etwas fehlte, weil es ging mir eher um den Sound, und da es ohnehin nicht linear erzählt wird – es gibt viel Handlung, aber keinen richtigen Plot –, ist das das bestimmende Element des Romans.
Watty: Sie haben den Pop als Welterklärungsmodell auch schon in anderen Büchern aufgegriffen und haben zusammen mit den Radio-DJs Klaus Walter oder Thomas Meinecke gearbeitet – heißt das, es würde zu diesem Buch tatsächlich auch ein echter Soundtrack passen, einer der Sie vielleicht die ganze Zeit begleitet hat?
Witzel: Es gibt bestimmt Stücke, die eine große Rolle spielen, die "Rubber Soul" etwa, die mehrfach erklärt wird in diesem Buch, aber ich würde natürlich als Schriftsteller dann immer darauf beharren wollen, dass das Buch selbst seinen Soundtrack bildet. Wenn ich schreibe, dann höre ich keine Musik. Ich habe das natürlich alles im Hintergrund und ich würde mich auch freuen, wenn solche Soundbites oder Fetzen oder Erinnerungen an Stücke beim Leser aufsteigen, aber ich glaube, ich möchte doch das Buch selbst als Sound verstanden wissen, den man dann zurückbehält, wenn man es gelesen hat und natürlich auch schon während des Lesens empfindet.
Watty: Sie haben schon vor diesem kiloschweren Buch Bücher geschrieben, jetzt gibt es auf einmal den Buchpreis. Sie selbst haben der Jury heute Abend gratuliert zu dieser Entscheidung, sich einem Außenseiter zuzuwenden. Das sind Sie natürlich jetzt nicht mehr. Die Sache mit dem Außenseiter ist jetzt vorbei, Sie sind angekommen im literarischen Establishment seit ein paar Stunden – was machen Sie denn jetzt?
Witzel: Da bin ich völlig überfragt! Ich sehe mich immer noch als Außenseiter. Mal sehen, wie lange ich noch mit dieser Rolle umgehen kann, wie lange ich das noch durchhalte. Der Buchpreis ist eine ganz wunderbare Sache, und natürlich die Aufmerksamkeit, die jetzt auf das Buch vor allen Dingen, hoffe ich, kommt, die empfinde ich als eine wunderbare Chance. Was dann kommen wird, das kann ich jetzt beim besten Willen noch gar nicht sagen. Da fehlt mir die Fantasie in diesem Moment.
Watty: Dankeschön Ihnen, Frank Witzel, frisch gekürter Buchpreisträger 2015!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.