Lernunfähige Schulen
Heute werden in Berlin die Ergebnisse der neuesten PISA-Studie vorgestellt. Verändern wird sich dadurch aber nur wenig, meint der Historiker Ulrich Heinemann. Denn das deutschen Bildungssystem sei alles - nur leider wenig lernfreudig.
Alle drei Jahre führt die OECD internationale Schulleistungsuntersuchungen durch. In Deutschland hat das schlechte Abschneiden in der Vergangenheit zu zahlreichen Absichtserklärungen geführt: chancengerechter, leistungsstärker, zukunftsfester sollten deustche Schulen werden, so das Ziel, seit vor rund 15 Jahren die erste PISA-Studie veröffentlicht wurde. Geklappt hat's leider nicht, meint der Historiker Ulrich Heinemann.
Zwar sei seit PISA viel in den Schulen passiert, so Heinemann im Deutschlandradio Kultur. Die Schulen seien selbstständiger und die Lehrpläne verändert worden. "Die Evalutation - sowohl der fremde Blick auf die Schulen als auch der schulische Selbstblick - hat stattgefunden. Nur das alles ist im Wurzelwerk der Schulen nicht angekommen."
Fehlende Arbeitsteilung und schwache Teamorientierung
Die Arbeitsorganisation an den Schulen stecke immer noch im 19. Jahrhundert fest, bemängelt der Historiker. "Es gibt immer noch überwiegend den Halbtags-Unterricht mit 45-Minuten-Takt. Es gibt immer noch - und das ist ein großes Problem - Mono-Professionalität. Es gibt eine fehlende Arbeitsteilung, eine schwache Team-Orientierung und in der Tat einen lehrerzentrierten, auf den Klassendurchschnitt fixierten Unterricht."
Ihre Allzuständigkeit überlaste die Lehrer, sagt Heinemann. Dennoch hielten Lehrerverbände wie auch die Öffentlichkeit sehr stark an diesem belastenden Modell fest. "Es gibt, wenn man so will, eine feste Ansicht, wie Schule zu sein hat. Die unterscheidet sich sehr von dem wie Schule in anderen Ländern ist, wo es beispielsweise multiprofessionelle Teams gibt." Kaum etwas sei populärer als die Auffassung "lasst doch die Lehrer ihre Arbeit tun, stört doch nicht durch eine Reform".
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Man möchte hierzulande eigentlich kein 15-jähriger Schüler oder eine Schülerin sein. PISA sage ich nur. Heute um elf werden in Berlin die deutschen Ergebnisse der neuesten PISA-Studie vorgestellt und schulpolitisch hat PISA hierzulande ja zu vielen Absichtserklärungen geführt: Chancengerechter, leistungsstärker, zukunftsfester sollten deutsche Schulen werden.
Die Folgen indes, die bleiben überschaubar. Der Zeithistoriker Ulrich Heinemann sieht die Gründe darin, dass sich Deutschland den zentralen Problemen im Bildungsbereich nicht stellt, sondern sie tabuisiert. Schönen guten Morgen, Herr Heinemann!
Ulrich Heinemann: Guten Morgen, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: PISA ist ja seit den ersten Studien der OECD im Jahr 2000 ein gefürchtetes Wort, muss ich sagen, denn es steht dafür, dass Deutschland bei dieser Messung der unter 15-Jährigen international oft eher mau gewesen ist. Und jetzt kommen Sie und sagen, die Modernisierung nach PISA hat gar nicht stattgefunden, die deutsche Schule sei als System lernbehindert. Das ist ja harter Tobak, wie kommen Sie dazu?
Heinemann: Ich habe nicht geschrieben oder nicht gesagt, dass die deutsche Schule lernbehindert ist, ich habe geschrieben und versucht herauszufinden, dass die Arbeitskultur in der deutschen Schule sozusagen lernschwach ist.
Ich will vielleicht noch mal auf einen Punkt hinweisen: Seit PISA ist in den Schulen sehr viel passiert, es ist nicht so, dass nichts passiert ist. Die Schule jedenfalls hat sich nach außen hin bewegt, vor allen Dingen die Politik hat sich bewegt. Die Schulen sind selbstständig geworden, die Lehrpläne sind auf Kompetenzen, also auf wissensgestütztes Lernen umgestellt worden, die individuelle Förderung steht in allen Schulgesetzen, regelmäßig werden Lernstandserhebungen veranstaltet, die Evaluation – sowohl der fremde Blick auf die Schule als auch der schulische Selbstblick – hat stattgefunden.
Nur, das alles ist im Wurzelwerk der Schulen nicht angekommen.
von Billerbeck: Also doch lernschwach. Ich habe es zwar zugespitzt, aber Sie bleiben ja dabei. Sie sagen nur, daran ist nicht ein Einzelner schuld, sondern das System Schule. Wir haben es ja erlebt, Deutschland hat sich in den letzten Jahren ganz stark verändert, die digitale Revolution ist überall eingezogen. Und Sie sagen in Ihren Untersuchungen, die Unterrichtsstile der Lehrer steckten immer noch im 19. Jahrhundert fest. Wie bitte kann das sein?
Fehlende Arbeitsteilung, schwache Teamorientierung
Heinemann: Ich sage, dass die Arbeitsorganisation im 19. Jahrhundert feststeckt. Schauen Sie, es gibt immer noch überwiegend den Halbtagsunterricht mit 45-Minuten-Takt, es gibt immer noch – und das ist ein großes Problem – Monoprofessionalität, es gibt eine fehlende Arbeitsteilung, schwache Teamorientierung und in der Tat einen lehrerzentrierten, auf den Klassendurchschnitt fixierten Unterricht und wenig individuelle Förderung, obwohl, wie ich gerade schon angedeutet haben, das in den Schulgesetzen der Länder steht.
Und man muss auch dazu sagen, dass in die Schulen durchaus sehr viele Mittel, sehr viele Ressourcen geflossen sind, die aber nicht, wenn man so will, umgesetzt werden konnten.
von Billerbeck: Wenn das alles so ist – und Sie kennen das ja alles genau, Sie waren ja Abteilungsleiter im Ministerium für Schule und Weiterbildung in Nordrhein-Westfalen bis 2015: Warum gehen dann bitte schön die Eltern nicht auf die Barrikaden?
Heinemann: Es gibt, wenn man so will, eine stille Übereinkunft zwischen Eltern, Lehrern und auch Publikum. Auch das Publikum, also auch wir alle sind, wenn man so will, auf diese Schule, auf diese Form, die ich gerade beschrieben habe, fixiert und sind sehr wenig reformorientiert. Es ist also nicht nur so, dass ich irgendwie Noten verteile, sondern sozusagen uns alle anspreche.
Wenig ist populärer als der Satz: Lasst doch die Lehrer in der Schule ihre Arbeit tun, stört doch nicht durch Reformen! Das ist, wenn man so will, eine allgemeine Ansicht, die immer dann, wenn es Spitz auf Knopf kommt, zum Beispiel auch die Medien vertreten.
von Billerbeck: Na ja, man hat ja immer den Eindruck, dass an den Lehrern eine ganze Menge herumgekrittelt wird und dass denen ganz schön viel Verantwortung zugeschoben wird. Das ist ja auch so.
"Allzuständigkeit" belastet Lehrer
Heinemann: Das ist auch so und ich habe ja gerade gesagt, die Lehrer sind sozusagen allzuständig. Die Fachlehrerinnen und Fachlehrer sind allzuständig, es gibt in der Schule wenig Arbeitsteilung, es gibt wenig das, was es in anderen Berufen gibt, wo Professionalisierung auch Spezialisierung bedeutet. Und diese Allzuständigkeit bis in die Pausenaufsicht hinein überlastet natürlich die Lehrer.
Auf der anderen Seite halten Lehrerverbände an diesem Modell, auch an diesen vermeintlichen Privilegien, die eigentlich belastend sind, sehr stark fest.
von Billerbeck: Aber diese Diagnose, die Sie hier gerade äußern, ist ja gar nicht so neu. Warum hat sich trotzdem zu wenig geändert?
Heinemann: Ich habe ja gerade gesagt, es gibt, wenn man so will, eine feste Ansicht, wie Schule zu sein hat. Die unterscheidet sich sehr von dem, wie Schule in anderen Ländern ist, wo es beispielsweise multiprofessionelle Teams gibt, wo es auch Assistenzlehrer gibt, wo es die Zusammenarbeit mit anderen Professionen gibt, mit Heilpädagogen, mit Sozialpädagogen, viel stärker als bei uns. Das deutet sich bei uns in einigen Punkten an sozusagen, hat sich aber noch nicht durchgesetzt.
Und ich habe ja so was gemacht wie eine Geschichte der Schule nach PISA, habe das über 15 Jahre verfolgt und habe alle Gruppen und alle Akteure dieses Schulsystems einmal beleuchtet und bin sozusagen zu dieser Erkenntnis gekommen, dass es nicht allein am Geld liegt – da kann noch ganz viel getan werden, da kann noch ganz viel investiert werden –, aber wenn wir investieren, dann investieren wir darin, die Klassen um ein, zwei, drei Schüler sozusagen zu verkleinern, das heißt, dass wir Fachlehrerinnen und Fachlehrer in den Unterricht stecken, statt sozusagen diese Multiprofessionalität zu fördern.
von Billerbeck: Ulrich Heinemann war das am heutigen Tag, an dem die deutschen PISA-Studienergebnisse verkündet werden. Und seine Diagnose, von der Sie eben im Gespräch schon gehört einiges haben, die erscheint als Buch dann im Januar und heißt "Bewegter Stillstand. Die paradoxe Geschichte der Schule nach PISA". Ich vermute, Herr Heinemann, wir hören uns wieder, ich danke Ihnen schön!
Heinemann: Auf Wiederhören, Frau von Billerbeck!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.