Heimatgeschichtsprojekt über die DDR
Mit den beiden Antipoden Luther und Müntzer beschäftigt sich der Lyriker, Essayist und Pastor Christian Lehnert in "Vom Lärm der Welt oder Die Offenbarung des Thomas Müntzer". Vor allem jedoch erfährt man etwas über das Geschichtsverständnis der DDR.
Die Konzeption ist anspruchsvoll. In gemeinsamen Produktionen von Musiktheater und Schauspiel soll unter der Überschrift "Existenz - Resistenz" die deutsche Geschichte in Verbindung mit der Weimarer Stadthistorie zum Thema gemacht werden. Den Anfang machten nun die Bauerkriege und Thomas Müntzer, seine Visionen und Hoffnungen auf eine neue Gesellschaft, die in der Schlacht bei Frankenhausen 1525 blutig niedergeschlagen wurden.
Dass man zwischen Musiktheater und Schauspiel an einem Abend switchen und beide Bereiche verbinden kann, zeigte erst kürzlich die Berliner Staatsoper: in "Rein Gold" wurde Elfriede Jelineks Text über Auswüchse des Finanzkapitalismus - vorgetragen von einem Schauspieltrio - mit Wagners Musik verbunden, dargeboten von der Berliner Staatskapelle und Wagner-Sängern.
Auch in Weimar ist der Abend Chefsache: Der Intendant Hasko Weber inszeniert mit viel theatralischer Lust, der Generalmusikdirektor Stefan Solyom dirigiert dafür von Sven Helbig komponierte Theatermusik, sehr effektvoll zwischen liturgischem Gesang und pulsierenden an Carl Orff erinnernden Chören wechselnd. Auch in Weimar drei Schauspieler ("die drei Dämonen der Zukunft"), die die beiden Gegenspieler des Stückes Thomas Müntzer und Martin Luther, aber auch zeitgenössische Figuren und Themen (eine werdende Mutter und einen Dschihadisten) kommentieren. Spielfreudig auch das Sängerterzett (Jörn Eichler, Björn Waagund Steffi Lehmann), dessen Gesang immer wieder die Handlung und Debatten des Stücks eindrucksvoll überhöht.
Ein Geschichtsdrama ist "Vom Lärm der Welt" aber keineswegs, Christian Lehnert geht es viel mehr generell um den Sinn von Geschichte und geschichtlichem Handeln , den er an den beiden Antipoden Luther und Müntzer vorführen will - und bei Müntzer wohl auch um eine Revision der DDR-Bildes, die Müntzer als einen Vorläufer einer sozialen Revolution durchhaus zu würdigen wusste.
Auch eine Art Predigt
Theologische Fragen nach dem Sinn von Zukunft und politischer Aktivität, nach dem Stellenwert von "Ruhe" und "Lärm" bestimmen, wenn man so will, seit der Antike das Theater, und der "Gang zu den Müttern" ist in der Goethe-Stadt Weimar wohl vertraut. Aber muss es wirklich eine werdende Mutter sein, die das Leben, "das heilige Ja-Sagen", auch ohne Ultra-Schall-Vorhersage auf die Welt bringen will?
Christian Lehnert ist nicht nur Lyriker und Essayist, sondern auch Pastor und Liturgiewissenschaftler, und insofern lässt sich trotz aller theatralischer Lust und Sprachpoesie "Vom Lärm der Welt" auch als Predigt verstehen. Tendenziös sind dabei schon die wörtlichen ins Stück eingebauten Zitate, beispielsweise wenn ein Karl Marx-Zitat sofort mit einem von Alfred Rosenberg (dem Nationalsozialismus-Ideologen) gleichgesetzt oder wenn Müntzer mit ihm von seinen Gegnern unterstellten Reden präsentiert wird. Wenn Luther erklärt, "es kommt die Zeit, da man den Massenmörder erkennt" werden Filme mit Vladimir Putin - als hofierter zweiter Stalin - eingeblendet; und wenn wiederholt eine Stimme ruft "Als Deutscher ist man nicht Muslim? Warum. Weil diese Rasse nichts mehr weiß von sich" - dann könnte das leicht auch als Echo auf Christian Wulffs Aussage "Der Islam gehört zu Deutschland" missverstanden werden. Der Kurzschluss zwischen Dschihad und Müntzer überzeugt jedenfalls nur bedingt.
Ein Geschichtsprojekt ist "Vom Lärm der Welt" vielleicht dennoch, ja vielleicht sogar ein Heimatgeschichtsprojekt, weniger eines über die Schlacht in Frankenhausen und über Müntzer und Luther, weniger auch eines über islamistischen Terror, sondern eines über die DDR, ihr Geschichtsverständnis und die - oft auch von Pastoren getragene - "Revolution", die sie beendete. Und als Theaterabend kurzweilig ist die Weimarer Aufführung allemal.