Der Fitness-TÜV
28:49 Minuten
Knapp eine Million Menschen machen jedes Jahr in Deutschland das Sportabzeichen. Viele Schüler oder Auszubildende weil sie müssen. Was aber treibt die anderen? Und was diejenigen, die freiwillig Zeiten stoppen und Weiten messen?
Ein strahlend schöner Spätsommertag in Berlin. Es ist Samstag Nachmittag, kurz vor zwei. Auf dem DeGeWo-Sportplatz in der Gropiusstadt ist ganz schön Betrieb. Immer mehr Menschen, alte und junge, kommen ins Stadion. Viele von ihnen haben eine Sporttasche geschultert. Hier ist heute Leistungsabnahme fürs Sportabzeichen.
Fritz Veuhoff ist einer der ehrenamtlichen Prüfer. Aber noch ist es nicht soweit. Erst müssen sich die Kandidaten noch anmelden, ihren Laufzettel ausfüllen. Die Anträge liegen in einem kleinen, fensterlosen Holzschuppen gleich hinter der Tartanbahn aus. Mitten in der winzigen mit Urkunden, Wimpeln, Fotos, Maßbändern und allerlei anderem Krimskrams vollgestopften Hütte steht ein Tisch. Immer wenn es beim Registrier-Prozedere kompliziert wird und hakt, ist Fritz Veuhoff zur Stelle.
Ein Klassiker deutscher Gründlichkeit
Das Sportabzeichen ist ein Klassiker deutscher Gründlichkeit. Ein gefundenes Fressen für Statistiker. In seiner über 100-jährigen Erfolgsgeschichte hat es zwar immer wieder ein paar Änderungen gegeben. Aber meist waren das eher kosmetische Reformen. So, wie vor 20 Jahren, als Inline-Skating zur Leistungsabnahme zugelassen wurde. Einschnitte wie 2010, als die Abstufungen Gold, Silber und Bronze eingeführt wurden, haben da schon Seltenheitswert. Fritz Veuhoff ordnet die Anmeldeformulare und überprüft seine Stoppuhr.
"Also, Sportabzeichen ist für mich eine Vielseitigkeitsprüfung, die für mich so angelegt ist, das sie der Fitness dient. Und wer Sport treibt, ist meistens etwas gesünder. Nicht so anfällig, vom Immunsystem her. Und es macht halt eben Spaß."
Um Viertel nach zwei sind ungefähr drei Dutzend Sportler auf dem Platz in der Gropiusstadt. Die meisten von ihnen haben sich inzwischen in den Kabinen, die sonst von Vereinen wie dem Football Team der Berlin Bears genutzt werden, umgezogen. Ein paar Nachzügler nimmt Fritz Veuhoff jetzt noch auf, bevor es mit den Leistungsabnahmen losgehen kann.
Iris Wünsch geht an Krücken. Ein schwerer Skiunfall setzt sie seit Monaten außer Gefecht. Selbst heute sportlich aktiv zu werden, ist für sie völlig ausgeschlossen. Sie ist mit ihren 15-jährigen Zwillingen hier. Tochter Viktoria möchte zum Zoll. In der Bewerbung muss sie ihre sportliche Leistungsfähigkeit nachweisen. Ein klassischer Fall fürs Sportabzeichen.
Jugendliche kommen nur, wenn es sein muss
"Sie möchte nämlich zur Polizei. Und dort ist die Prüfung Sport ziemlich schwierig. Und jetzt hat sie sich für den Zoll entschieden. Und dort muss sie das Sportabzeichen in Bronze bringen. Und dazu braucht sie das Schwimmabzeichen, das haben wir jetzt in den Ferien gemacht, richtig beim Schwimmverein in der Schwimmschule. Da hat sie den Fahrtenschwimmer und den Allroundschwimmer gemacht. Und der ist Voraussetzung, damit sie Bronze hier bekommt."
Knapp 800.000 Menschen haben im vergangenen Jahr das Sportabzeichen gemacht, zwei Prozent mehr als im Jahr zuvor. Drei Viertel der Absolventen waren Kinder und Jugendliche. Die meisten machen mit, weil sich ihre Schulen beteiligen und sie deshalb zur Teilnahme verpflichtet sind. Allein in Berlin waren 2018 laut Landessportbund 124 Schulen dabei. 18.000 Schülerinnen und Schüler schafften Gold, Silber oder Bronze. Ohne schulischen Rahmen kommen die meisten Jugendlichen aber nur, wenn es unbedingt sein muss. Weil sie, wie Viktoria Wünsch, die heute Nachmittag mit einem kurzärmeligen, schwarzen Hard-Rock-Café-New-York-T-Shirt an den Start geht, den Nachweis dringend für eine Bewerbung brauchen.
Freiwillig wäre Viktoria nie im Leben auf die Idee gekommen, so etwas wie ein Sportabzeichen zu machen. Für die 100 Meter hat sie 17 Sekunden gebraucht, eine Sekunde zu viel.
Das Angenehme beim Sportabzeichen ist, dass die Bewerber nicht alle Prüfungen auf einmal ablegen müssen. Wenn die Leistung nicht reicht, kommt man einfach wieder, um einen neuen Anlauf zu nehmen. So lange, bis die Zeit oder die Weite stimmen und die Norm erfüllt ist. Das geht beliebig oft innerhalb eines Kalenderjahres. Für Viktoria Wünsch steigt trotzdem langsam der Druck: Ihre Bewerbung beim Zoll muss bald in der Post sein.
Sie hat für heute genug. Sie packt ihre Tasche, verlässt die Tartanbahn und verschwindet Richtung Umkleidekabine.
Drei wollten kommen, einer taucht auf
Ein paar Tage später am anderen Ende der Stadt. Auch auf der Hanne-Sobek-Sportanlage im Berliner Bezirk Wedding kann man heute das Sportabzeichen machen. Hier nehmen die Kösters die Leistungen ab. Seit Jahrzehnten schon. Jeden Mittwoch, ab 17 Uhr, bei Wind und Wetter. Heute ist nicht viel los. Drei Kandidaten wollten eigentlich kommen, aber nur einer taucht tatsächlich auf.
Udo Köster, Jahrgang 39, ficht so was nicht an. In aller Ruhe zieht er sich in der Kabine um. Über das makellose weiße Unterhemd streift er ein blütenweißes T-Shirt mit dem schwarzen Logo seines Vereins: Berliner Turnerschaft. Dazu trägt er kurze, schwarze Sporthosen. Schwarz und Weiß: Die Vereinsfarben.
Alles kein Problem. Wenn niemand zur Prüfung kommt, hat Udo Köster eben ein bisschen mehr Zeit für das kleine Fitnessprogramm mit seiner Frau. Siebeneinhalb Kilometer Walken auf der Laufbahn des Stadions.
Für Udo Köster, der mit elf Jahren in den Verein eintrat, war die Berliner Turnerschaft in der Nachkriegszeit wie eine zweite Familie. Sein Vater kam erst spät aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Udo Kösters vier Geschwister traten alle im Laufe der Jahre wieder aus dem Sportklub aus. Doch er ist dem Verein treu geblieben.
Ein Koffer voller Bälle
Bevor es jetzt gleich raus auf den Platz geht, wirft der alte Turner noch einen letzten prüfenden Blick in den großen Rollkoffer, der in der Kabine neben der Sitzbank steht. Zwei Maßbänder, eine Auswahl kleiner Medizinbälle, ein Schleuderball, eine Kladde zum Notieren der Zeiten und Weiten und verschieden schwere Metallkugeln fürs Kugelstoßen. Alles da. Udo Kösters Koffer ist bestens sortiert.
Udo Köster sagt, dass es immer schwieriger wird, ehrenamtliche Prüfer zu finden, die sich die Zeit nehmen, auf die Sportplätze zu gehen, um die Prüfungen fürs Sportabzeichen abzunehmen.
Ungefähr 700 Vereinsmitglieder der Berliner Turnerschaft machen jedes Jahr das Sportabzeichen, sagt Udo Köster. Diese Anzahl ist zwar seit Jahren konstant. Doch die Mitgliederzahl der Turnerschaft stieg in den vergangenen Jahren von 2000 auf fast 3000 an. Deswegen ist das Sportabzeichen unter dem Strich auch bei diesem Traditionsverein einfach nicht mehr so eine große Nummer wie vor 100 Jahren.
Ganz anders der Eindruck auf dem DeGeWo-Sportplatz in der Gropiusstadt. Vor dem kleinen, fensterlosen Büroschuppen geht es jetzt erst so richtig los.
Wilhelm Nettelnstroth ist heute der Älteste auf dem Platz. Er trägt kurze Hosen, Sonnenbrille, Sportschuhe und ein rotes T-Shirt. Gerade kommt er vom Kugelstoßen. Der Prüfer notiert die Weite in ein kleines kariertes Oktavheft, während der sportliche, ältere Herr ein kleines Päuschen einlegt. Eventuell geht Wilhelm Nettelnstroth gleich noch weiter zum Schwimmen.
"Ich bin 85 und strebe an, das Sportabzeichen in Gold zu machen. Und die ersten beiden hab´ ich auf Gold geschafft."
6,7 Sekunden für 30 Meter
Die zweite Disziplin war der Sprint.
"Da hab´ ich den Verdacht, dass die einen Meter zu lang ist, die 30 Meter. Weil ich viel mache, kann ich auch so abtreten und so. Aber das ist für sie alles nicht wichtig. Ich brauche 6,7 und habe 6,7 geschafft, auf 30 Meter."
Der Senior ist Jahrgang 1934. Als junger Mann hat er bei einem Bauern hart gearbeitet und irgendwann Sport als Ausgleich für die Schufterei in der Landwirtschaft entdeckt. Seit erstes Sportabzeichen hat Wilhelm Nettelnstroth aber erst viel später gemacht. 1976. Da war er schon 42 und arbeitete als Lehrer. Das Abitur hatte er vorher in Dortmund auf einer Abendschule nachgeholt.
Wilhelm Nettelnstroth hat jetzt die Tartanbahn verlassen. Er lehnt mit dem Rücken am Geländer der Abgrenzung zum Innenraum, stützt sich mit dem linken Ellbogen auf dem oberen Handlauf des Geländers ab. Ziemlich lässig sieht das aus. Neben ihm, auf der anderen Seite des Geländers, steht Marius Weiß. Der 25-Jährige arbeitet als Buchhalter bei der Sparkasse.
Marius Weiß ist 60 Jahre jünger als Wilhelm Nettelnstroth. Natürlich spielt die Fitness auch für ihn eine Rolle. Doch unterm Strich ist dem jungen Buchhalter etwas ganz anderes viel wichtiger.
"Zu Hause an der Wand habe ich so einen Medaillenhalter hängen, den ich von irgendeinem Firmenlauf oder so was habe. Also, wo jeder eine bekommt, sozusagen. Aber einfach, dass ich mir die dann auch noch da hinhängen kann. Also, ich habe so vor, dass ich dann einmal Silber, Bronze und Gold mache. Und dann alles so als Podest quasi so an die Wand dann hänge. Mal gucken, ob es klappt."
Wilhelm Nettelnstroth hat für heute genug. Feierabend. Der 85-Jährige verschiebt das Schwimmen auf ein anderes Mal.
Mehr Prüfer könnten nicht schaden
Sportabzeichenprüfer Fritz Veuhoff will jetzt keine Zeit mehr verlieren. Auf dem Platz ist ein ziemlicher Andrang. Ein paar mehr Prüfer könnten nicht schaden. Genau wie sein Kollege Udo Köster im Wedding sagt auch Veuhoff, dass es immer schwieriger wird, ehrenamtliche Helfer zu finden.
Beim Sprint hat sich schon ein mittelgroßer Stau auf der Bahn gebildet, weil im Moment kein Offizieller da ist, der die Zeiten stoppen könnte. Man wartet, vertritt sich die Beine, hüpft ein bisschen auf und ab.
Fast eine Million Menschen machen jedes Jahr in Deutschland das Sportabzeichen. Das Erfolgsrezept des Dauerbrenners hat sich in über 100 Jahren kaum verändert. Wettkämpfe in Ausdauer, Kraft, Koordination und Schnelligkeit. Übersichtlich, einfach und klar. Ist also alles gut, so wie es ist? Viel verändern würden die meisten von ihnen nicht.
Jürgen Schumacher ist 57. Der freiberufliche Steuerberater macht das Sportabzeichen jetzt zum zehnten Mal. Wenn er zum Sportabzeichen antritt, geht er an sein Limit. Die Herausforderungen so zu meistern, dass er am Ende die goldene Plakette in der Hand halten kann, das ist für Jürgen Schumacher nicht unwichtig.
"Ich habe natürlich auch den Ehrgeiz, immer Sportabzeichen in Gold zu schaffen. Und Hochsprung ist so ein bisschen meine Wackelposition. Da brauche ich 1,20, in meinem Alter. Und, na ja, also das klappt meistens nicht in den ersten Wochen. Aber dann komme ich halt drei, vier Mal her, bis ich es dann doch schaffe, dass es für Gold reicht. Und man könnte ja auch sagen: Gut, jetzt habe ich dann Bronze oder Silber gemacht. Und dann ist auch gut. Aber, nein, den Ehrgeiz habe ich dann schon."
Am anderen Ende des Stadions haben Prüfer Fritz Veuhoff und die Bewerber, die Hochsprung für ihr Sportabzeichen brauchen, die Sprunganlage startklar gemacht. Dazu haben sie einen riesigen, auf Räder montierten Metallkasten, der die weiche Hochsprungmatte vor Wind und Wetter schützen soll, beiseite geschoben. Die Anfangshöhe lag bei einem Meter. Noch sind alle Springer im Wettbewerb. Inzwischen liegt die Latte auf einem Meter zehn. Für Gold bräuchte Jürgen Schumacher noch zehn Zentimeter mehr.
Eher Kopfsache als Beinarbeit
Eigentlich hat Jürgen Schumacher die Höhe drin, aber bei jedem Versuch reißt er die Latte herunter, weil er einfach immer wieder viel zu dicht an die Matte heranläuft, bevor er abspringt.
"Ja, nicht so frontal. Und du musst wirklich etwas näher an der Latte abspringen. Sollen wir ein Blatt hinlegen?"
"Nein, ich mache jetzt mal einen Straddle."
Versuch um Versuch reißt Jürgen Schumacher die Höhe von einem Meter und zehn, die er für sein Sportabzeichen in Gold so dringend braucht. Es ist mittlerweile wahrscheinlich eher Kopfsache als Beinarbeit. Noch warten die anderen Springer geduldig und drücken ihrem Sportsfreund die Daumen.
Nach einigen weiteren Fehlversuchen greift Jürgen Schumacher jetzt noch tiefer in die psychologische Trickkiste. So wie es auch die Profispringer in kniffligen Wettkampfsituationen manchmal machen, lässt er die 1,10 einfach aus und lässt gleich 1,20 auflegen. Der 57-jährige Steuerberater setzt alles auf eine Karte. Das wäre Gold!
Der Trick funktioniert nicht. Nach einem weiteren Fehlversuch gibt sich Jürgen Schumacher schließlich doch geschlagen. Es hat heute einfach keinen Zweck. Bevor er ziemlich zerknirscht die Hochsprunganlage verlässt, verabschiedet er sich persönlich von Prüfer Fritz Veuhoff, der ihm fast wie ein Privat-Coach zur Seite stand.
Daumen hoch – das Leben geht weiter
"Man bangt halt auch irgendwann, dass da wahrscheinlich auch nicht genügend Nachwuchs nachkommt, dass solche Prüftermine bald auch weniger werden. Das ist auch so das Thema. Auch beim Schwimmen, Abnahmetermine zu finden fürs Schwimmen ist auch sehr, sehr schwierig in Berlin."
"Weil das ehrenamtlich gemacht wird? Könnten Sie sich vorstellen, auch in so eine Rolle reinzuwachsen?"
"Ja, das könnte ich mir auch vorstellen. Müsste ich sehen, wie ich das mit dem Beruf vereinbare. Aber gut, wäre denkbar."
Jetzt hebt Jürgen Schumacher noch mal die Hand, drückt das Kreuz durch und grüßt ein letztes Mal für heute in die Runde. Lächelnd. Das Leben wird weitergehen. Daumen hoch. Die anderen Sportskameraden winken zurück, bevor sie sich abwenden, um sich auf die neue Höhe zu konzentrieren.
1,30 Meter.
Die Erstsendung der Reportage von Thomas Jaedicke war am 13. Oktober 2019.