Deutsches Theater

Der weichgespülte Kern der SPD

Szene aus dem Stück "Tabula Rasa: Gruppentanz und Klassenkampf" im Deutschen Theater Berlin.
Szene aus dem Stück "Tabula Rasa: Gruppentanz und Klassenkampf" im Deutschen Theater Berlin. © dpa / picture alliance / Claudia Esch-Kenkel
Von Eva Behrendt |
Sein Theaterstück "Tabula rasa" verstand Carl Sternheim 1915 als höhnischen Kommentar auf die SPD. Die Inszenierung im Deutschen Theater zeigt: Einige der scharfen Beobachtungen sind von unbegrenzter Gültigkeit.
Der Mann steht da wie ein junger Gott: Wilhelm Ständer, Arbeiter, Glasbläser, Sozialdemokrat, posiert nackt bis auf die rote Badehose vor einem kathedralenhohen Lenin-Mosaik und ist im Begriff, sich kopfüber ins Becken des imposanten Betriebsschwimmbads der Rodauer Glaswerke zu stürzen. Der Schauspieler Felix Goeser springt und schwimmt als Ständer drei Bahnen – zur Freude der Zuschauer im Deutschen Theater, die lachend erkennen, dass die Wassertiefe auf der Bühne allenfalls 20 Zentimeter misst.
Ein Fake ist nicht nur das Bad (Bühne: Jo Schramm), sondern der ganze Sozialdemokrat Ständer, den Carl Sternheim 1915 in "Tabula rasa" entwarf – nicht zuletzt als höhnischen Kommentar auf die Partei, die sich im Juli 1914 gegen ihre Überzeugungen vor den Kriegskarren hatte spannen lassen. Tom Kühnel und Jürgen Kuttner, die fast schon traditionell die Spielzeit am Deutschen Theater miteröffnen, benutzen die böse Komödie um den schlauen Arbeiter, der längst ein bourgeoises Leben führt und dies vor der Fabrikbelegschaft verbergen muss, für eine bei aller Polemik doch ziemlich nostalgische Rückschau auf 100 Jahre Links-Sein: Sternheims Stück wird ergänzt und erweitert mit historischem Material aus der Ostrowsksi-Verfilmung "Wie der Stahl gehärtet wurde", ein "Chor der Freischwimmer" singt Arbeiterlieder vom "Roten Wedding" und "Kleinen Trompeter", und der Schauspieler Jörg Pose ruft aus der ersten Reihe immer mal wieder Fragen ins Stück: "Was war links eigentlich noch mal – lange Haare?"
Karikatur vermeintlich linker Gesinnung
Auf der Bühne jedenfalls wird das ganze Spektrum vermeintlich linker Gesinnung karikiert und optisch aufgefächert: Langhaar, Nickelbrille und Lederjacke trägt beispielsweise der radikale Berufsrevolutionär Werner Sturm (Christoph Franken). Ihn braucht Ständer genauso wie dessen reformistisch weichgespülten Jeans-Widerpart, den Journalisten Artur Flocke (Daniel Hoevels), um die Firmenleitung von einer Überprüfung der Buchführung abzulenken - die ans Licht bringen würde, dass Ständer und sein einfältiger Kollege Heinrich Flocke (Michael Schweighöfer) sich an der Fabrik nicht nur finanziell schadlos halten, sondern längst deren wohlhabende Aktionäre geworden sind. Selbst der elegante Direktor Schippel (Jörg Pose), der sich beim Firmenjubiläum anbiedernd zu seinen Arbeitern auf den Boden hockt, wirbt für Wohlstand und wohldosierte Mitbestimmung.
"Wie es sich mit der Sozialdemokratie im Kern auch immer verhalten mag, man kann jedenfalls in seinen Neigungen weit schweifen, um immer noch ein erstklassiger Genosse zu sein", fasst Ständer zusammen. Eine Diagnose von unbegrenzter Gültigkeit, wie Ex-Radiomoderator Jürgen Kuttner in einer performten Fußnote erklärt: Von den Kriegsstimmen 1914 bis zu denen von 1998, zur Agenda 2010 und Tagespolitik sei es nur ein kleiner Schritt. Ein Musikvideo, in dem Cindy und Bert einen Black Sabbath Song covern, beschreibe das Wesen der Sozialdemokratie besonders treffend: Harte Schale, weichgespülter Kern.
Gegen Ende ein nostalgischer Trotzanfall
Von solchen Abschweifungen abgesehen, lassen Kühnel und Kuttner "Tabula rasa" ausführlich vom Blatt spielen, mit lustigen Wasserplanschereien und wagnerianischen Rheintöchter-Zwischenspielen bei den Betriebsfestproben. Während Sternheim am Ende Ständers rücksichtslosen Weg als durchaus diskutable Möglichkeit erscheinen lässt, zumindest persönliche Freiheit und Selbstverwirklichung zu erlangen, kehren Kühnel und Kuttner jedoch lieber wieder zu Nikolai Ostrowskis revolutionärem Pathos zurück: "Der Kampf um die Befreiung der Menschheit" hat das letzte Wort. Seltsam – es klingt nur noch wie ein nostalgischer Trotzanfall.
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