Deutsche Diskussion zum Ukraine-Krieg

Selbstbezogen und moralbeseelt

Wolodymyr Selenskyj (r.), Präsident der Ukraine, und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kommen bei dessen Ukraine-Besuch zu einer gemeinsamen Pressekonferenz
Kanzler Scholz zu Besuch bei Selenskyj (r.), Präsident der Ukraine: Anstatt schleunigst Waffen und Marder-Panzer zu liefern, suchte der Kanzler nach Ausreden, so ein vielfacher Vorwurf. © picture alliance / dpa / Kay Nietfeld
Ein Kommentar von Stefan Reinecke |
Kanzler Scholz hat mit seiner Ukraine-Politik alles richtig gemacht, meint "taz"-Journalist Stefan Reinecke. Kritikern, die nach schneller Lieferung von immer mehr Waffen riefen, attestiert er mangelnde Weitsicht und eine provinzielle Selbstbezogenheit.
Boris Johnson fuhr mutig nach Kiew, Olaf Scholz zögerte. Anstatt schleunigst Waffen und Marder-Panzer an die Ukraine zu liefern, suchte der Kanzler nach Ausreden. Anstatt sofort den Öl- und Gashahn zuzudrehen, sorgte Scholz dafür, dass Deutschland mit Milliarden Euro Putins Kriegskasse weiter füllt.
So jedenfalls war das Bild, das viele Leitmedien in den letzten Monaten zeichneten. Und nicht nur Medien – auch Ampel-Politiker von FDP, Grünen und SPD fanden den Kanzler zu lahm.
Stimmt das? Ein Hamlet im Kanzleramt - unschlüssig und verzagt, wo in Kriegszeiten doch kernige Tatkraft gefordert ist? Hat Olaf Scholz seit dem 24. Februar, seit Putins Überfall auf die Ukraine, fast alles falsch gemacht?

Deutsche Waffen nicht kriegsentscheidend

Mit etwas Distanz sieht das Bild anders aus. Vor allem der Vorwurf, dass Deutschland zu wenig schwere Waffen liefert, verliert an Verve. Selbst wenn man die Lieferung von deutschen Schützenpanzern für nötig hält – sie sind, anders als der ukrainische Botschafter und die Union suggeriert haben, nicht kriegsentscheidend.
Wohl und Wehe der Ukraine hängen militärisch nicht von Berlin, London, Paris oder Warschau ab. Sondern von den USA. Ohne Waffen und Know-how aus Washington, ohne US-Daten über russische Ziele wäre die Ukraine längst von Putins Armee überrollt worden. Deutsche Waffen sind da schlicht nicht so wichtig.
In den hiesigen Talkshows wurde dennoch mit viel Eifer über Panzerhaubitzen und Panzer gestritten. Wer ganz schnell ganz viele Waffen liefern wollte, hatte meist den moralischen Bonus auf seiner Seite. Dass es den hitzigen Disput um Waffenlieferungen so nur hierzulande gab, dass dies also auch eine deutsche Selbstverständigungsdebatte war, fiel kaum jemand auf.

Ukraine-Krieg - für viele keine Zeitenwende

Ein weiterer provinzieller deutscher Irrtum ist, dass man den Ukraine-Krieg überall auf der Welt für eine Zeitenwende hält. So ist es nicht. Der indische Außenminister Jaishankar hat kürzlich zum Ukraine-Krieg kühl kommentiert: Europa muss die Denkweise ablegen, nach der Europas Probleme die Probleme der Welt sind.
An vielen Orten der Welt schaut man auf den Ukraine-Krieg so, wie man in Deutschland auf den Krieg im Jemen blickt, ein Krieg, der laut UN bislang mehr als 300.000 Opfer gefordert hat: Schlimm, was da passiert - aber nicht unser Problem.
Putins infames Narrativ, dass er in der Ukraine gegen den machtgierigen Westen kämpft, stößt von Lateinamerika bis Ostasien durchaus auf Sympathien – ebenso wie die Mär, dass der Westen schuld an explodierenden Energiepreisen und der Hungerkrise ist, weil Weizen und Mais aus der Ukraine fehlen.
Die Bundesregierung hat zumindest früh versucht, Ländern wie Indien, Indonesien und Südafrika Unterstützungsangebote zu machen. Das war weitsichtig – denn wenn sich der Eindruck verfestigt, dass der Westen in der Ukraine gegen den Rest der Welt kämpft, wird dieser Krieg verloren gehen.

Deutsche Ukraine-Politik ist besser als ihr Ruf

Ja, Scholz hat seine Politik oft zu spät, auch zu arrogant begründet. Aber das sind die Stilnoten. Die deutsche Ukraine-Politik insgesamt ist besser als ihr Ruf. Sie folgt nicht der Logik von Gut und Böse, die die moralisch überhitzte Debatte in Deutschland prägt, sondern abwägender Vernunft.
Berlin unterstützt Kiew mit Geld und Diplomatie – und auch mit Waffen, die aber eher für Verteidigung als für die Rückeroberung von verlorenen Gebieten taugen. Das folgt dem Motto: Solidarität mit der Ukraine ja – aber nicht grenzenlos. Kein Appeasement mit Putin, aber auch keine blinde Eskalation.
Scholz hat die deutsche Zurückhaltung bei Waffenlieferungen mal mit der möglichen atomaren Eskalation begründet. Das hat ihm von jenen, die unbedingt Kampfpanzer exportieren wollen, den Vorwurf eingebracht, sich von den wüsten Drohungen aus Moskau Angst einjagen zu lassen.
Mir aber flößt ein Kanzler, der die Gefahr eines Atomkrieges im Auge hat, weit mehr Vertrauen ein als einer, der sie moralbeseelt übersieht.

Stefan Reinecke, geboren 1959, ist als Redakteur und Publizist in Berlin tätig. Seit 2002 arbeitet er für die Parlamentsredaktion der „taz“. Er ist Autor und Herausgeber mehrerer Bücher, darunter eine Biografie von Christian Ströbele (2016).

Der Publizist Stefan Reinecke
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