Deutschland, ein Gottesstaat?

Von Gesine Palmer |
Ein Papst aus Bayern, ein Pastor als Bundespräsident, eine Pastorentochter im Kanzleramt: Bei manchen grassiert die Sorge, dass ein religiöser Diskurs die Öffentlichkeit in Deutschland vereinnahmt. Doch von einem Gottesstaat sind wir noch weit entfernt.
Nach der Nominierung des Bundespräsidenten Joachim Gauck ging eine Karikatur von Harm Bengen durch die sozialen Medien. Zwei sehr turbane und bärtige Herren unterhalten sich. Ein Kämpfer berichtet seinem geistigen Führer: "Die Deutschen haben jetzt einen Pastoren als Präsidenten und eine Pastorentochter als Kanzlerin." Sein Gesprächspartner antwortet: "Ein Gottesstaat? Respekt!"

Fehlt noch der Hinweis auf den deutschen Papst. Wir lachen natürlich. Aber die Sorge, dass ein religiöser Diskurs die Öffentlichkeit vereinnahmt, ist nicht gänzlich unbegründet. Gaucks Rede von der "Entweltlichung" des Holocaust wurde von Alan Posener zusammen gelesen mit ähnlichen Äußerungen des Papstes – und zwar als ein Versuch, die Shoah dem vermeintlichen Orientierungsverlust in der säkularen Welt anzulasten.

Um hier die Unterschiede in der Argumentation zu achten, bedarf es besserer Kenntnis der Differenzen und einer gewissen Disziplin in ihrer Beachtung. Das eine ist die Grenze zwischen Säkularen und Religiösen. Ein anderes die zwischen den verschiedenen Konfessionen und Religionen.

Eine christliche Ethik bezieht seit der Antike ihr Maß aus der Idee des höchsten Guten. Wer die Shoah zum Maßstab seiner Ethik hat, scheint dieses summum bonum durch ein summum malum, ein absolut Böses, zu ersetzen. Darum haben Christen ein Problem mit diesem Gedanken. Dennoch ist die Empörung der Säkularen vollkommen am Platze: Nur weil einer nicht an Gott glaubt, ist er keineswegs orientierungslos, und wenn das "Nie wieder" zum Massenmord seinen Antrieb bildet, macht er auch nicht gleich die äußerste Katastrophe zu seinem Gott.

Ich weiß nicht, ob es heute noch gilt: Aber in den Zeiten der Reformation war Differenzdisziplin wohl eher eine protestantische Tugend. Luther und Calvin (alles andere als heilige Männer) nahmen ihre Differenzen mit dem Vatikan so wichtig, dass sie eigene Kirchen gründeten. Die Römische Kirche betonte nur umso energischer ihren Anspruch, alle Christen zu vertreten.

Noch heute unterscheidet sich die affektive Besetzung von Begriffen vielleicht auch bei den säkularisiertesten Christen nach Konfessionen. Wenn das "Wir sagen" vernachlässigt wird, wenn gar jemand "ausreißt", leidet der Katholik und scheut keine Mühe, um die in seinem Sinne Verlorenen wieder einzufangen – wenn die Gewissensfreiheit des Einzelnen bedroht erscheint, wird der Protestant unleidlich und riskiert lieber die schroffe Trennung. Ich spreche dabei von spontanen emotionalen Reaktionen, die das politische Handeln nicht immer leiten, aber in es einfließen.

Ein waches Bewusstsein von weit zurückreichenden ethischen und emotionalen Differenzen, ein Verzicht auf Gesinnungsmaßregeleien erleichtert die zivilisierte Auseinandersetzung. Die Frage, wie wir gegenüber totalitären Entwicklungen auch nach dem Tod der letzten Zeitzeugen des Holocaust wachsam bleiben, darf nicht zum Spielball in Auseinandersetzungen um den wahren Glauben werden.

Die Pastorentochter und der Pastor an der Staatsspitze scheinen ganz individuell nicht besonders geneigt zu sein, einen theokratischen Block zu bilden. Wenn ihnen eine tief eingewurzelte Differenzdisziplin gemeinsam ist, kann das für einen westlichen Staat nur gut sein. Der "Zeitgeist" traut oftmals recht offen einer Gemeinschaft unter autoritärer Führung mehr zu als einer vielfältigen, die Freiheit und Würde jedes Einzelnen achtenden Differenzkultur. Von solchen Neigungen kann man den Papst und viele seiner konservativen Gefolgsleute nicht ganz freisprechen.

Der Pastor im Präsidialamt ist hingegen bis zur Obsession von der Freiheit der Einzelnen überzeugt. Und die Kanzlerin hat sich bisher als Religionslehrerin nicht hervorgetan. Mit etwas Differenzdisziplin kann der Gottesstaat Deutschland also noch warten.

Gesine Palmer, geb. 1960 in Schleswig-Holstein, studierte Pädagogik, evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. Nach mehrjähriger wissenschaftlicher Lehr- und Forschungstätigkeit gründete die Religionsphilosophin 2007 das "Büro für besondere Texte" und arbeitet seither als Autorin, aber auch als Redenschreiberin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihr wiederkehrendes Thema sind "Religion, Psychologie und Ethik" – im Kleinklein der menschlichen Beziehungen wie im Großgroß der Politik.

Gesine Palmer
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