Deutschland - eine Lobbyisten-Republik?

Von Thomas Meyer · 31.08.2010
Deutschland – eine Lobbyistenrepublik? Eine Art Post-Demokratie, in der die Kulisse der demokratischen Institutionen auf der Bühne stehen geblieben ist, derweil ein ganz anderes Stück läuft, in dem eine allmächtige Wirtschaftslobby die Hauptrolle spielt? Dieser Eindruck, von der amtierenden Bundesregierung durch ihr Zig-Millionen-Steuergeschenk an das Hotelgewerbe bei Amtsantritt genährt, wurde soeben kräftig aufgefrischt.
Die Rede ist von der selbstgewissen Anzeigen-Kampagne der Energiewirtschaft. Ihr Adressat: die Bundesregierung. Ihr Ziel: ein gigantischer Gratisprofit zu Lasten des Gemeinwesens.

Dass Wirtschaftslobbyisten das Geld für die Einflussnahmen zugunsten einer ihnen genehmen Politik in Strömen fließen lassen können, überrascht uns nicht. Dass es diesen Zwecken, sehr oft – allzu oft – dann am Ende tatsächlich zugute kommt, haben wir gelernt. Vor einigen Tagen war es wieder einmal soweit. In allen großen und einflussreichen Blättern des Landes erschien eine ganzseitige Anzeige der Energiewirtschaft, nebst einigen ihr dienlichen Ex-Politikern. Sie wollen die Verlängerung der Laufzeiten ihrer Atomkraftwerke im großen Stil, aber ohne Kosten.

Erstrebt werden Nettogewinne im mehrstelligen Millionenbereich. Gut gerechnet, die Millionen für diese Kampagne werden wohl in gigantischer Vervielfachung rasch in die Kassen der cleveren Einflussstrategen zurückströmen, sobald die Bundesregierung ganz – oder aus demokratie-kosmetischen Gründen vielleicht auch nur halb – eingeknickt und der atomaren Energiewirtschaft zu Diensten ist.

Nicht die Rede ist freilich in den wie das lauterste Allgemeininteresse daherkommenden Anzeigen davon, dass die längst abgeschrieben Atommeiler einst nur mit üppigen Steuermillionen überhaupt betriebsfähig werden konnten. Genauso wenig wie davon, dass Zweidrittel der Bürger hinter dem gesetzlich festgelegten Atom-Ausstieg stehen. Der Druck auf die Kanzlerin ist aussichtsreich angesichts der Zerstrittenheit ihrer Partei in dieser Frage.

Die Lobby ist nämlich, wie beim Wettlauf von Hase und Igel, innerhalb der Regierungsparteien schon lange angekommen und kann nun, wenn nötig, eine zögerliche Regierung heftig in die Zange nehmen. Und das ist das eigentliche Thema. Der Bundestagsabgeordnete Marco Bülow hat diese Wahrheit jüngst aus eigenem Erleben in mehreren Gesetzgebungsverfahren des Bundestages eindrucksvoll zu Protokoll gegeben.

Man könnte folglich den Urhebern der laufenden Anzeigenkampagne fast dankbar sein, weist ihre Fährte doch wider Willen, so die ironische Pointe, auf eine aktuelle Demokratiegefährdung hin, die Tag für Tag im Stillen, mit Millionensummen und tausenden von professionellen Agenten auf den Fersen von Ministern und Abgeordneten, den Volkswillen umzulenken versuchen in eine für ihre jeweiligen Auftraggeber profitable Richtung. Die Lobbyisten regieren mit, unsichtbar für uns und eben darum so erfolgreich.

In Berlin sind mehr als 1780 Interessenverbände beim Bundestag offiziell registriert mit über 5000 hoch spezialisierten Einflüsterern, zusätzlich zu den zahlreichen bezahlten Interessenvertretern der Industrie unter den Abgeordneten selbst, vornehmlich auf der "bürgerlichen Seite" des Hohen Hauses. Die Bertelsmann-Stiftung, so enthüllte soeben ein spannendes Buch, bildet unter dem Deckmantel der wissenschaftlichen Politikberatung die allgegenwärtige Speerspitze dieser Unterwerfung der Politik unter wirtschaftliche Interessen.

Vor Kurzem erreichte uns der Hilferuf einer großen Gruppe von Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus fast allen Parteien, sie könnten sich der Übermacht der Lobbyisten beim Versuch, das Bank- und Geldwesen zu regulieren, nicht mehr erwehren. Wir sollten sie erhören und das Recht der Gesellschaft, sich selbst zu regieren, aufs Neue einfordern.

Thomas Meyer ist Professor (em.) für Politikwissenschaft an der Uni Dortmund und
Mitherausgeber und Chefredakteur der "Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte". Er veröffentlichte zahlreiche Bücher über Medien, soziale Demokratie und politische Kultur.
Der Politikwissenschaftler Thomas Meyer
Der Politikwissenschaftler Thomas Meyer© Privat