"Deutschland ist spät aufgewacht"

Moderation: Holger Hettinger |
Der italienische Journalist Roberto Saviano, Autor des Buches "Gomorrha", hat vor weit verbreiteten Aktivitäten der italienischen Mafia in Deutschland gewarnt. Sie unterwandere die Wirtschaft zum Beispiel im Tourismus-Sektor. Ihre besondere Fähigkeit bestehe darin, sich den Geschäftsgängen effizient anzupassen und gleichzeitig archaische Bündnismuster beizubehalten.
Holger Hettinger: Über die Aktivitäten der Mafia in Deutschland, die Verflechtungen der Camorra mit Industrie und Politik und über ein Leben im Untergrund reden wir nun mit Roberto Saviano. Herr Saviano, seit der Veröffentlichung Ihres Buches "Gomorrha" leben Sie versteckt an verschiedenen Orten immer gut bewacht. Nun sind Sie mit Ihrem Buch zu Gast beim Internationalen Literaturfestival Berlin, einer sehr trubeligen Veranstaltung. Warum begeben Sie sich aus dem Schutz des Verstecks in die doch eher riskante große Öffentlichkeit?

Roberto Saviano: Nun, es sieht so aus, dass diese Sichtbarkeit ein Beleg dafür ist, dass ich weiterarbeiten kann, dass ich mich nicht habe einschüchtern lassen und auch dass die Macht des Wortes ungebrochen ist. Für mich ist es ganz wichtig, in Kontakt zu meinen Lesern zu treten, denn in gewisser Weise waren sie es ja, die durch diesen Akt des Lesens meine Wörter so gefährlich gemacht haben. Hätten sie nicht gelesen, dann wäre mein ganzes Buch eigentlich auch nicht so unbequem für die Camorra geworden, wie es jetzt ist.

Hettinger: Roberto Saviano, Sie sprechen von weiterarbeiten. Können Sie jetzt, da Ihr Gesicht zu den bekanntesten in Italien zählt, überhaupt weiterrecherchieren im Mafiasumpf?

Saviano: Ich werde natürlich nicht auf dieselbe Weise weiterarbeiten, wie ich an dem Buch "Gomorrha" gearbeitet habe. Ich werde andere Mittel und Wege finden müssen, insbesondere im Ausland. Dieses Buch hat mein Leben grundlegend verändert. Es hat mir aber, und nicht nur mir, sondern auch den anderen, Vertrauen eingeflößt. Vertrauen, dass man durch die Kraft des Wortes immer noch sehr viel bewegen kann.

Hettinger: Die Mafia und ihre Praktiken, das ist in Deutschland spätestens seit dem Blutbad der 'Ndrangheta in Duisburg ein Thema. Wie bedroht ist Deutschland?

Saviano: Deutschland ist spät aufgewacht. Dieses Massaker in Duisburg ist eines der am wenigsten gefährlichen Ereignisse. Was wirklich gefährlich ist, ist die Unterwanderung eines Teils der deutschen Unternehmen durch die Mafia. Und hier muss man ganz dringend Maßnahmen ergreifen.

Hettinger: Wo genau macht die Mafia hierzulande ihre Geschäfte?

Saviano: Ganz Deutschland ist betroffen, mit einer gewissen Bevorzugung der ehemaligen DDR in bestimmten Wirtschaftsbereichen – Tourismus, Bauindustrie, Transportwesen und Textilindustrie. Die Karte der Mafiasitze hier in Deutschland, wie sie sich aus den Ermittlungsakten der italienischen Antimafia-Ermittler ergibt, zeigt viele Städte – Stuttgart, Leipzig, München, Frankfurt. Alle Klans der Mafia haben in Deutschland ihre Vertretungen. Und so hat es mich doch sehr verwundert zu sehen, dass erst nach dem Massaker von Duisburg Deutschland aufgewacht ist.

Hettinger: Wohin fließen die Gewinne aus diesem Mafiahandel?

Saviano: Deutschland ist geradezu ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie die Gewinne aus den illegalen Geschäften in den legalen Wirtschaftskreislauf eingeschleust werden können. Die 'Ndrangheta hat zum Beispiel versucht, ein Stahlwerk zu kaufen, wenn das auch in Russland geschehen ist. Was Deutschland angeht, so ist insbesondere der Bereich Tourismus zu nennen, ein Sektor, in dem die deutschen Unternehmer wenig Mut gezeigt haben, sich dem entgegenzusetzen. Aber im Grunde ist kein Wirtschaftsbereich wirklich immun gegen diese Unterwanderungsversuche.

Hettinger: Mafiamorde sind oft spektakulär. Der sizilianische Mafiaboss Giovanni Brusca ist in einem Verhör gefragt worden, warum er seinen Opfern immer die Beine und die Arme auf den Rücken gebunden hat. Da hat er geantwortet, damit sie besser in den Kofferraum passen, ganz lakonisch. Spielen Symbole überhaupt eine Rolle bei Mafiamorden?

Saviano: Ja, aber immer weniger. Ganz selten kommt es noch so vor wie in der Vergangenheit, dass eine versteckte Botschaft mit der Art der Hinrichtung übermittelt wird. Ich selbst habe persönlich einen Ritualmord mitbekommen, ausgeführt an Eduardo Lamonica (Anmerk. d. Red.: Name wie gehört), dem man die Hände abgeschnitten hat, Ohren, Zunge, und Augen ausgestochen hat, und dem man schließlich auch ein Kreuz auf den Mund gelegt hat. Hier war die Botschaft klar, wir schneiden dir die Hände ab, mit denen du das Geld genommen hast, wir schneiden dir die Ohren ab, mit denen du gehört hast, die Zunge, mit der du gesprochen hast, die Augen, mit denen du gesehen hast, und wir legen dir ein Kreuz auf deinen Mund als Zeichen für das gebrochene Vertrauen. Aber das sind Einzelfälle.

Hettinger: Die sizilianische Mafia hat eine streng hierarchische Struktur. Die Camorra besteht aus autonomen Klans. Bei der 'Ndrangheta sind die Familien oft identisch mit blutsverwandtschaftlichen Strukturen. Gibt es andere Unterschiede?

Saviano: Nun, dieser stark hierarchisch aufgebaute Grundansatz der Cosa Nostra hat sich häufig als hinderlich für effiziente Geschäftstätigkeit erwiesen. Was die Camorra angeht, so ist sie vollständig flach aufgebaut. Also es gibt keine Hierarchien. Dasselbe gilt für die 'Ndrangheta. Die Camorra ist geradezu nach einem Bundesstaatenmuster aufgebaut. Die 'Ndrangheta wiederum ist sehr stark noch an der Sippenstruktur ausgerichtet. Ich muss sagen, dass alle Mafiaorganisationen weltweit, außer den chinesischen und den japanischen, das Organisationsmuster der italienischen Mafias befolgen. Die Albaner, selbst in Indien befolgt man solche Grundmuster. Allgemein lässt sich sagen, was eine Mafiaorganisation stark macht, ist die Fähigkeit, sich an den Geschäftsgang effizient anzupassen und dabei zugleich doch auch archaische Bündnismuster beizubehalten, die im Kern unverändert bleiben.

Hettinger: Roberto Saviano, Sie schreiben in Ihrem Buch "Gomorrha", die sizilianische Mafia wird überbewertet, das nutze der Camorra. Warum?

Saviano: Es ist sehr nützlich für Mafiaorganisationen, wenn man über diese allzu bekannte sizilianische Mafia spricht, wie es ja tatsächlich der Fall ist. Hier gab es in Deutschland zu Dutzenden Verhaftungen von Camorraführern, übrigens auch von Führungspersönlichkeiten der türkischen und kurdischen Mafia, ohne dass ein Aufhebens davon gemacht worden wäre. Dieser Sexappeal, den die sizilianische Mafia ausübt, ist natürlich sehr hinderlich für die Mafia selbst, er kommt aber den anderen Mafiaorganisationen sehr zupass, weil sie dann eben weiter im Dunkeln operieren können.

Hettinger: Man liest oft, dass die Mafia ähnlich wie andere totalitäre Strukturen auch Fürsorgeaufgaben in ihrem Gebiet übernimmt, Aufgaben, die der Staat zu leisten nicht, wenn nicht mehr, imstande ist. Welche Rolle spielt eine marode Politik bei der Ausbreitung der Mafia?

Saviano: Ein untauglicher und nicht funktionierender Staat ist der natürliche Bündnispartner für die kriminellen Organisationen. Jedoch sollte man nicht annehmen, dass die Camorra und andere Organisationen noch Schutz- und Trutzbündnisse, Bündnisse für wechselseitigen Beistand wären, wie das in den 40er, 50er Jahren der Fall war. Nein, die Camorra und die 'Ndrangheta üben deshalb einen so starken Reiz auf junge Menschen aus, weil sie eine Verheißung machen, dass nämlich alle Talente, alle Begabungen, die ein junger Mensch mitbringt, auf die eine oder andere Weise in diesem Klan, so man ihm denn beitritt, zum Tragen gebracht werden und Gewinn einbringen. Man weiß also, wenn man das Zeug hat, als Tagelöhner, als Handlanger mitzuwirken, wird man vielleicht zum Killer aufsteigen können. Wenn man dagegen mehr unternehmerischen Weitblick mitbringt, wird man es vielleicht irgendwann sogar zum Klanführer bringen. Das ist also das Gefährlichste an der Camorra und den anderen Organisationen, dass sie als eine Art Sprungbrett für Karrieren und Existenzen angesehen werden.

Hettinger: Roberto Saviano, Sie sprechen von der Strahlkraft, von der Verlockung, die die Mafia ausübt. Etliche Kinder und Jugendliche in Neapel verehren die Mafiakiller regelrecht als Helden und laden sich deren Porträts dann auf das Handy. Spricht es nicht dafür, dass die Grundstrukturen der Gesellschaft mafiös sind? Oder anders gefragt, ist der Kampf gegen die Mafia nicht von vornherein ein aussichtsloser?

Saviano: Ich weiß nicht, ob wir unseren Kampf schon von vornherein verloren haben. Sicherlich hat sich nicht die Mafia der Grundstruktur der Gesellschaft angepasst, sondern umgekehrt. Die Gesellschaft ähnelt immer stärker den Mafiaorganisationen. Führen wir uns nur etwa vor Augen, dass Schauspieler, Sportler oder Politiker, wenn sie sich den Anstrich des harten, bärbeißigen Erfolgsmenschen geben wollen, sich immer mehr als eine Art Boss ausgeben, also die Attribute eines Mafiabosses zeigen, wenn sie sich als Macho und als großer Verführer in Szene setzen wollen. Ganz sicherlich erscheinen so in den Augen der Jugendlichen und der Kinder die Mafiabosse als die großen Gewinner, die immer den Gewinn einheimsen. Jemand, der sicherlich auch weiß, dass er sterben wird, der den Tod verachtet und der dadurch noch stärker wird und noch mehr Faszination gewinnt. Wenn wir daran etwas ändern wollen, dann brauchen wir sicher einen Wandel in den Einstellungen, eine Umwertung dessen, was für uns als wertvoll gilt. Sonst werden weiterhin immer die Mafiabosse die Oberhand behalten.

Hettinger: Sie sprechen von dem Bild des Bosses, das ja zumindest in unserer Gesellschaft auch sehr stark geprägt ist von solchen Filmen wie "Good Fellas" oder "Der Pate" in all seinen Teilen. Ist diese Wirklichkeit, die uns durch Marlon Brando beispielsweise entgegenblinkt nicht doch ganz grundlegend verschieden von dem, was die Realität der Mafia ausmacht?

Saviano: Es ist außerordentlich seltsam, aber es ist nicht so, dass das Kino sozusagen die Mafia schildert, sondern die heutigen Mafiaorganisationen orientieren sich an den Kinovorbildern. Seit der Film "Der Pate" herausgekommen ist, hat sich das sogar in den Bezeichnungen niedergeschlagen. Man spricht neuerdings tatsächlich auch von der Pate, auf italienisch also il padrino, das war aber früher gar nicht die geläufige Bezeichnung. Früher sprach man vom Gevatter, vom compare. Erst seit diesem Film nennen sich die Bosse zunehmend selbst auch Pate, also padrino. Doni Brasco und Johnny Depp haben auch diese Wortwechsel geprägt, die auch immer wieder kommen, so wie: "Was soll ich jetzt machen, was soll ich jetzt machen", das wird ständig zitiert. Oder der Film "Scarface" von Brian De Palma, er ist das unerreichte Vorbild für alle Mafiabosse, der große Mythos, dem sie nacheifern. Und so kann man sagen, das Kino liefert eine Art ABC, eine Art Vorlage für die tatsächlichen Mafiaorganisationen, nicht umgekehrt.

Hettinger: Vielen Dank, Roberto Saviano für dieses Gespräch. Die Aktivitäten der Mafia in Deutschland und das Leben im Untergrund, das waren unsere Themen!
Mehr zum Thema