Kommentar

Ossis und Wessis: Lieber scheiden als verkrampft zusammenleben

04:27 Minuten
Demonstration des Vereins "Zukunft Heimat" in Cottbus.
Viele Ostdeutsche sind nicht zufrieden mit den Verhältnissen: Demonstration des rechten Vereins "Zukunft Heimat" in Cottbus. © IMAGO / Andreas Franke
Ein Kommentar von Paul Stänner |
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Der Mauerbau 1961 war eine Katastrophe. Leider hat die Mauer auch Fakten geschaffen, die rund 35 Jahre nach ihrem Abriss noch weiterwirken - im Inneren der Menschen. Die Spaltung von Ost und West lässt sich nicht leugnen.
Ich möchte Ihnen heute deutlich machen, meinen Damen und Herren, dass es eine feine Sache sein kann, wenn Familien zerbrechen. Warum sage ich das?
„Die Ostdeutschen betreiben eine emotionale Buchführung“, konstatierte der Soziologe Steffen Mau in einem Interview. Geschichten von den ewig sich zurückgesetzt, nicht wertgeschätzt fühlenden, in der Summe gekränkten Ossis hören wir nun seit Jahrzehnten.
Zwischendurch und am Ende werden Rechnungen aufgemacht, bei denen die Wessis wie räuberische Schurken dastehen. Die SED übrigens trifft am Niedergang der DDR wohl keine Schuld, jedenfalls nicht in der Bilanz der Ost-Emotionen. In diesen Rechnungen sind auch die Gefühle von Wessis nicht eingepreist - weil sie ja räuberische Schurken sind.
Familien werden zusammengehalten von vielfältigen Gefühlen. Oder eben nicht! Die Weltgeschichte steckt voller warnender Beispiele. Schon die zweite Generation des Menschen wurde mit einer üblen Entgleisung berühmt: Kain, Sohn von Adam und Eva, erschlug voll Neid seinen jüngeren Bruder Abel.
Da sind gerade einmal vier Menschen auf dem Globus, dann nur noch drei, und schon wird klar, dass die anrührende Romanze namens Familie, die besonders gut zusammenhält, von Anbeginn an verlogen war.

Eine Kerze im Fenster

In den 1960er-Jahren habe ich im Münsterland auf Geheiß der Bundesregierung zu Weihnachten eine Kerze ins Fenster gestellt mit der Widmung: „Für unsere Brüder und Schwestern im Osten“. Mit ihnen litten wir unter der Knute der Russen. Metaphorisch – ich hatte keine Brüder oder Schwestern im Osten.
Später - als Student in Westberlin - habe ich als Taxifahrer gejobbt. An einem Weihnachtsabend gegen 20.00 Uhr wurde von der Funkzentrale ein Wagen zu einer Schöneberger Adresse geordert. Ich fuhr los. Dann wurde ein zweiter Wagen bestellt. Und ein dritter. Ein vierter.
Am Ende standen fünf Droschken vor der angegebenen Hausnummer und retteten die auseinanderstrebenden Teilnehmer eines Familienessens voreinander. In meinem Wagen saßen sie grimmig schweigend, nur einer stöhnte vernuschelt: „Das hätte Onkel Erich aber auch nicht sagen müssen.“ Ich habe gelernt: So funktionieren Familien! Da zünden Wörter wie Brisanzgeschosse.

Brüder und Schwestern - oder nicht?

Heute, nach gemeinsamen Jahrzehnten, in denen wir Wessis Milliarden über Milliarden an die neuen Verwandten überwiesen haben, dämmert uns, dass wir mit diesen Brüdern und Schwestern doch nicht so eng waren.
Der Osten hat bei der Europa-Wahl nahezu flächendeckend blau gewählt, eine rückwärtsgewandte, autoritär orientierte Partei, als verfassungsfeindlich eingestuft, mit Galionsfiguren, die als offen rechtsradikal gelten dürfen. Das Ganze garniert mit ein wenig Korruption aus der Kasse des Kriegsverbrechers Wladimir Putin, der so beliebt ist, dass in Leipzig Rod Stewart bei seinem Konzert ausgebuht wurde, weil er dem lieben Wladimir ein "Fuck Putin" zugerufen hat. So etwas gefällt vielen Menschen auf dem Boden der ehemaligen DDR. Und mir scheint: So wollen sie die Wessis ärgern! Aber muss das so bleiben?
Aus der Buchführung seiner Gefühle kann der Wessi sagen: Die Sache hat sich nicht gelohnt. Wir erkennen die mentale Mauer zwischen uns an, lösen die Familie auf und beenden das Experiment. Soll doch jeder mit seinen Gefühlen selig werden - hüben wie drüben, so formulierte man das noch in den 1960ern.

Familien getrennt – Erfolge verdoppelt!

Was haben wir davon? Schauen wir auf die Gebrüder Theo und Karl Albrecht. Sie konnten ihr Geschäft nicht gemeinsam führen, verfeindeten und trennten sich. Nun werden wir von zwei Aldi-Ketten versorgt. Die Brüder Adolf und Rudolf Dassler: Sie konnten nicht gemeinsam Schuhe nähen, verfeindeten und trennten sich. Nun wird die Welt von zwei Sportschuhweltkonzernen auf Trab gehalten. Das sind doch wunderbare Entwicklungen! Familien getrennt – Erfolge verdoppelt! Dem kann man doch nacheifern: Deutschland getrennt – Zufriedenheit verdoppelt!
Ich würde alle Weihnachten wieder eine Gedenkkerze ins Fenster stellen – für meine metaphorischen Verwandten.

Paul Stänner wurde in Ahlen in Westfalen geboren und hat in Berlin Germanistik, Theaterwissenschaft und Geschichte studiert. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher „Agatha Christie in Greenway House“ und "111 Orte in Brandenburg, die man gesehen haben muss".

Paul Stänner im Porträt
© Deutschlandradio / Paul Stänner
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