Deutschland, Russland und der Westen

„Deutschland kann sich nach Osten aus dem Fenster lehnen“

11:41 Minuten
Bundeskanzler Scholz bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Russlands Präsident Putin in Moskau
Man könne nicht mehr klar sagen, hier Westen, da Putins Russland. Die Situation in Europa sei komplexer geworden, sagt Herfried Münkler. © picture alliance/dpa
Herfried Münkler im Gespräch mit Winfried Sträter |
Audio herunterladen
Vor 100 Jahren überraschte Deutschland die Welt, als es sich mit dem Russland Lenins verbündete. Heute wird über Deutschlands Rolle in Europa neu diskutiert. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler sieht die Bundesrepublik in einer Mittlerposition.
Im April 1922 landete Deutschland einen Coup. Am Rande einer internationalen Konferenz in Genua, in der es um die Weltwirtschaft und um Reparationen nach dem Ersten Weltkrieg ging, schloss Deutschland mit Russland den Vertrag von Rapallo.
Deutschlands Vertragspartner war Lenins bolschewistische Diktatur. Damit trotzten beide Länder, die den Krieg verloren hatten, ihrer internationalen Isolierung. Deutschland aber nährte einen Verdacht: dass es zwischen Ost und West laviert.

Sorge vor deutsch-russischer Aggression

Für den Politikwissenschaftler Herfried Münkler war der Coup jedoch politisch sinnvoll. Wenige Jahre später habe Außenminister Stresemann mit Ländern wie Frankreich seine Aussöhnungspolitik auf Augenhöhe starten können – mit der Drohung im Hintergrund: Wenn Ihr nicht wollt, gehen wir eben zur anderen Seite.
Längerfristig zeigte sich jedoch die dunkle Seite der deutsch-sowjetischen Kooperation. 1939 teilten Hitlerdeutschland und Stalins Sowjetunion Polen unter sich auf. Schon nach dem Vertrag von Rapallo hatte es die Sorge vor einer solchen deutsch-russischen Aggression gegeben.
Politikwissenschaftler Herfried Münkler mit Brille und Bart vor einem Bücherregal.
Deutschlands Abhängigkeit von Russlands Energielieferungen sei auch eine gegenseitige Abhängigkeit, sagt Herfried Münkler.© IMAGO / Reiner Zensen
Für Münkler ist vor diesem historischen Hintergrund klar: „Insofern kommt es nicht von ungefähr, dass in mancher Hinsicht gerade die Polen fürchten, dass, wenn die Deutschen mit den Russen reden, dass sie dann unter die Räder kommen.“

Komplexe Situation in Europa

Heute könne man nicht mehr klar sagen, hier Westen, da Putins Russland. Die Situation in Europa sei komplexer geworden. Die Bundesrepublik sieht Münkler in einer Mittlerrolle.
„Es ist schon ganz gut, wenn es einen gibt, der immer wieder die Kontaktlinien zu den Russen aufrechterhält, denn die Zuspitzung um die Ukraine hat gezeigt, dass die Europäer, wenn sie denn in Ruhe und Frieden leben wollen, sich mit den Russen ins Benehmen setzen müssen.“

Gegenseitige Abhängigkeit

Für Münkler ist es eine offene Frage, ob sich die USA von Europa abwenden. Deutschlands Abhängigkeit von Russlands Energielieferungen sei auch eine gegenseitige Abhängigkeit, weil ohne sie Putin das Sozialniveau in seinem Land nicht aufrechterhalten könne.
Klar sei: „Je fester Deutschland im Westen verankert ist, desto mehr kann es sich nach Osten aus dem Fenster lehnen und die Bindungen nach Russland aufrechterhalten.“
Möglicherweise könne eine Entdramatisierung der jetzigen Konstellation mit einem Beitrittsmoratorium der Ukraine zur NATO und einer Finnlandisierung der Ukraine gelingen, so Münkler.
(wist)

Abonnieren Sie unseren Weekender-Newsletter!

Die wichtigsten Kulturdebatten und Empfehlungen der Woche, jeden Freitag direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
Mehr zum Thema