Deutsche Mentalitäten

Es gibt kein Grundrecht auf miese Laune

Ein schlecht gelaunter alter Mann schaut von außen durch einen Tuerspion.
Viele Deutsche sind mies drauf und glauben zudem ständig, im Recht zu sein, meint unser Autor Paul Stänner. © picture alliance / dpa / blickwinkel / M. Gann
Ein Einwurf von Paul Stänner |
Glauben die Deutschen, dass sie ein Recht auf schlechte Laune haben? Der Publizist Paul Stänner bejaht diese Frage schlecht gelaunt uneingeschränkt - und wünscht sich die Zeiten zurück, in denen Affektkontrolle noch als wesentliche Kulturtechnik galt.
Wir sind ein komisches Volk. Ernsthaft! Die meisten von uns kennen diese Situation: Wir betreten eine U-Bahn oder einen Bus und merken gleich: schlechte Schwingungen! Vielen Fahrgästen steht miese Laune ins Gesicht geschrieben. Es ist neun Uhr morgens, und der Tag ist schon aus dem Ruder gelaufen.
Jeder der Fahrgäste hat seinen eigenen, gesonderten Grund dafür, aber alle treffen sich in einem: Sie kauen auf etwas herum, und das heißt Ärger. Der sofort noch größer wird, weil ich in meiner Situationsbeschreibung das Wort „Fahrgäste“ nicht gegendert habe.

Die Deutschen sind einfach mies drauf

Ja, man erlebt es überall: Die Deutschen sind einfach mies drauf. Sie denken, sie hätten ein Grundrecht auf miese Stimmung. Ein Menschenrecht. Wenn uns im Ausland häufig ein typisch deutscher Mangel an Humor zuschrieben wird – Germans don`t laugh, sagt der Engländer – ist das nur eine nachsichtige Umschreibung dafür, dass den Deutschen eine permanent schlechte Laune attestiert wird.
Zum Beispiel war es im Urlaub auf Kreta sonnenheiß und windig. Im Büro der örtlichen Tourismusagentur hing ein Schild, in deutscher Sprache. Ich las: "Wir können auch nichts dafür, dass es so windig ist. Aber wenn der Wind nicht da ist, wird es Ihnen zu heiß."
Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie oft Urlauber, auf deutsche Art grundentspannt und ausgeglichen, das Tourismusbüro gestürmt und sich in einfacher Sprache über den unzumutbaren Wind beschwert haben, bis ein Angestellter in seiner Verzweiflung dieses Schild geschrieben hat.

Unnachgiebig die eigenen Interessen verfolgen

Aber wir sind kein Volk von mangelndem Frohsinn. Nein, das wäre zu einfach. Ein Volk sind wir nicht. Wir sind eine Ansammlung von Kleingruppen, die stets unnachgiebig ihre eigenen Interessen verfolgen.
Immer mehr kleine Gruppen verlangen für sich das Recht, sich als Opfer von Ungerechtigkeit, Benachteiligung und grundsätzlicher Zumutung allgemeiner Art zu sehen. Gestärkt durch dieses selbstverliehene Recht kämpfen sie darum, allein und vorzüglich wahrgenommen zu werden.
Corona-Leugner, die sich selbst belügen, Klima-Aktivisten, die sich in Untergangspanik hineinreden, Lokführer, die aus welchem Grund auch immer mehr Geld haben wollen, Landwirte, die sich gegenüber Lokführern benachteiligt fühlen, missgelaunte Thüringer, die die AfD wählen, weil sie es den Wessis heimzahlen wollen. Alle haben ihre Wahrheiten, und außerdem noch recht.
Man kann verstehen: Manche haben Sorgen, und manche haben Interessen. Diese Reizbarkeiten bauen Druck auf, der Druck entlädt sich in Explosionen. Jeder darf mal.
Diese Position scheint auch dazu zu berechtigen, Polizisten, Sanitäter, Krankenhauspersonal anzugehen, zu beleidigen oder zu bedrohen. Politiker zum Beispiel: "Wir sind das Volk" brüllt die eine Kleingruppe, "Volksverräter"  hetzt die andere. Die Politiker sind vom Volk - also der Gesamtheit der vielen Kleingruppen - gewählt, ohne sie würde der Staat nicht laufen, aber das Grundrecht auf miese Stimmung scheint den Leuten das Recht zu geben, die Leute, die sie haben wollten, mit Tomaten zu bewerfen. Wer soll unter solchen Umständen noch Politiker werden?

Früher hatte man seine Launen im Griff

Affektkontrolle galt einmal als eine wesentliche Kulturtechnik. Es wurde erwartet, dass man seine Launen im Griff hatte, nicht gleich berserkerhaft losbrüllte, wenn einem – ob nüchtern oder besoffen – danach war. Dass man nicht losprügelte oder ballerte, wenn eine Schusswaffe zur Hand war. Das eine regelt das Schusswaffenrecht. Das andere sollte Erziehung regeln – idealerweise nach den Maßstäben des Grundgesetzes: vernünftig, human, respektvoll.
Und darin, im Grundgesetz, steht nichts von einem Grundrecht auf Granteln, das alle anderen zu erdulden haben. Wir sollten die Verfassung respektieren. Auch ihre Aussparungen.

Paul Stänner wurde in Ahlen in Westfalen geboren und hat in Berlin Germanistik, Theaterwissenschaft und Geschichte studiert. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher „Agatha Christie in Greenway House“ und "111 Orte in Brandenburg, die man gesehen haben muss".

Paul Stänner im Porträt
© Deutschlandradio / Paul Stänner
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