Skepsis vor der Nation
Auch wenn die Deutschen ihre Einheit verkraftet haben - mit ihrem Nationalgefühl seien sie noch nicht im Reinen, meint die Journalistin Katharina Döbler. Zu schwer laste auf ihnen die Schuld aus Weltkriegen und NS-Diktatur.
Vor 25 Jahren waren die Besorgnisse in den Reihen aufrechter Demokraten ziemlich groß, dass ein wiedervereinigtes Deutschland wieder in aggressiven Nationalismus verfallen würde.
Günter Grass, das selbst ernannte Flaggschiff der linksliberalen Öffentlichkeit, wusste damals das Gespenst eines reichen und mächtigen Landes im nationalen Größenwahn besonders eindrucksvoll an die Wand zu malen: Ein Gebilde, das dann nicht mehr aus den verfeindeten Zwillingsrepubliken bestünde, sei als Staat, Land und Nation in einem eine Gefahr für sich selbst und andere.
Nie wieder Deutschland, hatte es jahrelang bei linken Demonstrationen geheißen, denn die Angst vor dem Faschismus saß tief, und jedes Nationalgefühl, in welcher Form auch immer es auftauchte, war verdächtig und bedrohlich.
Für West wie Ost galt das gleichermaßen. Im Osten hatte man sich im Verband der sozialistischen Brudervölker unter sowjetischer Fuchtel nationale Fragen gar nicht erst zu stellen. Und der Westen pflegte im Kreis der transatlantischen Freunde bescheiden das, was man als "Verfassungspatriotismus" bezeichnete - eine naturgemäß gefühlsarme Angelegenheit.
Als Gustav Heinemann für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte, wurde er gefragt, ob der diesen Staat, den zu repräsentieren er sich anschickte, denn nicht liebe. Und er antwortete mit dem sympathischen, berühmt gewordenen Satz: "Ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau, fertig." Das war 1969.
Die Bundesrepublik war ein provisorischer, gleichwohl funktionsfähiger, sogar erfolgreicher Staat, den niemand so richtig mochte.
Wenn damals auf den Plätzen Europas junge Leute zusammenhockten, sangen sie zur Gitarre alle möglichen Lieder, in allen möglichen Sprachen. Deutsch war nicht dabei. Die deutsche Jugend hielt sich an Joan Baez und Bob Dylan: Nichts war entsetzlicher als traditionelles heimisches Liedgut – und, wenn man es recht bedachte, überhaupt alles Heimische.
Keine Gründe, ein Land zu lieben
In anderen Ländern war eigentlich alles erfreulicher: das Essen, die Stimmung, der Umgangston, das Wetter.
Das Einzige, was an Deutschland wirklich Größe hatte, waren die Naziverbrechen. Das war das Deutschsein, von dem man in der Schule am meisten lernte und zu dem man sich bekennen konnte. So wurden wir zu den besten Vergangenheitsbewältigern der Welt, und dieser Patriotismus ex negativo wirkte auf seine Weise durchaus auch identitätsstiftend.
Als vor 25 Jahren die Überreste der einen Republik in der andern aufgingen, wurden wir, aller eigenen und fremden Bedenken zum Trotz, nach und nach ein irgendwie normales Land. Es gibt brutale Nazibanden, aber mehrheitsfähig wurden sie nicht. Können wir das also doch, ein normales Land sein? Gefällt es uns bei uns, so wie jenen aus dem Ausland, die uns besuchen?
Wir haben ja einiges vorzuweisen: Vergangenheit bewältigt, Wiedervereinigung gestemmt, Wirtschaft auf Vordermann gebracht. Wir machen keine Schulden mehr, die andern haben Schulden bei uns. Und Krieg führen, das tun wir auch schon seit einer ganzen Weile wieder.
Das alles sind keine Gründe, ein Land zu lieben. Von einem heiteren, entspannten Verhältnis zu unserer Herkunft und Kultur sind wir noch immer sehr weit entfernt.
Bestenfalls fühlt sich das Verhältnis zu unserem Heimatland so an, wie das zu einem Problemkind, das nach langer Therapie nun ein normales, sogar erfolgreiches Leben führt als, sagen wir mal, Manager eines exportorientierten mittelständischen Unternehmens.
Das Therapieverfahren ist inzwischen sogar weltweit anerkannt, das System der Vergangenheitsbewältigung wird inzwischen auch von anderen Ländern übernommen.
Katharina Döbler, Journalistin und Autorin in Berlin, Redakteurin bei "Le Monde diplomatique", schreibt für die ZEIT und den Rundfunk, ein Roman ist 2010 erschienen: "Die Stille nach dem Gesang".