Deutschland-Tournee von The National

Bühne frei für weibliche Perspektiven

06:17 Minuten
Matt Berninger von The National am Mikrofon beim Konzert in der Columbiahalle in Berlin am 26. November 2019.
Getriebener Irrwisch: Sänger Matt Berninger beim Berliner Konzert. © imago images / Martin Müller
Simon Brauer im Gespräch mit Mascha Drost |
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Die Band The National steht für große Gefühle und große Gesten. Auf ihrer Deutschlandtour treten die männlichen Band-Mitglieder nun zur Seite - und überlassen die Bühnen-Mitte den Gastsängerinnen Mina Tindle und Kate Stables.
Mascha Drost: Wer The National live erleben möchte, muss schnell sein. Die US-amerikanische Band steht für melancholische Rockmusik und gehört seit ein paar Jahren zu den ganz großen Namen des Indierock.
Das aktuelle Album "I Am Easy To Find" war auf Platz zwei in den deutschen Charts, für den Vorgänger gab es einen Grammy, die Konzerte von The National sind regelmäßig ausverkauft. So war es auch gestern beim Auftakt der Deutschlandtour in Berlin. Mein Kollege Simon Brauer war dabei. Warum sind The National mit ihrer Musik so erfolgreich, was unterscheidet sie von anderen Rockbands?
Simon Brauer: Bei The National werden die Songs zum größten Teil von zwei Männern geschrieben, die gar nicht auf der Suche sind nach dem perfekten Popsong: Die Gitarristen und Zwillingsbrüder Bryce und Aaron Dessner sind gelangweilt vom einfachen Gitarrenrock, sie haben Filmmusiken geschrieben, Festivals kuratiert, haben klassische Musik für das New Yorker Stadtballett komponiert und sind immer wieder im Austausch mit anderen Künstlern, vor allem aus dem elektronischen und experimentellen Bereich.
All diese Erfahrungen, das Ausbrechen aus dem normalen Rockband-Kontext, haben dazu geführt, dass die Songs von The National immer wieder neue Klänge und Strukturen suchen - und meistens auch finden. Das macht die Musik interessant und aufregend.

Die Sängerinnen rücken in die Mitte

Drost: The National, das ist ja eine Band der großen Gesten, auch gestern im Konzert in Berlin?
Brauer: Ja, die gab es reichlich. Es standen erst mal reichlich Musiker auf der Bühne: die fünf Herren von The National, dazu ein zweiter Schlagzeuger und noch zwei Musiker, die abwechselnd Synthesizer, Posaune und Trompete gespielt haben. Und noch zwei Sängerinnen. Das bringt mich gleich zur ersten großen Geste.
Die beiden Frauen standen nämlich nicht am Rand, wie Background-Sängerinnen auf einem Podest, sondern genau in der Mitte der Bühne, die Band im Halbkreis um sie herum angeordnet. Denn auf dem Album "I Am Easy To Find" sind die Frauen in den Mittelpunkt gerückt. Sänger Matt Berninger überlässt immer wieder einzelne Strophen den Gastsängerinnen, damit seine Geschichten aus einer anderen, aus einer weiblichen Perspektive erzählt werden.
Beim Konzert gestern waren das die französische Folksängerin Mina Tindle - die ganz zufällig auch die Ehefrau von The National-Gitarrist Bryce Dessner ist - und die Britin Kate Stables, die man unter dem Namen ihres Projekts "This Is The Kit" kennen könnte. Die standen in der Mitte - wegen der neuen Songs, aber auch als Statement in einer immer noch männerdominierten Rockwelt, in der die Frauen oft genug dekorativ an der Seite stehen müssen.
Für die übrigen Gesten und die großen Gefühle hat Sänger Matt Berninger gesorgt. Der stand zwar nicht in der Bühnenmitte, trotzdem war er immer der Mittelpunkt - mit seiner warmen, immer leicht klagenden, säuselnden Baritonstimme und seinem intensiven Kontakt zum Publikum.

Berninger singt zwischendurch mal an der Bar

Drost: Berninger ist mittlerweile ja auch bekannt dafür, dass er sich regelrecht reinwirft ins Publikum. War das gestern auch so?
Brauer: Ja, das ist für mich jedes Mal noch ein bisschen irritierend. Es kommt mir vor wie eine Übersprungshandlung: Die anderen Bandmitglieder sind so vertieft in ihre Instrumente, dass Berninger gar nicht an sie herankommt. Seine Blicke werden nicht erwidert auf der Bühne.
Darum stürzt er sich immer wieder ins Publikum, zieht sein Mikrofon mit Kabel mehrfach kreuz und quer durch die Columbiahalle und steht zwischendurch auch mal singend auf der Bar neben der Bühne, wo die Konzertbesucher ihre Getränke kaufen. Er sieht dabei aber nie so aus, als würde es ihm Spaß machen. Eher verwirrt und getrieben.
Bei einigen Fans habe ich so etwas wie Sensationsgier gesehen: Was macht er heute wieder Verrücktes? Die Smartphones im Anschlag, um alles zu filmen. Die Musik war dann zwischendurch gar nicht mehr so wichtig. Das lang aber auch daran, dass die Band sehr viel vom neuen Album gespielt hat, neun Stücke insgesamt. Die haben die Fans noch nicht so ins Herz geschlossen wie die älteren Songs.

Das Finale bestreiten die Fans

Die kamen dann zum Glück im Zugabenblock. Und es ist ja schon fast Tradition, dass Konzerte von The National mit dem Song "Vanderlyle Crybaby Geeks" enden, fast ein Gospel. Den haben auch gestern die dreieinhalbtausend Fans in Berlin alleine gesungen, während die Band von der Bühne mit Akustikgitarren und Tamburin begleitet hat. Tolles Finale.
Drost: Die Band spielt heute Abend ja nochmal in Berlin. Sie klingen so begeistert, als würden Sie am liebsten nochmal hingehen?
Brauer: Ja, aus zwei Gründen. Zum einen hat die Band so berauschend gespielt, fast ohne Pausen, wer gerade nicht Gitarre oder Posaune gespielt hat, hat sich eine Trommel oder einen Shaker geschnappt und weiter gespielt. Das entwickelt so einen Sog, den würde ich gerne nochmal erleben.
Zum anderen soll Matt Berninger eine zweite Chance bekommen. Denn ich weiß, dass er nicht nur singen und ins Publikum springen, sondern auch schöne Geschichten erzählen kann. Gestern wollte er nicht.

The National ist mit dem Album "I Am Easy To Find" auf Tournee. Am 27. November spielt die Band ein zweites Konzert in Berlin, am 1. Dezember in Bochum, am 2. in Köln, am 4. in München und am 5. Dezember in Stuttgart.

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