Deutschlands Akademisierung

Für alles einen Master, bitte!

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Eine Illustration von Studenten und Studentinnen in einem Hörsaal, mit Büchern statt Köpfen.
Von A wie Abenteuer- und Erlebnispädagogik bis Z wie Zuverlässigkeitsingenieurwesen – es kommen immer neue Studiengänge hinzu. © imago / Oivind Hovland
Von Armin Himmelrath |
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Genau 20.118 Studiengänge gibt es in Deutschland. Dazu rund 2,9 Millionen Studentinnen und Studenten. Leidet unser Land unter einem Akademisierungswahn und fehlender beruflicher Bildung? Oder übersehen wir einfach die Potenziale von Bildungsaufsteigern?
"Hebammen werden künftig den akademischen Titel ‚Bachelor‘ erwerben." (Jens Spahn, Bundesgesundheitsminister)
"Wie viel Akademisierung brauchen wir denn eigentlich? Wieviel ist erforderlich? Und was ist sozusagen ein vernünftiges Maß?" (Prof. Bernhard Kempen, Jurist)
Genau 20.118 verschiedene Studiengänge verzeichnet der Hochschulkompass der Hochschulrektorenkonferenz derzeit für die Hochschulen in Deutschland. 20.118 Studiengänge, von A wie Abenteuer- und Erlebnispädagogik an der Philipps-Universität Marburg, Master, Vollzeitstudium, bis Z wie Zuverlässigkeitsingenieurwesen an der TU Darmstadt, Master, berufsbegleitend.
Da kommt’s auf ein paar mehr oder weniger nicht an, könnte man meinen. Gesundheitsminister Jens Spahn jedenfalls kündigte am 15. Mai 2019 an, ein weiteres Studienfach im akademischen Kanon zu etablieren.
"Das Kabinett hat heute meinem Vorschlag zu einer Reform der Hebammenausbildung zugestimmt. Die Arbeit der Hebammen ist unverzichtbar, und die Anforderungen, die an sie gestellt werden, auch im Arbeitsalltag, steigen ständig. Um die Hebammen bestmöglich auf diese Aufgaben vorzubereiten, schlagen wir vor, die Ausbildung künftig in Form eines dualen Studiums zu gestalten. In einem dualen Studium verbinden wir wissenschaftliche Aspekte und Fragestellungen der Ausbildung mit der Praxisnähe, die vor allen Dingen dann auch bei der Begleitung von Geburten in den Krankenhäusern gelebt wird."

Immer neue Studienfächer kommen hinzu

Auch andere neue Studienfächer sind in den vergangenen Jahren entstanden. Fächer, die früher praktische Ausbildungsberufe waren und in einer Lehre oder zumindest auf einer Fachschule vermittelt wurden. Die Krankenpflege gehört dazu, Ergotherapie, die frühkindliche Erziehung. Und jetzt eben auch die Hebammenkunde. Deutschland wird, so scheint es, immer akademischer.
Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin bei einer Rede in Stuttgart am 7. November 2019.
Julian Nida-Rümelin meint, dass eine Lehre mit Berufspraxis, viel erfolgversprechender sei als ein Studium an einer Hochschule© imago / Arnulf Hettrich
Julian Nida-Rümelin findet das nicht gut.
"Wir müssen die Quantitäten schon im Auge behalten. Es muss eine Balance bestehen. Und wenn wir uns orientieren an Großbritannien mit 64 Prozent Studierendenquote pro Jahrgang, dann hieße das, dass eine Stärke des deutschen Bildungssystem – und das ist nun mal: berufliche Bildung, duales System, hochfachlich, hochqualifizierte Facharbeiterschaft in den ganz unterschiedlichen Bereichen – dass das dann nur noch eine Restgröße wäre. Und damit sich wahrscheinlich in der Qualität nicht aufrechterhalten ließe."
Julian Nida-Rümelin ist Philosophieprofessor in München. Und er hat 2014 ein Buch veröffentlicht mit einem provokanten Titel: "Der Akademisierungswahn. Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung". Darin vertritt er die Ansicht, dass ein nichtakademischer Ausbildungsweg, also eine Lehre mit Berufspraxis, viel erfolgversprechender sei als ein Studium an einer Hochschule – erfolgversprechender sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft. Es gebe einfach, schreibt der Philosoph, einen fatalen Hang zum Akademischen, getrieben durch den Blick auf andere Staaten und durch Bildungsvergleiche etwa der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die die Akademisierungsquoten ihrer Mitgliedsländer erhebt. Also die Zahl derjenigen eines Jahrgangs, die im so genannten tertiären Bildungsbereich landen.

"Ich glaube, wir sollten die Berufsschulen stärken"

"Meine wichtigste Botschaft ist, dass wir uns nicht an schiefen internationalen Vergleichen orientieren. Die Benchmarks, die uns da von OECD und anderer Seite vorgehalten werden, passen nicht. Wir haben ein Universitätssystem, wo sich die Professoren fast ausschließlich über Forschung qualifizieren. Die sind für praxisnahe Ausbildung einfach nicht geeignet. Das kann man kritisieren, aber so ist es nun mal. Und wir haben eine berufliche Bildung, die zum größten Teil über dem Niveau von amerikanischen City-Colleges liegt, die als tertiär gelten, aber eine Ausbildung, die viel praxisferner ist, anbieten und daher für den Arbeitsmarkt in Deutschland nicht geeignet wären. Ich glaube, wir sollten sehr viel Augenmerk auf die berufliche Bildung legen, auch die Berufsschulen stärken."
Nida-Rümelins These hat alles, was den Spin eines Bestsellers ausmacht. Sie klingt nach: Leute, studiert weniger! Schickt eure Kinder lieber in die Lehre! Die deutsche duale Ausbildung ist doch ein echter Erfolgsschlager! Der Philosoph erhielt dafür viel Zustimmung, vor allem von Mittelständlern, die fürchten, ihre Ausbildungsplätze nicht mehr besetzen zu können. Aber stimmt diese These denn auch? Fünf Jahre ist Julian Nida-Rümelins Buch jetzt alt. Zeit, Bilanz zu ziehen.
Studentinnen und Studenten in einem vollbesetzten Hörsaal bei der Erstsemester-Begrüßung an der Universität zu Köln am 7.Oktober 2019.
Immer mehr junge Menschen streben an die Universitäten und Fachhochschulen in Deutschland.© imago / Christoph Hardt
Schaut man auf die Statistiken zur Studierneigung in Deutschland, dann wird schnell klar: Ja, es stimmt, immer mehr junge Menschen streben an die Universitäten und Fachhochschulen in Deutschland. Rund 2,9 Millionen Studentinnen und Studenten gibt es derzeit, ein historisches Allzeit-Hoch. 1950 nahmen gerade mal fünf Prozent eines Altersjahrgangs ein Studium auf, 1960 waren es sechs Prozent. Wer damals studierte, war die große Ausnahme. Das änderte sich ab Mitte der Sechzigerjahre, als durch die Neugründung von Unis und FHs viel mehr Schulabgänger die Chance erhielten, ein Studium aufzunehmen. 1972 lag die Zahl der Studienanfänger pro Jahrgang bereits bei 18 Prozent, 1990 schon bei über 30 Prozent. Heute studieren rund 60 Prozent eines Altersjahrgangs. Ja, es gibt den Akademisierungstrend tatsächlich: Die Quote hat sich seit 1950 verzwölffacht.

Eine von denen, die zu diesem hohen Studienanteil beigetragen hat, ist Christin Gerber aus Bochum. Gerber studierte Medizin. Das war im Lebensplan ihrer Familie eigentlich nicht vorgesehen: der Vater Maurer, die Mutter Sozialversicherungsfachangestellte, beide phasenweise immer wieder arbeitslos. Christin wäre ein paar Jahrzehnte früher ganz sicher nicht an einer Uni gelandet und schon gar nicht als Medizinstudentin. Denn in ihrer Familie fehlt der akademische Background völlig. Und das merkt man jeden einzelnen Tag an der Universität, erzählt Christin Gerber.
"Ich sag mal, das fängt schon dabei an, dass man, wenn man keinen zuhause hat, den man fragen kann: Was ist der Unterschied zwischen Bewerbung und Immatrikulation? Wie macht man das? Und wie ist das überhaupt mit dem Geld? Wie läuft das an der Uni? Was ist ‘ne Hausarbeit, was ist ein Seminar, was ist ‘ne Vorlesung? Was ist ein Proseminar? All solche Sachen, die man da keinen fragen kann."

Die erste in der Familie, die studierte

Wissenschaftsfeindlich, erzählt Christin beim Treffen auf dem Campus der Universität in Bochum, wissenschaftsfeindlich seien ihre Eltern eigentlich nicht gewesen. Es war eher so, dass sie die Option gar nicht auf dem Schirm hatten, dass ihre Tochter studieren könnte. Der Gedanke und später dann das Studium hätten einfach nicht zur Lebenswelt der Familie gepasst.
"Prinzipiell war es schon okay. Aber so... Begeisterung habe ich nicht damit ausgelöst. Das ist einfach auch schwierig zu verstehen, überhaupt so dieses ganze Uni-Umfeld, dass man auch von einem Tag an der Uni müde sein kann und angestrengt, auch wenn man nicht richtig gearbeitet hat – in Anführungsstrichen. Das war schon ziemlich schwierig. Und eben weil auch niemand was mit diesem medizinischen Kram anfangen kann, war das wirklich sehr viel... na ja, nicht Ablehnung, aber es wäre schon schöner gewesen, wenn ich was anderes gemacht hätte. Bevorzugt ‘ne Ausbildung, mit der ich direkt Geld bekommen hätte. Und diese Gedanken waren da schon ganz wichtig."
Umso bemerkenswerter, dass die junge Frau es schaffte, als erste in ihrer Familie ein Studium aufzunehmen. Das Schwierigste daran, sagt sie, sei es gewesen, in eine völlig neue Welt hinein zu geraten, für die sie keinerlei Orientierungsmaßstäbe zur Verfügung hatte.
"Also, wenn ich mich daran zurückerinnere, wo ich angefangen hab zu studieren, war einfach schon dieser große Campus und all die Leute, die da total zielstrebig genau zu wissen scheinen, was sie machen wollen und wo sie hinmüssen. Und ich bin da so das kleine Licht, was jetzt gar nicht genau weiß, wo es langgeht. Und dieses Gefühl, das ist schon so – dann traut man sich auch nicht zu fragen. Obwohl andere vielleicht die gleichen Fragen hätten, aber die warten dann vielleicht bis zuhause und sagen dann so: Mama, Papa, Onkel, was auch immer, sag mal, ich hab das nicht verstanden. Und man selber hat eben keinen."
Christin Gerber ist gewissermaßen der Anlass für Julian Nida-Rümelins Klage über den Akademisierungswahn. Sie verkörpert den Trend zum Studium. Wobei festzuhalten bleibt: Vom Wahn, dem eigenen Kind eine akademische Bildung zukommen lassen zu müssen, war in ihrer Familie, bei ihren Eltern überhaupt nichts zu spüren.

Mitarbeiter mit akademischer Vorbildung gesucht

Bernhard Kempen ist Jurist, Professor an der Universität zu Köln. Und er ist Vorsitzender des Deutschen Hochschulverbands, der Interessenvertretung der Universitätsprofessoren in Deutschland. Eigentlich müsste sich Kempen also darüber freuen, wenn sein Arbeitsfeld, also die universitäre Forschung und Lehre, durch immer mehr Studierende und immer mehr Fächer gestärkt und aufgewertet wird. Aber die Diskussion um den vermeintlichen Akademisierungswahn stimmt ihn nachdenklich.
"Wie viel Akademisierung brauchen wir denn eigentlich? Wieviel ist erforderlich? Und was ist sozusagen ein vernünftiges Maß? Und dazu muss man wissen: In einem Land, das freiheitlich strukturiert ist, ist es sehr schwer, zu sagen: Wir brauchen nur so und so viel Akademiker, und eine Überzahl ist nicht erforderlich."
Fakt ist: Unternehmen in Deutschland suchen immer öfter nach Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit akademischer Vorbildung. Wo früher ein guter Realschulabschluss ausreichte, um beispielsweise einen Ausbildungsplatz als Bankkaufmann zu bekommen, muss es heute mindestens das Abitur sein – oder vielleicht sogar ein wirtschaftswissenschaftlicher Bachelorabschluss. Solchen Trends aber, sagt Bernhard Kempen, könne man nicht durch Verordnungen und Beschlüsse begegnen.
"Ich halte nichts von irgendwelchen planwirtschaftlichen Modellen, irgendwelchen Kennziffern oder Zahlen und Prozentsätzen, die ausdrücken, wie viele akademische Gebildete und wie viele nicht akademisch Gebildete wir in der Bevölkerung brauchen."
Kempens Credo: Es brauche gut ausgestattete Universitäten und Fachhochschulen, um die an einem Studium interessierten Schulabgänger aufnehmen und qualitativ gut ausbilden zu können. Jeder und jede einzelne Abiturientin sei willkommen, sagt Bernhard Kempen – Aufgabe der Politik sei es, das auch möglich zu machen. Und noch etwas Zweites wünscht sich Bernhard Kempen von den Verantwortlichen in den Ministerien: eine klare Hochschulpolitik. Mit einer klaren Aufgabenverteilung zwischen Universitäten und Fachhochschulen.

FHs engagierten sich immer stärker in der Forschung

An den Universitäten gibt es eine wissenschaftlich-theoretische Ausbildung, an den Fachhochschulen eine zwar akademisch fundierte, letztlich aber an der Berufspraxis orientierte Ausbildung. So war die Arbeitsteilung mal geplant, damals, in den frühen Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, als die Fachhochschulen gegründet worden.
Doch auch die FHs wurden in den vergangenen Jahrzehnten vom Trend zur Akademisierung erfasst: Sie engagierten sich immer stärker in der Forschung, legten den Namen und FH ab und nennen sich seither "Universitys of Applied Science", Hochschulen für angewandte Wissenschaften. Und sie fordern, in einigen Bundesländern erfolgreich, das Recht, Doktoranden ausbilden zu dürfen – bisher ein Privileg der Universitäten.
Auch das ist ein Aspekt des von Julian Nida-Rümelin diagnostizierten Akademisierungswahns: das Verschwimmen der institutionellen Grenzen zwischen FHs und Unis. Und das könnte ein Problem sein, sagt Frank Ziegele, Geschäftsführer des Centrums für Hochschulentwicklung in Gütersloh.
"Es gibt verschiedene Szenarien, wo die in Zukunft sein können. Manche sind schön, und andere sind weniger schön. Ein weniger Schönes ist beispielsweise, dass die Fachhochschulen immer mehr versuchen, wie Unis zu sein, und dass es so eine Gruppe gibt von ein paar, die denken, wir können jetzt von der zweiten Liga in die Bundesliga aufsteigen, indem wir mehr Forschung machen und so tun, als wären wir Unis."
Das aber hält der Hochschulforscher für schwierig. Sein Gegenvorschlag: Die FHs könnten sich auf neue, bisher nicht abgedeckte Anforderungen an die Hochschulausbildung einstellen. Zwar akademisch, aber eben nicht rein wissenschaftlich-akademisch.
"Der bessere Weg wäre, Fachhochschulen würden sich weiterentwickeln und nach einem neuen, modernisierten, zunftsorientierten Profil suchen. Also zum Beispiel ein Profil, das – statt nur Forschung machen zu wollen so wie die Unis – mehr auf Wissenstransfer und regionale Vernetzung setzt."

Zugang zur akademischen Bildung ist leichter geworden

Dabei sind die Grenzen ohnehin längst unscharf geworden. Auch Universitätsstudierende wollen in ihrer Mehrzahl nicht in den Wissenschaftsbetrieb, sondern suchen ein beruflich orientiertes Fachstudium; und auch an Fachhochschulen gibt es viele, die sich für harte wissenschaftliche Forschung interessieren. Zur Vermischung beigetragen hat ganz sicher die Bologna-Reform im europäischen Hochschulraum, also die Einführung der Studienabschlüsse Bachelor und Master. Denn durch die gestufte Studienstruktur ist der Zugang zur akademischen Bildung kleinteiliger und damit leichter geworden. So gesehen, haben auch die Hochschulen selbst den Trend zur Akademisierung befeuert. Und das könnte noch erhebliche Auswirkungen haben, sagt Hochschulforscher Frank Ziegele.
"Was auch eine Perspektive sein kann für Fachhochschulen und für Unis, ist, dass sich dieses ganze System ein Stück weit auflöst hat. Und das eigentlich diese Dualität Uni-Fachhochschule gar keine so große Rolle mehr spielt, sondern die sich sehr viel spezifischer profilieren."
Wassilios Fthenakis setzt sich seit Jahren für eine solche Profilierung ein. Fthenakis ist Professor für Entwicklungspsychologie und Anthropologie an der Freien Universität Bozen in Südtirol, außerdem Präsident des Didacta-Verbands der Bildungswirtschaft. Und er kämpft schon lange dafür, dass sich Hochschulen aktiv für die Verwissenschaftlichung bestimmter Ausbildungen einsetzen.
Die professionelle Erziehung von Kindern im Vorschulalter, sagt Wassilios Fthenakis, müsse unbedingt durch akademisch ausgebildetes Personal erfolgen. Denn nicht in den Schulen würden Kinder geprägt, sondern außerschulisch, lange bevor sie zum ersten Mal in einer Klasse sitzen.
"Die außerschulischen Lernorte bekommen einen neuen Stellenwert. Denn wir wissen, dass die Entwicklung des Kindes mehr über die Familie und diese außerschulischen Lernorte beeinflusst wird als über das klassische Bildungssystem. Und nachdem gegenwärtig die modernen Bildungssysteme nicht mehr alleine die Wissensvermittlung forcieren, sondern die Stärkung der kindlichen Entwicklung und der kindlichen Kompetenzen, dann macht es Sinn, dass man diese außerhalb befindlichen Bildungsorte aktiv in die Konstruktion der individuellen kindlichen Bildungsbiografie einbettet."

Wissenschaftliche Basis für Erzieherinnen und Erzieher?

Aktiv einbetten, das heißt für den Entwicklungspsychologen: Erzieherinnen und Erzieher müssen in die Lage versetzt werden, ihre Arbeit auf wissenschaftlicher Basis zu erledigen, damit Kinder bereits vor der Einschulung die bestmöglichen Grundlagen für ihren weiteren Werdegang erhalten. Die bisherige Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher sei dafür nicht unbedingt geeignet.
"Wir haben ja den Stellenwert der vorschulischen Bildung neu bewertet als das Fundament für gelingende Bildungsbiografien. Von da aus konzentriert sich in der Tat das Interesse darauf, diese ersten sechs Jahre der kindlichen Entwicklung so zu gestalten, dass die Kinder maximal davon profitieren, ohne dass sie überfordert werden. Denn wir haben bisher mehr den anderen Fehler begangen, wir haben die Kinder unterfordert. Neue Erkenntnisse deuten darauf hin, dass die Kinder viel kompetenter sind, als wir bislang angenommen haben. Und wenn wir dem Kind und der kindlichen Entwicklung gerecht werden möchten, dann müssen wir dieser natürlichen Lern-Neugier entsprechen."
Eine historische Hörsaal-Karte von 1920, die Legitimation zum Besuch einer medizinischen Vorlesung in Deutschland.
Hörsaal-Karte von 1920: Die Geschichte der Universitäten war immer schon eine der zunehmenden Akademisierung.© imago / teutopress
Solche Forderungen nach der Verwissenschaftlichung bestimmter Berufsausbildungen mögen ungewohnt klingen – neu sind sie allerdings nicht. Denn die Geschichte der Universitäten war immer schon eine Geschichte der zunehmenden Akademisierung. Ausgehend von den antiken Studienfächern, den sieben freien Künsten...
"Grammatik, Rhetorik, Logik, Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie."
... entwickelten sich in der mittelalterlichen europäischen Universität die Fakultäten für Theologie, Jurisprudenz und Medizin. Dass an deutschen Hochschulen heute über 20.000 Studiengänge angeboten werden, ist Ergebnis einer sich über Jahrhunderte erstreckenden Ausdifferenzierung. Und diese Ausdifferenzierung ist, die aktuellen Entwicklungen zeigen es, noch nicht beendet. Am sichtbarsten wird das immer dann, wenn komplett neue akademische Bildungsinstitutionen errichtet werden. So, wie 1965 im Ruhrgebiet, in Bochum.
"Morgens um 8 Uhr hatten im Sekretariat der Universität die Einschreibungen begonnen. Als erster erschien Franz-Josef König, Student der Rechte aus Hagen, der die Matrikelnummer 10.000 erhielt. Fünf Kamerateams, zahlreiche Fotoreporter und Journalisten aus nah und fern waren herbeigeeilt, um dieses für eine Universität einmalige Ereignis in Bild, Wort und Ton festzuhalten. Die Stadt Bochum hatte für diesen Tag ein festliches Kleid angelegt. Es war ein für unsere Stadt bisher ungewohntes Bild, als die Professoren der Ruhr-Universität, angeführt von den Rektoren der westdeutschen Hochschulen, in feierlichem Talar ins Schauspielhaus einzogen." (Filmausschnitt)

Akademisierung als Zeichen des Strukturwandels im Ruhrgebiet

"Es ist so, dass vor etwa 50, 60 Jahren sich abzeichnete, dass die Kohle- und Stahl-basierte Wirtschaftskraft des Ruhrgebiets nachlassen wird. Und zwar unter dem Druck internationaler Konkurrenz, wir haben aus Fernost dieselben Produkte – nur zu einem Bruchteil des Preises."
Bernhard Kempen, Deutscher Hochschulverband.
"Und das hat dazu geführt, dass ein Strukturwandel im Ruhrgebiet überfällig wurde. Den hat man – ich will jetzt nicht beurteilen, ob noch beizeiten oder etwas zu spät. Jedenfalls hat man ihn irgendwann eingeleitet. Und die Akademisierung des Ruhrgebiets ist ein Spiegel genau dieser Entwicklung."
Julian Nida-Rümelin, der scharfzüngige Kritiker der heutigen Akademisierungstendenzen, findet die Entwicklung vor einem halben Jahrhundert im Ruhrgebiet ebenfalls gar nicht so schlimm.
"Also, sowohl diese Initiative in Nordrhein-Westfalen war ganz wichtig, weil: Der Strukturwandel stand ja bevor. Man konnte nicht auf Dauer alleine von Kohle und Stahl leben. Und auch Deutschland insgesamt, die Warnungen von Georg Picht, das ist ja nun 1964, waren berechtigt: Deutschland musste in die Bildung mehr investieren, ein gewisses Maß an Bildungsexpansion organisieren. Das ist dann zehn Jahre später so langsam wieder gestoppt worden, Ende der 1970er-Jahre."
Ein Straßenschild weist auf die Gebäude der am 30.06.1965 eröffneten Ruhr-Universität in Bochum, aufgenommen 1965. 
Ruhr-Universität Bochum, aufgenommen im Jahr der Eröffnung 1965.© picture-alliance/ dpa
Bis dahin allerdings gab es einen erheblichen Schub in Richtung akademischer Bildung. Und dieser Schub ist bis heute zu spüren, auch im Ruhrgebiet. Isabel van Ackeren ist Professorin für Bildungsforschung an der Universität Duisburg-Essen. Die Klage über schlechte und zu viele Studierende und über eine Verwässerung der akademischen Kriterien, sei uralt, sagt sie.
"Das ist eine Beobachtung, die es seit Hunderten von Jahren gibt. Wenn man sich ein bisschen mit Schulgeschichte beschäftigt, mit den Hochschulen, dann stellt man tatsächlich fest, dass die Universitäten sich schon immer beschwert haben, wer da eigentlich an die Universität kommt. Und das ist etwas, womit Universitäten einfach auch umgehen müssen. Also: Die Studierendenschaft ist einfach vielfältiger geworden. Es gibt mehr Studierende natürlich. Es gibt mehr Zugänge zur Universität insgesamt. Größere Durchlässigkeit, natürlich auch eine höhere Bildungsaspiration seitens der Eltern und auch der Schülerinnen und Schüler, möglichst das Abitur zu erwerben und dann in die Universität zu kommen."
Das kann man als "Akademisierungswahn" bezeichnen, wie es Julian Nida-Rümelin getan hat. Oder auch als "Bildungspanik", wie es der Soziologe Heinz Bude formuliert: Eltern stehen unter enormem Druck, ihren Kindern ein möglichst zukunftsfestes Bildungsfundament zu verschaffen. Und weil sie verstanden haben, dass das Abitur und ein Studienabschluss in unserer Gesellschaft erstklassige Türöffner für den weiteren Lebensweg sind, tun sie alles dafür, ihren Kindern diesen Weg zu ermöglichen.
"Na und?", sagt Bernd Kriegesmann. Er findet diesen Trend zu möglichst hohen Bildungsabschlüssen gar nicht so schlimm. Das sei doch, hält er dagegen, ein tolle Entwicklung. Kriegesmann ist Präsident der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen, einer Fachhochschule, die stolz darauf ist, mehrheitlich Studierende zu unterrichten, die nicht über den klassischen Bildungsweg Akademikerfamilie – Gymnasium – Abitur an die Westfälische Hochschule gekommen sind.
"Wir haben ja hier im Ruhrgebiet überhaupt erst seit 50 Jahren eine akademische Landschaft mit Universitäten und Fachhochschulen, die damals gegründet wurden auch mit dem Ziel, hochschulferne Schichten auch in akademische Karrieren zu integrieren. Und das Thema ist noch nicht abgeschlossen: Wir haben heute noch viele Talente, die wirklich auch ihren akademischen Weg auch an unserer Hochschule gehen könnten. Und wenn wir uns nicht aktiv um diese jungen Menschen bemühen würden, würden die nie den Weg in die Hochschule finden."

Westfälische Hochschule setzt Talentscouts ein

Aus Sicht von Bernd Kriegesmann gibt es nicht zu viel, sondern immer noch zu wenig Akademisierung. Weil viele, die eigentlich für ein Studium in Frage kämen, davor zurückschrecken – bis heute.
"Das sind ganz unterschiedliche Gründe. Das hat natürlich zum Teil finanzielle Gründe. Das hat aber auch den Grund, dass man in seinem familiären Hintergrund, in seinem sozialen Umfeld niemanden hat, der einem mal sagen kann: Das ist Hochschule, das fühlt sich so an. Das kann man schaffen! Und genau diese weichen Faktoren haben ganz harte Konsequenzen für viele junge Menschen."
Die Westfälische Hochschule sucht deshalb schon seit langem mit so genannten Talentscouts nach Schülerinnen und Schülern, die auf dem Weg in ein Studium möglicherweise Unterstützung brauchen, damit diese akademischen Talente nicht verloren gehen. Und sie entwickelt Studiengänge für Berufsfelder, etwa zum Facility Management oder zur Wirtschaftslogistik, für die es früher vielleicht nicht einmal eine Ausbildung gegeben hätte.
Mehr Akademisierung, nicht weniger ist hier das Motto – aber kleinschrittig und so, dass möglichst viele Studierende aus nicht-akademischen Elternhäusern den Anschluss finden können. Ein Konzept, dass auch an der Universität Duisburg-Essen verfolgt wird. Denn auch diese Universität findet viele ihrer Talente dort, wo früher an ein Studium nicht einmal gedacht worden wäre. Und das, sagt Isabel van Ackeren, sei durchaus eine Herausforderung.
"Aber dadurch, dass es so breit geworden ist, haben wir natürlich auch sehr unterschiedliche Voraussetzungen. Unsere Universität sieht das sehr konstruktiv. Und wir sagen: wir müssen diesen Übergang auch entsprechend gestalten. Aber ich sehe auch eine Aufgabe darin, dass man Schülerinnen und Schüler gut darin berät, was denn die Anschlussperspektiven sind und dass man auch deutlich macht: Das System ist insgesamt durchlässig. Also, man kann verschiedene Wege gehen. Man kann auch erstmal ‘ne Ausbildung machen und dann vielleicht an die Fachhochschule gehen. Oder an die Universität. Also, da ist das System grundsätzlich offen. Wie gesagt, wir haben mit Vielfalt zu tun – aber ob das jetzt wirklich schlechter geworden ist: Da habe ich so meine Zweifel."

Chance auf Bildungsweg, der eigenen Talenten entspricht

Diese Durchlässigkeit und Flexibilität ist es letztlich, die das deutsche Bildungssystem stark macht. Nicht das Gegeneinander von akademischen und nicht-akademischen Werdegängen, nicht die Konfrontation zwischen Lehre und Studium sind notwendig, sondern die Chance, einen Bildungsweg zu gehen, der den eigenen Interessen und Talenten entspricht. Und wenn man diese Chance eröffnen will, sagt Isabel van Ackeren, dann müsse man nicht nur innerhalb der akademischen Welt miteinander reden, sondern sich mit allen Beteiligten der Bildungskette. Mit den Unis und Fachhochschulen, genauso aber auch mit den Ausbildungsbetrieben und den Schulen. Und vor allem: mit den Jugendlichen.
"Es gibt verschiedene Angebote, die wir ganz konkret machen können, wo wir schon frühzeitig in die Schulen gehen, entsprechend informieren, was wir haben, um diesen Übergang zu gestalten. Ich glaube, es ist aber auch wichtig, dass Universitäten und Schulen sich nochmal stärker zusammenfinden und abstimmen: Was sind eigentlich die Erwartungen seitens der Universitäten? Wie blicken die Schulen auf die Anschlussperspektiven? Um da nochmal ein besseres Verständnis auch zu schaffen, dass wir aber auch rückspiegeln an die Schulen: Wo sehen wir besondere Bedarfe, was läuft auch gut, was kann man weiter stärken? Und diesen Übergang nochmal einfach auch als Aufgabe, als gezielte Aufgabe der Universität zu betrachten."
Das aber bedeutet, konsequent weiter gedacht: Universitäten – und Universitätsprofessoren wie Julian Nida-Rümelin – sollten nicht über den vermeintlichen Akademisierungswahn klagen und über die angebliche Entwertung des Wissenschaftlichen, sondern ihre Energie lieber in Kooperationsmodelle zwischen den verschiedenen Bildungsbereichen fließen lassen. Bildungsforscherin Isabel van Ackeren jedenfalls rät ihren Akademikerkollegen zur kritischen Selbstreflexion.
"Mit welchem Habitus schauen wir eigentlich auf Studierende, die zunehmend – zumindest an unserem Standort – ja aus anderen sozialen Schichten kommen? Wir haben einen sehr hohen Anteil an Bildungsaufsteigern. Da muss man sich auch umstellen. Und gucken: Welche Talente und Potenziale kommen hierher? Also eine ressourcenorientierte Haltung, ein ressourcenorientierter Blick ist für mich ganz wichtig in diesem Zusammenhang."

Ausdifferenzierung der Wissenschaften geht weiter

Bernhard Kempen vom Deutschen Hochschulverband dagegen setzt darauf, dass der Wissenschaftsbetrieb klar erkennbare Grenzen behält gegenüber der nicht-akademischen Welt. Aber Kempen sagt auch: Diese Grenzen müssen immer wieder überprüft, immer wieder neu ausgelotet werden – und bei Bedarf auch verschoben.
"Ich glaube schon, dass Anlass besteht, das eine oder andere sehr kritisch zu überdenken. Wo nun wirklich das Wissen, die Vermittlung von Grundlagenwissen und anwendungsbezogenem Wissen im Vordergrund steht oder wo doch eher sozusagen das Handwerklich-Praktische im Vordergrund steht – das muss man sehr genau überlegen. Aber, um das Beispiel Hebamme aufzugreifen: Eine Hebamme übt eine sehr verantwortungsvolle Tätigkeit aus. Sie muss auch über die medizinischen Gegebenheiten im Bilde sein. Und das ist, glaube ich, schon ein Beispiel, wo man sagen kann: Ja, da ist eine vorsichtige Akademisierung vielleicht gar nicht so falsch."
Die Akademisierung der Gesellschaft und die Ausdifferenzierung der Wissenschaften geht also weiter. Und das sei, sagt Bernhard Kempen, zumindest im historischen Kontext auch der richtige Weg gewesen – trotz aller Widerstände, die es jederzeit gegen akademische Grenzerweiterungen gegeben hat. Kempen blickt noch einmal auf die Akademisierung des Ruhrgebiets zurück.
"Ich glaube, im Rückblick muss man sagen: Von diesen Neugründungen gingen gute und wertvolle Impulse aus. Natürlich hat man sich an der einen oder anderen Stelle auch eine blutige Nase geholt, aber das sind langwierige Prozesse. Und am Ende, heute, müssen wir sagen: Nein, insgesamt ist das erfolgreich gewesen. Nordrhein-Westfalen ist kein prekäres Bundesland, das in irgendeiner Weise überfordert wäre. Und ich glaube, das ist auch darauf zurückzuführen, dass wir an mehreren Standorten mit großer regionaler Strahlkraft Hochschulen haben, die wichtige Impulse in die neuen Wirtschaftszweige des Ruhrgebiets geben. Und ich glaube, das ist gar nicht mehr wegzudenken. Und an ein Rückschrauben der Akademisierung – daran denkt, glaube ich, zu Recht niemand wirklich nach."

Autor: Armin Himmelrath
Regie: Beatrix Ackers
Ton: Inge Görgner
Redaktion: Carsten Burtke
Sprecher: Nina West und Max von Pufendorf

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