Deutschlands Eiskunst- und Eisschnellläufer

Krise statt Medaillen

Die Schlittschuhe eines Eisschnellläufers. Er steht damit auf dem Eis.
Eisschnelllauf hat die in Deutschland, in Ost wie West, eine große Tradition - steckt aber im Jahr 30 nach dem Mauerfall in der Krise. Beim Eiskunstlauf sieht es ähnlich aus. © picture alliance / dpa / Tobias Hase
Von Wolf-Sören Treusch |
Katarina Witt, Gunda Niemann-Stirnemann, Manfred Schnelldorfer - nur einige der Athleten, die für Deutschland Gold im Eiskunst- und Eisschnelllaufen holten. Inzwischen ist es um die beiden Sportarten sehr ruhig geworden. Man müht sich, die Krise zu überwinden.
Olympische Winterspiele 2018, Pyeongchang. Aljona Savchenko und Bruno Massot, die Deutsche aus der Ukraine und der Franzose mit dem deutschen Pass, laufen springen und schweben übers Eis. Von Platz vier nach dem Kurzprogramm der Paare zu Gold. Auch Franziska Schenk, ehemalige Weltmeisterin im Eisschnelllauf und seit 2002 ARD-Reporterin bei Olympia, ist in der Halle.
"Das war mein ’olympic moment’. Es war wirklich ein wahnsinnig ergreifender Moment, weil, ich glaube, alle, die dort zugeschaut haben, wussten, sie sind bei einem historischen Moment dabei. Diese Kür wird für die Ewigkeit sein, es war … ich vergleiche es ganz gerne mit einer Atmosphäre wie in einer Kirche. Ja, es wurde mal dezent applaudiert, wenn der Sprung gestanden wurde, aber im Vergleich zu sonstigen Darbietungen sehr zurückhaltend, es waren alle echt nur gebannt und wollten, dass das jetzt was wird für die beiden."
Olympische Winterspiele 2010, Vancouver. Halbfinale im Eisschnelllauf-Team-Wettbewerb der Frauen: Die Deutsche Mannschaft liegt vorn, doch 50 Meter vor der Ziellinie stürzt Anni Friesinger-Postma. Wie eine Brustschwimmerin rutscht sie ins Ziel. Die Niederländischen Reporter sind begeistert.
"Sie denkt, dass sie verloren hat. Nun sieht sie es. – Was für ein Finish. – Nun sieht sie es. Dass es reicht. Wie eine Ertrinkende, die auf eine Insel gespült wurde, liegt sie da."
Das deutsche Team gewinnt hauchdünn, später auch das Finale und wird Olympiasieger. Die Goldmedaille von Vancouver ist die letzte Medaille, die die Deutsche Eisschnelllauf-Gemeinschaft bei Olympia erringt. Seit 2010 herrscht Flaute.
Franziska Schenk: "Wenn man sich die letzten olympischen Spiele anschaut in Pyeongchang, dann muss man sagen: Das war verheerend mit Lichtblicken. Ich würde es mal so formulieren. Natürlich hat der deutsche Eisschnelllauf ganz andere Zeiten erlebt, die sind allerdings jetzt schon so lange her, dass sich kaum noch einer dran erinnern wird, es kann jetzt eigentlich nur noch wieder aufwärts gehen."
Eisschnelllauf und Eiskunstlauf: zwei Sportarten, die in Deutschland, in Ost wie West, eine große Tradition haben. Die aber im Jahr 30 nach dem Mauerfall in der Krise stecken.
Trotz des Olympiasiegs von Savchenko/Massot entwickelt sich der Eiskunstlauf immer mehr zum Nischensport. An den Deutschen Meisterschaften im Dezember 2018 nahmen sieben Damen, fünf Herren, drei Eistanzpaare und zwei Paare teil. Erfolg versprechende Talente sind die Ausnahme. Die wenigen Paare, die es gibt, trainieren in Berlin.

Überall noch Baustellen

Knut Schubert, selbst erfolgreicher Paarläufer in der DDR, trainiert Annika Hocke und Ruben Blommaert. Das Paar belegte bei Olympia in Pyeongchang den 16. Platz. Um die Leerstelle von Savchenko/Massot, die zurzeit pausieren und nicht wissen, ob sie noch einmal Wettkämpfe bestreiten wollen, ausfüllen zu können, fehlt dem jungen Paar noch viel. Vor allem an den Hebefiguren arbeitet der Trainer mit den beiden.
"Es ist ja auch wie Gewichtheben in dem Sinne. Der Junge muss richtig drunter, und wenn er das Gewicht von dem Mädel hat, kann er sie auch gerade nach oben drücken, Physik ist dette."
"Ja, zur Topspitze ist immer noch viel Luft …",
zeigt sich die 18-jährige Schülerin Annika Hocke selbstkritisch, aber auch lernbegierig.
"Man kann in allen Bereichen noch was besser machen. Man kann an der Ausführung der Elemente arbeiten, die man hat, das Läuferische, das Zusammenlaufen auf jeden Fall verbessern. Da wir ja auch noch nicht so lange zusammen laufen, ist das auf jeden Fall ein Punkt, an dem man immer arbeiten kann, und ja, auch die Schwierigkeitsgrade kann man erhöhen, sowohl in den Sprüngen als auch in den Würfen und in den Hebungen. Also: Es gibt überall noch Baustellen, und es ist auch gut so."
Auch das zweite deutsche Paar, Minerva Fabienne Hase und Nolan Seegert, die aktuellen deutschen Meister, trainieren in der Halle in Berlin. Sie üben den dreifachen Twist Lift, ein spektakuläres Wurfelement. Ihr Trainer Rico Rex filmt den Versuch mit dem Smartphone. Anschließend schauen sich die drei das Video an der Bande gemeinsam an.
Rico Rex: "Ganz kleines bisschen zu früh, ne?
Nolan Seegert: "Was mich eigentlich stört, ist, dass die Flugkurve so über mich rüber fliegt, und dadurch landet sie ein Stück zu weit unten."
Eineinhalb Stunden dauert das Training. Vier Paare gleichzeitig sind auf dem Eis, deshalb auch die häufigen Musikwechsel. Jedes Paar will nach seiner Kürmusik trainieren. Die Eishalle im Berliner Sportforum Höhenschönhausen ist offiziell das neue deutsche Paarlaufzentrum. Aber auch Sportler aus anderen Nationen trainieren hier. Die Herausforderung, neudeutsch challenge, ist gewollt, sagt Rico Rex.
"Das Problem ist ja immer so ein bisschen, dass jeder so für sich selber irgendwie dann versucht, das Beste rauszuholen, aber es fehlt dann vielleicht im Endeffekt ein bissel auch an der Dynamik. So dieses gegenseitige sich Dahinpushen war halt bis jetzt schlecht möglich. Also da gab es einen Standort und ein Paarlaufpaar vielleicht, und das war halt schwierig."

Konkurrenzdruck in der Umkleidekabine zu spüren

Minerva Hase: "Ja, man schaut schon mal rüber, aber …"
Die 19-jährige Minerva Hase macht im Frühjahr ihr Abitur. Sie findet es in Ordnung, sich mit den anderen das Eis zu teilen. Sagt sie zumindest.
"Aber wir sind so auf uns fokussiert, wir laufen selber uns für das Programm ein, man bekommt dann mal mit, so, die sind jetzt stehen geblieben, hingefallen, aber es stört uns nicht mehr so wie vielleicht mich jetzt am Anfang, wo sie angefangen haben oder so. Sie sind jetzt unsere Eispartner, und man gewöhnt sich auch daran. Dass man halt immer seine Deutschland-Konkurrenten direkt neben sich hat."
Aufgrund der Erfolge von Savchenko/Massot verfügt die Deutsche Eislauf-Union bei internationalen Wettkämpfen im Paarlauf zurzeit noch über zwei Startplätze. Bleiben gute Ergebnisse aus, wird es nur noch einen geben. Der Konkurrenzdruck wird dann größer. Er ist jetzt schon bis in die Umkleidekabine zu spüren, bestätigt der 26-jährige Nolan Seegert, Sportsoldat bei der Bundeswehr und Paarlaufpartner von Minnie Hase.
"Ja, man merkt es. Die Spannung ist da. Die Atmosphäre wird angespannter. Alle sind ein bisschen ruhiger, bisschen in sich gekehrter, vielleicht auch ein bisschen grimmiger."
Romy Österreich: "Aber insgesamt, wenn Sie mich fragen, wo Eiskunstlaufen so im deutschen Bewusstsein ist, da sind wir leider trotz des Olympiasiegs immer noch nicht ganz da, und die Menschen erwarten natürlich immer Medaillen und immer perfekte Leistungen, und die messen uns jetzt an dem Olympiasieg."
Romy Österreich gewann in den 1970er Jahren unter ihrem Mädchennamen Kermer mit ihrem späteren Ehemann Rolf Österreich Silber bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften für die DDR. Hinter dem damals überragenden Paar Rodnina/Saizew aus der Sowjetunion. Heute arbeitet sie für den Berliner Eissportverband und gehört ebenfalls zum Trainerteam von Hase/Seegert. Sie erkennt noch viel Potenzial in ihrem Eislauf-Paar – für die Olympischen Winterspiele 2026.
Eiskunstlauftrainerin Romy Österreich steht in einer Eiskunstlaufhalle, im Hintergrund läuft ein Mädchen Schlittschuh.
Eiskunstlauftrainerin Romy Österreich© Wolf-Sören Treusch
"Mein Paar läuft jetzt vier Jahre zusammen, man braucht im Paarlaufen acht, zehn Jahre, eh man sagen kann: Man ist auf dem Niveau und hat das so verinnerlicht, dass man dann es auch wirklich wie im Schlaf machen kann. Diese Zeit muss man uns auch geben und muss anerkennen, dass wir hart arbeiten. Das reicht schon."
Ein paar Meter weiter im Sportforum befindet sich die Eisschnelllaufhalle. Auch hier arbeitet man hart – für bessere Zeiten. Bundestrainer Erik Bouwman hat die sechs besten Juniorinnen und Junioren zum Lehrgang für den Team-Wettbewerb geladen. In dem gemächlichen Tempo, in dem sie übers Eis gleiten, wirken die jungen Skater wie ein Sinnbild für die Krise im deutschen Eisschnelllauf.
"Na, das ist jetzt nur Aufwärmen, da kann man noch nicht so viel sagen, in 20 Minuten, wenn es wirklich ein bisschen auf Wettkampfgeschwindigkeit geht, dann kann man mehr sagen."
Wo in der Vergangenheit Erhard Keller und Uwe-Jens Mey, Karin Enke und Christa Rothenburger, Anni Friesinger und Gunda Niemann zuverlässig olympisches Gold holten, laufen die aktuellen deutschen Top-Athleten der Weltspitze hinterher. Seit bald einem Jahrzehnt klafft eine riesige Lücke. Es fehlt der Nachwuchs, bestätigt die frühere Eisschnelllauf-Weltmeisterin Franziska Schenk. Aber nicht nur der.
"Das Problem des deutschen Eisschnelllauf ist: Es fehlen schon sehr lange die Vorbilder. Jeder Jugendliche braucht ein Vorbild, den er im Optimalfall im Fernsehen bewundert und sagt: ’So wie die Skispringer möchte ich auch werden’, ‚So wie die Biathleten möchte ich auch werden’, So wie die Rodler …’, das können wir jetzt endlos fortsetzen. Das gibt es im Eisschnelllauf jetzt schon sehr lange nicht, und dadurch ist aus einem normalen kleinen Loch hinter erfolgreichen Athleten ein sehr großes Loch geworden, was im Laufe der Zeit immer schwieriger zu stopfen war."
So ist die fünffache Goldmedaillengewinnerin Claudia Pechstein auf der Mittel- und Langstrecke der Frauen noch immer die Schnellste in Deutschland. Mit fast 47 ein Phänomen, aber eigentlich auch jenseits aller seriösen Zukunftsstrategien für den Leistungssport. 17 Jahre jünger, und damit im besten Athletenalter, ist Bente Pflug.
"Natürlich, ich bin ganz ehrlich: Leistungssport ist ein knallhartes Geschäft, und das habe auch ich seit klein auf immer zu spüren bekommen, und ja: Ich habe diesen Leistungsnachweis nicht erfüllt in den Rennen, wo man es von mir gefordert hat."

Verband kompromisslos

Lange Zeit galt Bente Pflug als logische Nachfolgerin von Claudia Pechstein. 2017 verletzte sie sich aber schwer, verpasste deshalb Olympia. In dieser Saison kämpfte sich Pflug zurück, verfehlte aber knapp die geforderte Leistungsnorm. Bundestrainer Erik Bouwman rief sie noch am selben Abend an und teilte ihr mit: Aufgrund des fehlenden Leistungsnachweises werde die Deutsche Eisschnelllauf-Gemeinschaft sie nun aus dem Perspektivkader streichen und ihre Spitzensportförderung bei der Bundeswehr nicht mehr verlängern.
"Und dann war das Telefonat beendet, und dann sitzt man Sonntagabend als fast 30-jährige Athletin - ja, ich bin kein kleines Kind mehr, aber trotzdem jemand, der seinen Sport seit 23 Jahren mit Leib und Seele ausgeführt hat - und dann sitzt du da und wirst allein gelassen mit zwei Fakten, die für dich eigentlich alles zerstören können. Oder alles kaputt machen. Natürlich: Ich verstehe auch sie, sie haben von oben Druck und müssen neue Sachen auf den Weg bringen, aber das ist das Problem. Seit fünf Jahren, sage ich jetzt einfach mal knallhart, versuchen wir, seit Olympia 2014, Sachen auf den Weg zu bringen. Und wir schaffen es einfach nicht. Klingt hart, aber man hatte jedes Jahr die Unsicherheit, dass man nicht wusste: Wie geht es jetzt eigentlich im April weiter."
Gern hätte sie individuell, mit ihrem Heimtrainer weiter gemacht. Aber auch hier zeigte sich der Verband kompromisslos. Spitzensportförderung nur, wenn sie sich vollständig ins Trainings- und Lehrgangssystem des Verbandes integrieren würde. Dazu war Bente Pflug nicht bereit. Vor wenigen Tagen hat sie ihre Karriere beendet.
In prominenteren Fällen macht der Verband allerdings Ausnahmen. Claudia Pechstein, Nico Ihle und Patrick Beckert gehen, zum Teil schon seit Jahren, eigene Wege. Die so genannten Insellösungen seien jedoch ein Auslaufmodell, versichert der Sportdirektor der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft, Matthias Kulik.
"Für diese Sportler, wo wir wissen und davon ausgehen, dass sie internationale Erfolge erzielen mit ihrem individuellen Weg, da gehen wir mit und sind auch zu Kompromissen oder eben individuellen Lösungen bereit, allerdings ist es definitiv so, dass wir für die anderen Sportler ein zentrales Trainingssystem, gesteuert über die Bundestrainer, forcieren wollen, weil wir nur da überzeugt sind, dass der Weg erfolgversprechend ist."
Porträtfoto von Matthias Kulik, Sportdirektor der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft DESG
Matthias Kulik, Sportdirektor der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft DESG© Wolf-Sören Treusch
Mehr als die eine oder andere internationale Top-Ten-Platzierung sprang für die deutschen Spitzenläufer zuletzt allerdings nicht heraus. Der Verband will deshalb endlich wieder eine richtige Nationalmannschaft aufbauen, damit die Sportler in der Leistungsspitze voneinander profitieren. Wird auch höchste Zeit, meint Franziska Schenk, 1997 Weltmeisterin im Sprint-Vierkampf:
"Eisschnelllauf ist zwar ’ne Einzelsportart, aber man braucht ein Team, um wirklich erfolgreich sein zu können. Natürlich sind diese Insellösungen nicht optimal, aber die sind ja auch nicht freiwillig gewählt. Es gibt einfach zu wenig wirklich richtig gute Athleten, die zusammen in einem Team trainieren könnten. Als wir noch in Erfurt sehr viele Erfolge gefeiert haben, waren wir auch deswegen erfolgreich, weil wir schon innerhalb der Trainingsgruppe so viele gute Weltklasseathleten hatten, dass wir natürlich ganz andere Geschwindigkeiten, ganz andere Umfänge, uns gegenseitig pushen konnten. Wir konnten einfach viel besser trainieren auf einem viel höheren Niveau als es die Athleten heute können."
Petra Müller: "Leistungssport ist in Deutschland auch ganz schwierig geworden, weil einfach die Menschen nicht mehr leistungssportbereit sind."
Petra Müller, in ihrer Jugend selbst Eisschnellläuferin, heute Funktionärin im Berliner Turn- und Sportclub TSC, wundert sich nicht, dass es gerade im Nachwuchsbereich an Eiskunstlauf- und Eisschnelllauftalenten mangelt.
"Wir sind 'ne Waldorf- und Montessori-Gesellschaft geworden, es ist ganz schwer, Eltern auch zu motivieren, dass die Kinder wirklich Leistungssport machen. Diese Bereitschaft ist von vielen nicht mehr so da, einfach über Grenzen auch mal zu gehen und nicht immer ‚hach, du kannst gerne machen, was du möchtest’ und ‚heute um 9 aufstehen und morgen erst um 10’ - nee, hier: ‚Termine, und so und so’. Das ist einfach nicht mehr so."
Es gibt viele Gründe, weshalb die Eltern ihre Kinder vom Leistungssport fernhalten. Auch die Diskussionen ums Doping und die korrupten Machenschaften im Sport spielen eine Rolle. Manche Gründe sind allerdings auch hausgemacht. Findet Eiskunstlauftrainerin Romy Österreich. Während die Eismaschine das Eis für die nächste Übungseinheit aufbereitet, erzählt die Trainerin, woran es ihrer Meinung nach im Nachwuchsbereich hapert.
"Wir haben zwar so ’ne Sportschule, aber gerade die Klassen zwischen 5 und 8, die gehen sehr viele Stunden zur Schule und können dann nur nebenbei trainieren. Das sind aber bei uns die Jahre, wo es wichtig ist; wo man eigentlich sehr viel trainieren müsste; wo die Schule eigentlich ein bisschen zurückstecken müsste. Dann kann man das im Nachgang wieder aufholen."

Victoria Stirnemann: flinker als die Mutter

Eiskunstlauf ist sehr trainingsintensiv. Wer bis 16 Uhr Unterricht hat, ist zu platt für Pirouetten. Da die Schule die jungen Sportler nicht ausreichend unterstützt, gehen immer wieder Talente verloren, kritisiert Romy Österreich.
"Brauchen die aber, Paarläufer zum Beispiel, das Junior-Paar, sie geht in die neunte Klasse, er macht jetzt sein Abitur. Und die müssen wir aber so beschulen, dass die sich zum Training treffen können. Sie können mir glauben, wie schwer das ist, das überhaupt zu organisieren, und das kostet Geld, weil wir dann extra Lehrer brauchen, und und und."
Nebenan in der Eisschnelllaufhalle ist die Aufwärmphase vorbei. Jetzt erreichen die Athleten Wettkampfgeschwindigkeit. Bundestrainer Erik Bouwman bereitet Deutschlands Nachwuchs auf den Team-Wettbewerb bei der bevorstehenden Junioren-Weltmeisterschaft vor. Erstmals seit Langem verfügt die Deutsche Eisschnelllauf-Gemeinschaft über eine Gruppe junger Athleten, die hoffen lässt, dass wieder bessere Zeiten kommen. Findet Franziska Schenk:
"Wenn man nach Erfurt schaut oder nach Inzell, da sind jetzt wieder junge Sportler, die motiviert sind, die gut sind, und wenn man das schafft, die durchaus ansprechenden Leistungen, die da jetzt gezeigt werden in den Seniorenbereich rüber zu bringen, dann, kann ich mir vorstellen, ist die Talsohle durchschritten."
Als größtes Talent gilt die 16-jährige Victoria Stirnemann, Tochter der dreifachen Olympiasiegerin und Eisschnelllauf-Legende aus Erfurt, Gunda Niemann-Stirnemann.
"Eigentlich wollten meine Eltern das gar nicht, dass ich das mache, aber dann war meine Mama beim Training und mein Papa und ich haben sie zusammen abgeholt, und zu der Zeit waren ganz viele kleine Kinder auf dem Eis, und ich habe die gesehen und habe dann gefragt, warum ich das denn nicht darf. Und dann konnten sie mich nicht mehr aufhalten."
Mit fünf entdeckte Victoria das Kufenflitzen für sich. Auf dem Eis ist die 16-Jährige mittlerweile schon flinker unterwegs als ihre berühmte Mutter damals.
"Ähm ja, (lacht) ich habe jetzt die 500 und 1.000 Meter, glaube ich, bin ich jetzt schneller als sie. Aber das waren natürlich nicht die Strecken, die sie konnte. Also das muss man dazu sagen. Bei den 3.000, 1.500 und 5.000, da fehlen noch Welten, aber ist schon was Schönes."
Der Vergleich mit ihrer Mutter wird sie in den kommenden Jahren weiter begleiten. Unter Druck gesetzt fühlt sich Victoria dadurch allerdings nicht.
"Es ist natürlich was Schönes zu wissen, dass sie die Erfolgreichste von allen war, und natürlich möchte man sich mit den Besten messen, und dann ist das schon was Schönes, sie zu Hause zu haben. Ja, und niemand weiß besser als sie wie es ist, an der Weltspitze zu sein und wie man dahin kommt. Und da ist es schon, ich denke, ein Vorteil, so jemanden zu Hause zu haben."
Nach einer Stunde ist das erste Team-Training in diesem Winter für die Junioren-Nationalmannschaft vorbei. Die Wechsel mit ihren beiden Mitstreiterinnen aus Inzell haben ganz gut geklappt, erzählt Victoria und lacht. Sie lacht überhaupt sehr viel. Man mag es ihr glauben, dass die großartige Karriere ihrer Mutter sie eher anspornt als belastet. Zumal sie nicht nur ihr Vorbild ist, sie ist auch ihre Heimtrainerin.
"Ich möchte weiter bei ihr trainieren, sie ist meine Trainerin, und ich möchte schon, dass sie mich weiterführt. Erstmal die nächsten Jahre. Ja."
Gunda Niemann-Stirnemann ist bei Lehrgängen wie jetzt in Berlin auch dabei. Jedes Mal, wenn der Bundestrainer den drei Juniorinnen etwas erklärt, stellt sie sich dazu. DESG-Sportdirektor Matthias Kulik hofft, ihre Tochter vollständig ins Trainings- und Lehrgangssystem des Verbandes integrieren zu können. Formuliert das allerdings vorsichtig und umständlich.
"Victoria Stirnemann ist eines unserer Talente, definitiv, befindet sich momentan an ihrem Stützpunkt in der Trainingsgruppe ihrer Mutter. Nur das ist in der Karriere eines Leistungssportlers sehr normal, dass eben bei einem Übergang in den Spitzenbereich Trainerwechsel verbunden sind, und eben aber diese auch sehr erfolgreich gestaltet werden könnten."

Negativ-Schlagzeilen nach Olympia 2018

Der Sportdirektor weiß genau: Die Deutsche Eisschnelllauf-Gemeinschaft steckt in einem Dilemma. Sollte Familie Niemann-Stirnemann ihren eigenen Weg gehen wollen, wie beispielsweise Claudia Pechstein, hat der Verband das Nachsehen.
Noch ist es allerdings nicht soweit. Noch wird Victoria, die soeben eine Ausbildung bei der Bundespolizei begonnen hat, sehr viel lernen können von ihrer Mutter. – Und Olympia?
"Ja, natürlich ist das ein Riesentraum. Das ist bei jedem Leistungssportler so, glaube ich."
Nach den Olympischen Spielen von Pyeongchang 2018 machten Negativ-Schlagzeilen die Runde: "Chaostage im deutschen Eisschnelllauf" hieß es oder "Eisschnellläufer müssen sich neu erfinden". Das Schlimmste scheint überwunden, die Talente im Nachwuchsbereich geben Anlass zur Hoffnung. Nur: Wie viel Geld steht dem Verband in Zukunft zur Verfügung?
Schon in den vergangenen Jahren war es schwierig mit dem Budget. Jetzt, mit der Spitzensportreform im Nacken wird es noch schwieriger. Im Ranking des Potenzial-Analyse-Systems PotAs für die sieben Wintersportverbände steht die Deutsche Eisschnelllauf-Gemeinschaft auf Platz 6. Einen Platz davor die Deutsche Eislauf-Union. Hinter den beiden nur der Deutsche Curling-Verband.
Je schlechter die Platzierung desto weniger Geld aus dem Bundesinnenministerium. Je geringer die finanziellen Möglichkeiten, Talente zu entwickeln und Top-Athleten zu fördern, desto weniger Erfolge. Für Deutschlands Kufensportler im Eiskunstlauf und Eisschnelllauf bleibt es kompliziert.

Fürs Synchroneislaufen zahlen die Athlethen selbst

Ansage: "Das nächste Team auf dem Eis: aus Berlin, Team Berlin I."
Beim Synchroneiskunstlaufen muss man sich über Potenzial-Analyse-Systeme und staatliche Fördergelder keine Gedanken machen. Hier bezahlen die Athletinnen und Athleten alles aus eigener Tasche: beim Deutschen Meister, Team Berlin I vom Berliner TSC, 350 Euro pro Person pro Monat.
Synchroneiskunstlaufen, das ist eine Mischung aus Paarlauf und Eistanz, aber in Mannschaftsgröße. 16 Sportler stellen ein Team, vor allem Frauen, aber auch einzelne Männer sind dabei. So wie Patrick Stein, Mannschaftsführer beim Team Berlin I, von Beruf Arzt.
"Ja, als Mann denke ich so, den Frauenhaufen zusammenzuhalten und da auch so ein bisschen die Zickereien unterbinden, und dann natürlich Ansagen zu machen, zu sagen: ‚Mädels, so und so sieht es aus, habt ihr gut gemacht’, oder auch so ein bisschen das Bindeglied zwischen Trainer und dem Team zu sein."
Wie beim Paarlauf gibt es auch beim Synchroneiskunstlaufen einzelne Hebefiguren. Sprünge und Wurfelemente dagegen sind selten. Spur halten ist wichtig.
"Spur halten ist wichtig. Genau. Wir üben natürlich im Training tagtäglich dieselben Sachen, und wenn dann auf einmal einer im Wettkampf denkt, er müsste jetzt noch mal fünf Prozent extra geben und läuft dann auch fünf Meter weiter, dann denkt sich der Nebenmann ‚huch, wo ist der denn auf einmal, ich kann ihn ja gar nicht mehr anfassen’."
Drei Stunden täglich trainiert das Team, fünf Mal die Woche. Synchroneiskunstlaufen auf diesem Niveau ist also nicht nur ein Kosten-, sondern auch ein zeitintensives Hobby.
"Das ist schon Leistungssport, was wir hier betreiben. Früher war das vielleicht noch so, dass man gesagt hat ‚okay, jetzt kommen hier wieder die Haufenläufer’, so wurde es leider bezeichnet. Dementsprechend war natürlich auch der Status vom Synchroneiskunstlaufen, aber jetzt sieht man ja, wie anspruchsvoll das wird. Da heben Mädchen andere Mädchen, da machen Mädchen mit Mädchen Todesspiralen, da müssen Standspagate gemacht werden, also das ist technisch und sportlich anspruchsvoll, und dementsprechend hat sich auch der Status des Synchroneiskunstlaufens gewandelt hin zum Leistungssport."
Team Berlin I hat soeben erneut den deutschen Meistertitel gewonnen – zum 24. Mal in Folge. Die beiden Konkurrenten aus Chemnitz und Stuttgart waren chancenlos. International als Team Germany ist es für die Berliner dagegen schwer, unter die besten zehn zu kommen. Insofern verbindet das Synchroneiskunstlaufen doch etwas mit Eiskunstlauf und Eisschnelllauf.
Mehr zum Thema