Deutschlands längster Fluss

Vom "teutschen Rhein" zum Strom in der Mitte Europas

Blick vom Drachenfels, Siebengebirge, auf ein Containerschiff.
Blick vom Drachenfels, Siebengebirge, auf ein Containerschiff. © imago / Jochen Tack
Von Imogen Rhia Herrad |
Insgesamt 1.233 Kilometern lang durchfließt der Rhein fünf verschiedene Staaten. Einst ist der Rhein ins Mittelmeer geflossen. Das liegt mehrere Millionen Jahre zurück. Mit Geschichte und Geschichten ist der Rhein reich gesegnet.
"Ich finde ihn, wenn man am Ufer steht und ihn betrachtet, sehr entspannend. Das ist der erste Eindruck, den ich immer vom Rhein habe: Also ein großer Fluss, der auf mich immer eine entspannende und beruhigende Wirkung hat. Ich hab ihn nie aufgefasst als Grenze oder Trennlinie, sondern eher so emotional. Eben etwas, was einen entspannt und beruhigt."
Die Kunsthistorikerin Katharina Chrubasik ist Leiterin einer neuen Ausstellung über den Rhein in der Bundeskunsthalle in Bonn. Wir sitzen an einem heißen Sommertag in ihrem Büro am offenen Fenster. Wenn man sich etwas den Hals verrenkt, kann man von hier aus jenseits einer stark befahrenen Straße den Star der Ausstellung, den Rhein selbst, sehen.
Katharina Chrubasik: "Ja, es ist eine fließende Bewegung. Manchmal ist er natürlich auch heftig, aber meistens fließt er relativ entspannt, auch hier in Bonn und das wirkt auf einen. Es überträgt sich auf einen."

Der Rhein durchfließt fünf Staaten

Er ist ein entspannter Fluss, ein entspannender Fluss, der breite, grünbraune Rhein. Große Lastschiffe fahren gemächlich auf ihm auf und ab. In Köln sehe ich nicht selten mitten in der Stadt am grünen Deutzer Ufer Schafe am Rhein grasen, die dort im Auftrag der Stadt umweltfreundliche Uferpflege betreiben. Welcher andere großstädtische Fluss hat eigene Schafe?
Auf seinen insgesamt 1.233 Kilometern Länge durchfließt der Rhein fünf verschiedene Staaten. Er entspringt in den Schweizer Alpen: Auf 376 Kilometern ist der junge Rhein schweizerisch. Es folgt das Fürstentum Liechtenstein, dann 180 Kilometer mit Deutschland zur rechten und Frankreich zur linken Seite. Fast zwei Drittel seines Verlaufs fließt der Rhein durch oder an Deutschland vorbei. Die letzten 160 Kilometer liegen in den Niederlanden, wo er in mehrere Arme aufgespalten schließlich nordwestlich von Rotterdam in die Nordsee mündet. Einst ist der Rhein ins Mittelmeer geflossen. Das war allerdings im geologischen Zeitalter des Tertiärs und liegt mehrere Millionen Jahre zurück. Immerhin – auch Flussläufe sind nicht für die Ewigkeit. Mit Geschichte und Geschichten ist der Rhein reich gesegnet, erzählt Katharina Chrubasik.
"Der Rhein ist wirklich einer der Flüsse, die mit so vielen Legenden und Geschichten und Märchen belegt ist wie kaum ein anderer. Das ist übrigens eine sehr deutsche Geschichte. Wir haben versucht zu schauen, wie sieht’s denn bei den Franzosen aus oder bei den Holländern mit Märchen und Geschichten? Nicht so viele, das ist wirklich eine deutsche Spezialität."

Vater der Nymphen und der Bäche

Bereits die Römer verehrten den Rhein als Flussgott. Der römische Dichter Martial sprach ihn an als "Vater der Nymphen und der Bäche!".
Seitdem ist dem Vater Rhein so viel angedichtet worden, dass knapp zwei Jahrtausende später der dadaistische Künstler Kurt Schwitters spöttelnd anmerkte:
Zitator: "Eigentlich ist der Vater Rhein gar kein Vater, sondern ein Fluss. Auf dem Rückgrad dieses Vaters, oder längs seiner Bauchlinie, wenn Sie wollen, da fahren Dampfer, die nennt man Rheindampfer."
Ein Rheindampfer mit Schaufelradantrieb verkehrt auch heute noch auf dem Rücken oder dem Bauch des Rheins, je nachdem. Oder vielmehr ein Schaufelradschiff, das inzwischen allerdings mit einem zeitgemäßeren Dieselantrieb unterwegs ist.

Loreley ist eine romantische Erfindung

Ich bin zu Schiff unterwegs, um die berühmteste aller Rhein-Legenden zu erleben. Rechts und links erheben sich schroffe Berge, dunkel bewaldet oder mit grün-goldenen Rebstöcken bepflanzt. Und natürlich mit wunderbar romantischen Burgruinen. Am Himmel ziehen große graue Wolken. Aus dem Wald steigen Nebelschwaden empor; an einer schroffen Felsspitze hängt ein Wolkenfetzen wie der Atem eines schlafenden Drachen. Gleich fange ich auch an, Märchen zu schreiben, so schön ist es hier. Dann räuspert sich der Bord-Lautsprecher und verkündet, dass wir uns dem weltberühmten Loreley-Felsen nähern. Die Mitglieder der französischen und der chinesischen Reisegruppe an Bord zücken Handys, Tablets und Kameras und gehen in Hab-Acht-Stellung. Der Dampfer umschifft eine Biegung. Vor uns erhebt sich eine hohe, schroffe Felswand. Niemand sitzt oben und singt. Aber das macht nichts, denn für Gesang wird hier unten gesorgt.
"Ein Märchen aus uralten Zeiten..." Ja, das will man gerne glauben. Sollte man aber nicht. Denn die Loreley ist eine romantische Erfindung, wie die Kulturwissenschaftlerin Gertrude Cepl-Kaufmann von der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf weiß:
"An dieser Stelle nämlich waren die Schieferfelsen in der Strömung so gefährlich, dass dort eine Menge Schiffe gekentert sind. Und ganz klar, es musste jemand dafür herhalten. So entstand faktisch der Mythos von der Loreley, die dort oben die Schiffer ablenkt und somit in ihren Untergang treibt. Insofern ist das eine typisch romantische Umdeutung, denn dieser Berg war schon mit Sagen belegt, also Gnomen, Zwerge, die in diesem Berg lebten. Die waren für die vorbeifahrenden Schiffer deshalb sichtbar, weil sie in einem Hanselmannloch hausten. Aber diese Drohung war doch sehr unkonkret. Die Hanselmänner sah man nicht."

Die "Femme fatale" des Rheins

Gnome und Hanselmänner sind auf ihre Art sicher auch schön, aber nicht so schön wie eine übernatürliche "Femme fatale". So ähnlich muss Clemens Brentano gedacht haben, einer der Gründer der deutschen Romantik, als er im Jahr 1801 eine Fußtour am Rhein unternahm. Er dichtete:
"Zu Bacharach am Rheine
wohnt’ eine Zauberin,
die war so schön und feine,
und riss viel Herzen hin.
Und machte viel zuschanden
der Männer rings umher,
aus ihren Liebesbanden
war keine Rettung mehr..."
"Ley" ist eine Bezeichnung für einen Schieferfelsen. Eine mittelalterliche Handschrift gibt auch einen "Lurlaberch", einen Lurla-Berg her und der Felsen war bekannt für sein Echo. Eine schöne Zauberin sucht man in den lokalen Erzählungen allerdings vergeblich. Aber die Loreley war so gut erfunden, dass sie zum Superstar wurde. Unzählige Dichter besangen sie, am berühmtesten von allen sicherlich Heinrich Heine. Noch mehr als der Vater Rhein sollte von nun an die goldhaarige Sängerin die Rheinromantik verkörpern. Die Schönheit des Rheins, aber auch zunehmend seinen quintessentiell deutschen Charakter: die Schwermut, die Romantik, das Mythische. Der Rhein mutierte immer mehr zum nationalen Fluss der Deutschen.
Blick in das Mittelrheintal von der Loreley
Blick in das Mittelrheintal von der Loreley© AP Archiv

Wehmut und französische Herrschaft

Zitator: "Nirgends werden die Erinnerungen an das, was die Deutschen einst waren und was sie sein könnten, so wach, als am Rheine. Der Anblick dieses königlichen Stromes muss jedes deutsche Herz mit Wehmut erfüllen. Er ist das nur zu treue Bild unseres Vaterlandes, unserer Geschichte und unseres Charakters."
So elegisch schrieb im Jahr 1802 der Autor und Denker Friedrich Schlegel. Seine Wehmut hatte handfeste politische Gründe: Bereits seit 1792, also seit zehn Jahren, befand sich das linke Rheinufer unter der Herrschaft des revolutionären Frankreichs. Seit 1797 war es in vier Départements aufgeteilt. Noch bis 1814 sollte der Linksrhein von Trier bis Aachen französisch bleiben. Napoleon, der unerhört erfolgreiche General der Revolutionsarmee, schlug vernichtend alle Heere, die sich ihm in den Weg stellten. Nachdem er sich 1804 zum Kaiser erklärt hatte, paktierten nun auch auf der rechten Rheinseite nicht wenige deutsche Fürsten mit ihm. Grund genug also zur Wehmut für deutsche Patrioten. Allerdings betonten die Franzosen, dass sie die linksrheinischen Gebiete nicht einfach nur mit dem Recht des Stärkeren hielten. Anfang 1793 hatte der Revolutionär Georges Danton verkündet:
Zitator: "Frankreichs Grenzen werden von der Natur gezogen. Wir werden sie an ihren vier Endpunkten erreichen: dem Meer, dem Rhein, den Alpen und den Pyrenäen."

Wasserstraße im Mittelalter

Der Rhein war das Mittelalter hindurch vor allem eine Wasserstraße gewesen. Feste Landesgrenzen im modernen Sinne gab es nicht. Im 17. Jahrhundert hatte es vor allem unter dem Sonnenkönig Ludwig XIV. Versuche gegeben, mit militärischen Mitteln linksrheinische Gebiete Frankreich einzuverleiben, erklärt Gertrude Cepl-Kaufmann von der Universität Düsseldorf.
"Und zwar mit dem pfälzischen Erbfolgekrieg. 1669 haben die Franzosen fast alle Rheinburgen niedergebrannt. Sie haben faktisch eine verletzte Landschaft zurückgelassen."

Neuer Erzfeind der Deutschen

Doch am Ende waren die französischen Soldaten wieder abgezogen. Das revolutionäre Frankreich ein Jahrhundert später ging programmatischer vor und vor allem: erfolgreicher. Über zwanzig Jahre blieb der Linksrhein französisch. Dagegen und gegen die Theorie von natürlichen, durch geografische Gegebenheiten vorgegebene Landesgrenzen protestierte man nun in Deutschland. Revolution, Annektion und Napoleon vermischten sich und wurden zu einem einzigen Gegner, zum neuen Erzfeind der Deutschen. Bei der Gelegenheit wurde zugleich auch die Idee von einem Deutschland als geeinter Staat geboren, das so ja noch gar nicht existierte. Große Durchschlagskraft hatte die programmatische Schrift von Ernst Moritz Arndt, die auf dem Höhepunkt der antinapoleonischen Kämpfe im Jahr 1813 erschien:
Zitator: "Der Rhein ist Deutschlands Strom, aber nicht Deutschlands Grenze."
Arndt schrieb darin von
"den Franzosen, welche unser Glück und unsere Ehre und Freiheit immer belauert haben"
und beschwerte sich über die Uneinsichtigkeit allzu vieler Deutscher auf der linken, heute französischen, Rheinseite, die ihr Unglück durchaus nicht als solches erkennen wollten:
"Dass viele Deutsche diese Naturgrenze auch ganz natürlich fanden und sie mit den Franzosen und für die Franzosen zu beweisen suchten, war ebenso schlecht als dumm."
Ernst Moritz Arndt stammte von der Insel Rügen und nicht etwa aus Trier, Mainz, Köln oder Aachen. Dennoch war für ihn der Rhein
"unser alter, herrlicher und heiliger Rheinstrom. Behalten die Franzosen den Rhein, so habe ich mein deutsches Vaterland verloren."

Vom deutschen Nationalsymbol zur internationalen Attraktion

So wurde der Rhein zum deutschen Nationalsymbol und das sollte er noch über ein Jahrhundert lang bleiben. Das hing vielleicht auch damit zusammen, dass er von der bloßen Wasserstraße, die er lange Jahrhunderte hindurch gewesen war, plötzlich zu einer internationalen Attraktion geworden war. Am 13. Juni 1816 berichtete die Kölnische Zeitung erstaunt:
Zitator: "Ein ziemlich großes Schiff, ohne Mast, Segel und Ruder kam am gestrigen Tag mit ungeheurer Schnelle den Rhein heraufgefahren. Die Ufer des Rheins und die hier vor Anker liegenden Schiffe waren in einem Augenblick von der herbeiströmenden Volksmenge bedeckt. Das die allgemeine Neugierde reizende Schiff war ein von London nach Frankfurt reisendes englisches Dampfboot."

Popstar der englischen Romantik

Die "Defiance" war kein Transportschiff, sondern beförderte Passagiere: englische Touristen, die unterwegs waren, um sich an der landschaftlichen Schönheit des Rheins zu erfreuen. Ganz England wollte plötzlich den Rhein sehen. Auch daran war ein Dichter schuld: Lord Byron, das "enfant terrible" der englischen Romantik. 1812 war sein Gedichtband "Junker Harolds Pilgerfahrt" erschienen und nach drei Tagen bereits ausverkauft. Der dichtende Edelmann wurde zum Popstar. Er war vierundzwanzig, leidenschaftlich, aristokratisch, gut aussehend und unterhielt skandalöse Liebschaften. Und er hatte den Rhein besungen.
"Doch du, o Fluss, mit überreichem Schimmer,
Glückspendend, wo nur deine Wogen gehen
durch Ufer, deren Schönheit währte immer,
dein süßes Tal zu schauen, hieße sehen
ein Himmelreich auf Erden..."
Die Grand Tour, die Reise zu kulturell bedeutenden Stätten auf dem europäischen Kontinent, war im 18. Jahrhundert für junge englische Adelige ein Muss gewesen. Im Zuge der Romantik wurde neben der Kultur auch die Landschaft zur Attraktion. Durch die Industrielle Revolution war in England ein wohlhabendes, aufstrebendes Großbürgertum entstanden, das es sich leisten konnte, dem Lebensstil der Aristokratie nachzueifern. Auch Kaufleute und Industrielle wollten nun reisen und im Rheintal ein Himmelreich auf Erden sehen.

Die ersten Dampfschiffe kamen aus England

1829 konnte die Kölner Handelskammer beglückt berichten, dass der Fremdenverkehr sich verzehnfacht und dadurch den Wohlstand der ganzen Provinz gehoben habe. Die Hälfte der Reisenden stammte aus England. Allerdings mussten sie inzwischen nicht mehr ihre eigenen Dampfschiffe mitbringen. Die gab es inzwischen nämlich auch vor Ort, erzählt Achim Schloemer, der Vorstand der Köln-Düsseldorfer Rheinschifffahrt:
"Damals waren es Kölner Kaufleute, die erste Dampfschiffe auf dem Rhein entdeckt haben. Das waren nicht Dampfschiffe aus der Region, sondern unter anderem aus England, die den Rhein bereist haben. Und damals kam man auf die Idee, dass man damit wohl den Handel beflügeln könne. Und die Idee war dann, eine Schiffsroute aufzubauen von Köln nach Mainz und damit wurden wir dann vor 190 Jahren mit unserem Kölner Zweig sozusagen gegründet."
Am 1. Mai 1827 verkehrte das erste Dampfschiff der "Preußisch-Rheinischen Dampfschifffahrtsgesellschaft” auf der Strecke Köln-Mainz. 1853 entstand die erweiterte "Köln-Düsseldorfer Rheindampfschifffahrtsgesellschaft”. Die neuen rheinischen Dampfschiffe transportierten zunächst hauptsächlich Waren, aber dann zunehmend auch Touristen, wie Achim Schloemer berichtet.
"Wir hatten damals, ich glaub es war um die vorletzte Jahrhundertwende, dann auch schon Gästezahlen auf dem Rhein, die lagen teilweise über der Größenordnung, die wir heute haben. Nämlich im Bereich von anderthalb bis zwei Millionen Gäste, die dann pro Jahr transportiert wurden."

Sehnsucht nach einem einigen deutschen Reich

Unterdessen waren neben den englischen auch die deutschen Dichter nichtuntätig geblieben. Eine wahre Flut von Rheingedichten ergoss sich über die Journale. Vor allem der Mittelrhein wurde unerbittlich besungen. Man sehnte ein einiges Deutschland herbei, aber Deutschland blieb weiterhin in viele einzelne König- und Fürstentümer zersplittert. So blickte man sehnsüchtig ins Mittelalter zurück und träumte von einem einstigen, einigen deutschen Reich. Das hatte es so nie gegeben, aber die romantisch verklärte Rückschau tröstete über die unbefriedigende Gegenwart hinweg, wie in diesem Gedicht des patriotischen Lyrikers Emanuel Geibel.
"Am Rhein, am grünen Rheine, da ist so mild die Nacht,
die Rebenhügel liegen in goldner Mondespracht.
Und an den Hügeln wandelt ein hoher Schatten her
mit Schwert und Purpurmantel, die Krone von Golde schwer.
Das ist der Karl, der Kaiser, der mit gewalt’ger Hand
vor vielen hundert Jahren geherrscht im deutschen Land.
Er ist heraufgestiegen zu Aachen aus der Gruft,
und segnet seine Reben und atmet Traubenduft.
Dann kehrt er heim nach Aachen und schläft in seiner Gruft
bis ihn im neuen Jahre erweckt der Traubenduft.
Wir aber füllen die Römer und trinken im goldenen Saft
uns deutsches Heldenfeuer, uns deutsche Heldenkraft."
Das Rheinufer bei Düsseldorf.
Das Rheinufer bei Düsseldorf. © Jan-Martin Altgeld
Karl der Große als geisterhafter Winzer, darüber kann man heute lächeln. Aber längst nicht alle Werke waren so harmlos. Als im Jahr 1840 Frankreich mit dem Säbel rasselte und erneut einen Anspruch auf den Rhein als Westgrenze anmeldete, da erhob sich ein wahrer Sturm empörter, chauvinistischer Gedichte.
"Sie sollen ihn nicht haben,
Den freien deutschen Rhein,
Ob sie wie gierige Raben
Sich heiser danach schrein."
Nikolaus Beckers "Der freie Rhein" erschien zunächst in der "Trierischen Zeitung", wurde dann aber in vielen anderen Journalen nachgedruckt und entwickelte sich zu einem ungeheuren Erfolg.
"Sie sollen ihn nicht haben,
Den freien deutschen Rhein,
Bis seine Flut begraben
Des letzten Manns Gebein!"
Der Literaturwissenschaftler Roland Ißler von der Universität Bonn hat sich mit der kulturellen Rhein-Fehde zwischen Frankreich und Deutschland im 19. Jahrhundert beschäftigt.

"Literarisch schlicht gehalten"

Roland Ißler: "Das ist natürlich literarisch relativ schlicht gehalten durch diesen Kehrvers ‚Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein‘, der immer wieder geschmettert werden kann und der dazu angeregt hat, offenbar auch das Lied zu vertonen. Es gibt über vierzig Vertonungen dieses Gassenhauers, sodass das Lied auch tatsächlich gesungen wurde und nicht nur als Gedicht populär wurde."
Sogar der Komponist Robert Schumann vertonte das Stück. Noch dreißig Jahre später erklärte der "Eiserne Kanzler" Bismarck, Nikolaus Beckers "Freier Rhein" gehöre
Zitator: "Zu den Imponderabilien, die den Erfolg unserer Einigkeitsbestrebungen vorbereitet und erleichtert haben."
Nicht alle Zeitgenossen waren so begeistert. Heinrich Heine ließ in "Deutschland, ein Wintermärchen” den Rhein selbst das Gedicht kommentieren:
"Zu Biberich hab’ ich Steine verschluckt,
Wahrhaftig, sie schmeckten nicht lecker!
Doch schwerer liegen im Magen mir
Die Verse von Niklas Becker..."

Kritik an Beckers Machwerk

Auch auf der anderen Rheinseite blieb Beckers Machwerk nicht unbeobachtet. Eine französische Übersetzung erschien, und es ergab sich so etwas wie ein dichterischer Schlagabtausch. Allerdings blieb der Ton in Frankreich im Großen und Ganzen eher gemäßigt. Und bemerkenswerter Weise, erzählt Roland Ißler, entstand in genau dieser Zeit auch ein ganz anderer, versöhnlicher politischer Entwurf.
Ißler: "Das ist eine interessante Entwicklung, dass gerade im 19. Jahrhundert, zur Zeit der größten Nationalisten, gleichzeitig natürlich auch die Anbahnung Europas stattfindet. Von Victor Hugo gibt es die Idee der ‚États Units de l’Europe‘, also die Vereinigten Staaten von Europa, die geschaffen werden sollen. Hugo hätte sich wahrscheinlich im Grabe umgedreht, wenn er gewusst hätte, was nach seinem Tode alles noch für kriegerische Auseinandersetzungen entstanden und ausgefochten werden mussten. Aber die Anbahnung, die Idee, der Gedanke Europa, der Gedanke, dass auch Deutschland und Frankreich ein Motor für die Einheit Europas sein könnten, der ist im Grunde schon alt und der entsteht genau in dieser Zeit."
1838 unternahm Victor Hugo eine Reise den Rhein entlang und schrieb darüber einen auch heute noch kurzweiligen und unterhaltsamen Reisebericht. Der Rhein erschien ihm als:
Zitator: "Ein edler, feudaler, republikanischer, kaiserlicher Fluss, dem es gebührt, zugleich Deutsch und Französisch zu sein. Die ganze Geschichte von Europa, unter ihren beiden Gesichtspunkten betrachtet, liegt in diesem Fluss der Krieger und der Denker, in dieser prächtigen Woge, die Frankreich toben, und in diesem tiefen Gemurmel, das Deutschland träumen lässt."

Mit der Fahrradpumpe Berge aufpusten

Doch erst über ein Jahrhundert und zwei verheerende Weltkriege später wurde Hugos Vision von einem geeinten Europa Wirklichkeit. Am Rhein, in der Aula der Universität Straßburg fand am 10. August 1949 die erste Tagung des neu gegründeten Europarates statt. Der Rhein ist längst nicht mehr der deutsche Rhein krakeelender Nationalisten, sondern ganz selbstverständlich ein Strom in der Mitte Europas.
Ich bin an seinen Ufern spazieren gegangen und mit der Eisenbahn an ihm entlangfahren. Aber am liebsten bin ich auf dem Rhein selbst unterwegs, mit dem Schiff, während Berge und Burgen, Häuser und Wolken gemächlich an mir vorüberziehen. Und wenn es allzu wildromantisch und pittoresk wird, dann vergnüge ich mich mit Kurt Schwitters’ sanftem Spott:
Zitator: "Von der neuen Zeit, die wir auch schon heute haben, merkt man am Rhein so arg viel nicht. Das kommt davon, dass alle Berge mit der Fahrradpumpe jeden Sommer einmal aufgepustet werden. Dann konservieren sich die Sagen gut. Alles ist sagenumwoben. Die einzelnen Spinnwebfäden sind oft meterdick. Donnerwetter!"
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