"Die Flüchtlingskrise zeigt die Grenzen der Macht"
In seinem Buch "German Power" beschreibt der britische Germanist und Journalist Hans Kundnani das "Paradox der deutschen Stärke": ökonomisch stark, aber ohne politische Führungskraft. Die Flüchtlingskrise sei der beste Beweis dafür, sagt Kundnani.
Hans Kundnani recherchierte und schrieb sein Buch "German Power", das 2016 auch auf Deutsch erscheint, noch vor der Ukraine- und vor der Flüchtlingskrise. Wie sieht er Deutschland heute? Wächst die Macht der Bundesrepublik? Ist Deutschland die Großmacht in der Mitte Europas, als die das Land viele andere Staaten betrachten?
"Gerade die Flüchtlingskrise zeigt die Grenzen deutscher Macht." Das könne man gut daran sehen, dass Länder wie die Slowakei, die in der Griechenlandkrise hinter Deutschland gestanden hätten, nun nicht bereit seien, Angela Merkels Aufforderung zu folgen und auch nur ein paar hundert Flüchtlinge aufzunehmen.
Alle argumentieren moralisch
Das zeige, dass Deutschland nicht in der Lage sei, "seinen Willen durchzusetzen". Deutschland sei keineswegs "der Hegmon, wie viele behaupten". Zu dem Vorwurf, Deutschland neige dazu, sich moralisch über andere in Europa zu erheben, sagt Kundnani: Auch andere Staaten würden ähnlich moralisch argumentieren, wenn sie ihre Interessen in Gefahr sähen.
Was Deutschland dabei jedoch von anderen Ländern unterscheide: Die NS-Vergangenheit und die eigene Auseinandersetzung damit seien für die Bundesregierung ein wichtiger Impuls für die moralische Argumentation in der Außenpolitik - und um innenpolitisch die Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen.
Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Es gibt einige Zitate über Deutschland, die liebenswürdig und gemein gleichermaßen sind, das hier zum Beispiel: "Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich zufrieden bin, weil es gleich zwei Deutschland gibt." Dieser oft zitierte Satz stammt vom französischen Publizisten Francois Mauriac, aus einer Zeit, als es in der Tat noch zwei Deutschlands gab. Und Francois Mitterand, Maggy Thatcher hätten diesen Satz ja am liebsten zur Politik gemacht 1989, aus Angst vor einem zu mächtigen vereinten Deutschland. Wenn Sie dann hören, was ein polnischer Außenminister 20 Jahre später sagt, Jaroslaw Schikorski nämlich, dann wird die ganze Schwierigkeit unseres lieben Landes in diesem Europa deutlich: "Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit." Das war seine Aussage 2011.
Wo stehen wir heute, am Ende des Jahres 2015, ein Jahr der Euro, aber auch der Flüchtlingskrise? Dazu begrüße ich eine Stimme von außen wie von innen gleichermaßen, in Berlin am Telefon ist Hand Kundnani, Wissenschaftler und Autor eines im englischen Raum schon viel beachteten Buches: "German Power. Das Paradox deutscher Stärke". Im Februar wird es unter diesem Titel auch auf Deutsch erscheinen. Herr Kundnani, guten Morgen!
Hans Kundnani: Guten Morgen!
Frenzel: Die Flüchtlingskrise ist das Topthema dieser Zeit. Erleben wir da gerade ein Deutschland mit Power, mit Kraft und Führungswillen?
Kundnani: Ja, sowohl ein Deutschland mit Macht und auch ohne Macht. Und ich glaube, gerade die Flüchtlingskrise zeigt sozusagen die Grenzen deutscher Macht. Was mir sehr stark aufgefallen ist in der Flüchtlingskrise ist die Art, wie Länder wie die Slowakei, die ein paar Wochen davor in der Diskussion über Griechenland Deutschland unterstützt haben, nicht mal bereit war, ein paar Hundert Flüchtlinge aufzunehmen. Was für mich zeigt, dass Deutschland eigentlich nicht in der Lage ist, seinen Willen durchzusetzen, Themen zu verknüpfen und so seinen Willen durchzusetzen. Es zeigt eben die Grenzen deutscher Macht, also wie wenig Macht Deutschland eigentlich hat in Europa. Es ist gar kein Hegemon, wie viele behaupten.
Ukraine- und Flüchtlingskrise haben nicht viel geändert
Frenzel: Das ist ja die These in Ihrem Buch "German Power. Das Paradox deutscher Stärke", allerdings vornehmlich geschrieben vor dieser Flüchtlingskrise, wo Sie sagen, die ökonomische Stärke einerseits ist da bei Deutschland, aber es gibt eine geringe politische Führungskraft. Und diese Analyse, sagen Sie, die stimmt auch am Ende dieses Jahres noch?
Kundnani: Man muss sagen, das Buch war nicht nur vor der Flüchtlingskrise geschrieben worden, sondern vor der Ukraine-Krise. Also das im Jahr 2014 war schon eine – es hat eine Veränderung in der deutschen Außenpolitik ausgelöst, und dazu kommt jetzt noch im Jahr 2015 die Flüchtlingskrise. Ich glaube nicht, dass es alles geändert hat. Aus meiner Sicht, was immer klarer geworden ist in 2015, vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise, ist, wie diese verschiedenen Krisen, mit denen es Deutschland zu tun hat, also die Eurokrise war die Erste, dann die Ukraine-Krise, dann jetzt die Flüchtlingskrise, die Art, wie die alle so miteinander verknüpft werden.
Um überhaupt die Flüchtlingskrise zu lösen, muss man den Konflikt in Syrien irgendwie zu Ende bringen. Das heißt, da ist sofort ein innenpolitisches Problem, man ist sofort bei der Außenpolitik. Aber um den Syrienkonflikt zu lösen, weil Russland eben ein Akteur ist, ist man dann sofort bei der Ukraine-Krise, und so geht es weiter. Die ganzen Krisen werden immer schwieriger, finde ich, auseinanderzuhalten.
Jeder versucht, seine Interessen durchzusetzen
Frenzel: Sie werden immer schwieriger, und eins haben sie doch gemeinsam, Sie haben es beschrieben: Deutschland hat immer stärker eine Führungsrolle übernommen, meinetwegen auch wider Willen, aber es ist ja passiert. Nun ist die Frage, Sie haben es anfangs beschrieben, trotzdem will keiner so recht folgen, oder viele nicht folgen, wenn wir nur die Flüchtlingskrise in Europa nehmen.
Es gibt heute einen sehr interessanten Text in der "Süddeutsche Zeitung" vom Historiker Heinrich August Winkler. Der warnt, Deutschland darf sich nicht moralisch über andere in Europa erheben. Und daraus spricht ja die Sorge, dass genau das passiert. Teilen Sie diesen Eindruck? Erhebt sich Deutschland moralisch über andere? Macht es deswegen seine Führungsrolle so schwierig?
Kundnani: Ich würde sagen, zunächst haben alle Staaten so eine Tendenz, zu versuchen, ihre Interessen durchzusetzen. Aber das mit so einer moralischen Rhetorik zu untermauern, das machen alle Staaten. Deutschland ist da keine Ausnahme. Aber vielleicht gibt es doch im deutschen Fall was Besonderes, und zwar allem vor dem Hintergrund der NS-Vergangenheit und der Vergangenheitsbewältigung gibt es schon einen gewissen moralischen Impuls in der deutschen Außenpolitik, finde ich, was sie ein bisschen unterscheidet von anderen Ländern. Und vielleicht vor allem in der Debatte innerhalb Deutschlands.
Es gibt eine Versuchung, glaube ich, oft statt, wie gesagt, die eigenen Nationalinteressen offen auszusprechen und zu verfolgen, gibt es so eine Tendenz, um überhaupt Unterstützung zu bekommen in der deutschen Bevölkerung, das in sehr hohen moralischen Begriffen zu rechtfertigen.
Die klassische deutsche Frage
Frenzel: Steckt denn Deutschland möglicherweise im alten Dilemma, im alten Vorkriegsdilemma, zu groß zu sein für eine Mittelmacht, aber zu klein für eine Großmacht?
Kundnani: Ich glaube, da ist schon was dran, dass die alte Dynamik, die durch die klassische deutsche Frage ausgelöst worden ist, dass es davon heute ein Echo gibt. Man muss natürlich betonen, es ist eine ganz andere deutsche Frage als vor dem Zweiten Weltkrieg, vor allem, weil es keine geopolitische Frage ist, wie ich in dem Buch schreibe, sondern eine geoökonomische. Das heißt, militärische Mittel werden nicht benutzt, es gibt keine Gefahr eines Krieges in Europa. Das ist außer Frage. Aber es könnte sein, ich denke, das ist wenigstens eine legitime Frage, ob es vielleicht eine ähnliche Dynamik gibt zwischen den EU-Mitgliedsstaaten, wo diese Dynamik sich sehr um Deutschland dreht. Ein großes Deutschland in der Mitte Europas, das ist schon vielleicht eine Ähnlichkeit zur klassischen deutschen Frage.
Frenzel: Hans Kundnani, Wissenschaftler und Autor des Buches "German Power. Das Paradox deutscher Stärke". Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Kundnani: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.