Deutschlands Sicht auf die Ukraine
Ukrainisch-deutsche Vergangenheit: An einer Gedenkstätte in Kiew erinnern Fotos an Opfer des Massakers von Babyn Jar. © picture alliance / Associated Press / Efrem Lukatsky
Ein falsches Geschichtsbild und die Folgen
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Die Ukraine wurde hierzulande lange Zeit kaum wahrgenommen, sagt die Osteuropa-Korrespondentin Sabine Adler. Massenmorde der Nazizeit habe man quasi vergessen. Die Folge seien schwere politische Fehlentscheidungen – bis in die jüngste Vergangenheit.
Vor dem Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar seien Kenntnisse über die Ukraine und ihre Geschichte in der deutschen Gesellschaft sehr spärlich gewesen, sagt Sabine Adler, Osteuropa-Korrespondentin des Deutschlandradios und im Kompetenzteam Ukraine/Russland. "Wir haben jahrzehntelang über die Ukraine hinweggeschaut und dabei nicht gemerkt, dass wir über dieses zweitgrößte Land in Europa kaum etwas wissen", so Adler.
Ein angespanntes Verhältnis
Vielleicht der größte Irrtum: Wer meine, über die Verhältnisse in Russland halbwegs orientiert zu sein, gehe oft davon aus, deshalb auch über die Ukraine Bescheid zu wissen. Dabei bestünden seit Langem gravierende Unterschiede zwischen beiden Ländern, betont Adler, und ihr Verhältnis zueinander sei immer schon äußerst angespannt gewesen.
Schon während der Herrschaft der Zaren habe die russische Elite mit Herablassung auf die Ukraine geschaut, sagt Adler: "Man konnte in Russland Karriere machen, wenn man sich nahtlos in dieses russische System eingefügt hat." Das sei auch zu Sowjet-Zeiten noch so gewesen.
Blinde Flecken der Ostpolitik
Auch dass die Ukraine 1918 schon einmal nationale Unabhängigkeit erlangt habe, sei in Deutschland kaum bekannt, so Adler. In ihrem Buch "Die Ukraine und wir. Deutschlands Versagen und die Lehren für die Zukunft" vertritt sie die These, dass dieses Unwissen sich auch auf die deutsche Außenpolitik gegenüber der Ukraine ausgewirkt habe.
Die deutsche Ostpolitik sei von führenden SPD-Politikern geprägt worden, die "der Ukraine das Ukrainisch-Sein abgesprochen haben", sagt Adler: Für Ex-Kanzler Helmut Schmidt habe es keine ukrainische Nationalität gegeben. Egon Bahr habe sich eine Ukraine als NATO-Mitglied nicht vorstellen können und sei überhaupt der Ansicht gewesen, dass über den Platz der Ukraine in der Staatengemeinschaft nur Russland oder die USA bestimmen könnten.
"In anderen Zusammenhängen nennt man sowas Kolonialismus", sagt Adler, "in Bezug auf die Ukraine durfte man das geschehen lassen, da war es 'in Ordnung'."
Ein vergessener "Holocaust mit Kugeln"
Die deutsche Geschichtsvergessenheit wiege umso schwerer, da die Ukraine im Zweiten Weltkrieg während der Besetzung durch Nazi-Deutschland zum Schauplatz von Massenmorden an der jüdischen Bevölkerung geworden sei, so Adler. Noch vor der "industriellen Vernichtung" in Konzentrationslagern wie Auschwitz habe in der Ukraine ein "Holocaust mit Kugeln" stattgefunden.
Deutsche Truppen seien durch tausende Orte gezogen und hätten dort jeweils hunderte Menschen getötet. Doch als Deutsche müssten wir uns eingestehen, dass wir nicht einen einzigen dieser Orte beim Namen kennen, gibt Adler zu bedenken – abgesehen vielleicht von Babyn Jar in Kiew, wo 1941 bei Erschießungen 33.000 Menschen zu Tode gekommen seien. "Diesen Massenmord haben wir bis vor Kurzem überhaupt nicht auf dem Schirm gehabt", sagt Adler.
Für Demokratie und gegen Totalitarismus
Der gegenwärtige Krieg Russlands gegen die Ukraine habe viel geklärt, beobachtet Sabine Adler: "Der Krieg hat deutlich gemacht, dass Deutschland sich positionieren muss." Bis kurz vor dem russischen Angriff habe Deutschland sich seit Jahren "in Rücksichtnahme auf Moskau bewegt", so die Journalistin. Die Interessen der Ukraine hätten demgegenüber immer zurückstecken müssen. Das habe sich durch den Krieg nun sehr verändert: Man habe jetzt erkannt, dass es um eine Entscheidung für Demokratie und gegen Totalitarismus gehe.
"Diese Entscheidung ist in Deutschland gefallen", sagt Adler. Es gebe "immer noch zögerliche Einzelentscheidungen, Stichwort: Waffenlieferungen", aber die grundsätzliche Unterstützung für die Ukraine, "für ein demokratisches Land mit einer extrem lebendigen Zivilbevölkerung, die sehr daran interessiert ist, diese wirklich unvollkommene ukrainische Gesellschaft zu verbessern", dieses Bekenntnis bringe die deutsche Gesellschaft nun klar zum Ausdruck.
(fka)
Sabine Adler: Die Ukraine und wir. Deutschlands Versagen und die Lehren für die Zukunft"
Christoph Links Verlag, Berlin
Erscheint Ende August 2022
248 Seiten, 20 Euro