Deutschlands Zukunft

Soziale Innovationen braucht das Land!

Man sieht zwei Frauen, die Flüchtingskindern versorgen.
Soziale Innovationen könne es auch in der Flüchtlingsarbeit geben, meint Paul Spiegel. © picture-alliance / dpa / Michael Hudelist
Peter Spiegel im Gespräch mit Dieter Kassel |
Deutschland brauche mehr soziale Innovationen, fordert der Zukunftsforscher Peter Spiegel. Dabei gehe es darum, neue Ideen zu entwickeln und das Leben der Menschen zu verbessern. Ein Beispiel dafür seien etwa ehrenamtliche "kreative Wilde" in der Flüchtlingsarbeit.
Dieter Kassel: Deutschland braucht mehr Innovation! – Diesen Aufruf hört man inzwischen so regelmäßig, dass er fast schon langweilt, zumal meistens technische, digitale Innovationen gemeint sind und das Stichwort Industrie 4.0 schnell fällt. Das ist Peter Spiegel nicht genug. Der Zukunftsforscher und Initiator und Leiter des GENESIS Institute, eines Instituts für Generationen- und Bildungsforschung, fordert mehr soziale Innovation. Wir werden natürlich gleich fragen, warum, aber zunächst mal versuchen zu klären, was das genau ist! Einen schönen guten Morgen, Herr Spiegel!
Peter Spiegel: Guten Morgen!
Kassel: Mir geht es so, je mehr ich darüber gelesen habe, desto mehr ist mir klargeworden: Das ist ein etwas dehnbarer Begriff. Nennen Sie ein, zwei Beispiele, welche sozialen Innovationen meinen Sie konkret?
Spiegel: Ja, soziale Innovationen, bei sozialen Innovationen geht es darum, dass Menschen darüber nachdenken: Wie kann man das Leben der Menschen verbessern, die Einflussmöglichkeiten, die Selbstgestaltungsmöglichkeiten des Lebens verbessern?
Ich nenne mal ein paar Beispiele: Wikipedia ist eine soziale Innovation, gleichzeitig auch eine digitale, das geht oft auch ineinander über. Aber bei Wikipedia geht es darum, dass die Generierung von Wissen und der Zugang zu Wissen für alle erheblich erleichtert worden ist. "Brockhaus" hat lange gemeint, das überleben wir doch spielend, wir sind doch viel besser, Wikipedia hat es widerlegt.
Ein anderes Beispiel hier aus Berlin: Schülerinnen der evangelischen Schule Berlin-Mitte, die haben nachgedacht, wer kann denn am besten Lehrerinnen und Lehrer motivieren, wie man Schüler gut zum Lernen motiviert. Und sie kamen auf die freche Idee, das sind doch wir, die Schülerinnen und Schüler! Und bieten seit jetzt schon einigen Jahren Lehrerfortbildungen an, wo sie den Lehrern beibringen, wie sie Schüler motivieren können. Völlig verrückte Idee, ein Riesenerfolg und die Lehrer sind begeistert, dass da junge Leute auf so eine verrückte Idee gekommen sind.
Und das ist inzwischen eine Welt von Tausenden und Abertausenden solcher Ideen, die unser Leben teilweise im Alltag, wie Wikipedia, längst tiefgreifend verändert haben, aber vor allem die Menschen gestärkt haben in ihren Entwicklungsmöglichkeiten.
Kassel: Aber wenn wir von Innovationen reden, dann möchte ich noch mit einem weiteren Begriff kurz um mich werfen und dann ist Schluss mit Fachworten: Social Entrepreneurship, also übersetzt so in etwa: soziales Unternehmertum ...
Spiegel: Ja.
"Man braucht eine bestimmte unternehmerische Haltung"
Kassel: Bleiben wir mal bei Ihrem Beispiel, bleiben wir bei Wikipedia, ich oute mich mal, ich bin einer der wenigen, die es tun, ich habe da letztes Jahr wieder mal gespendet. Und da sind wir schon beim Stichwort: Wikipedia ist enorm erfolgreich, aber wirft ja keinen Gewinn ab. Heißt das, wir reden von Innovationen, die grundsätzlich nicht gewinnträchtig sind?
Spiegel: Die sind gewinnträchtig, manche sind gewinnträchtig, manche sind nicht gewinnträchtig. Der Begriff Sozialunternehmertum, Social Entrepreneurship, der Fachbegriff dazu, der ist absolut verwirrend und den sollte man auch schnell zur Seite tun. Weil, darum geht es nicht. Es geht den Leuten, die den Begriff entwickelt haben, um den Gedanken: Man braucht eine unternehmerische Haltung, langes Durchhaltevermögen, darum geht es im Kern, bis man eine soziale Innovation – das ist der eigentlich wichtige Begriff – tatsächlich zur Durchsetzung bringt.
Manche sind von vorne weg nie unternehmerisch, das ist auch nicht das wirklich Wichtige. Wenn der Staat plötzlich Alternativen bekommt für seine sozialen Aufgaben durch kreative Wilde, die eben über Flüchtlingsarbeit anders nachdenken als die Menschen, die bei LAGESO arbeiten, da auf clevere Ideen kommen, dann nützt das doch allen. Manche funktionieren aber auch unternehmerisch und auch das ist natürlich eine feine Sache.
Kassel: Haben Sie dafür ein Beispiel, wo man wirklich mal mit sozialen Innovationen Geld verdient hat?
Spiegel: Na ja, es gibt eine ganz große Idee des Friedensnobelpreisträgers Muhammad Yunus, der die wahnsinnige Idee hatte, Menschen ohne jegliche Sicherheiten Kredite zu geben, damit die sich selbst aus der Armutsfalle befreien können, Kleinkredite, und die Grameen Bank. Inzwischen ist das sage und schreibe mehr als eine halbe Milliarde Menschen weltweit, die aus der Armutsfalle herausgeführt worden sind. Das Ganze ist als Genossenschaft organisiert und genossenschaftliche Modelle sind in sich selbst eigentlich auch eine soziale Innovation. Es gibt viele so konkrete Idee wie Kleinkredite, die genossenschaftlich organisiert sind und wunderbar wirtschaftlich sich selbst tragen.
Soziale und klassische Unternehmer
Kassel: Wie weit können aber soziale Unternehmer – ich nenne sie mal jetzt trotzdem so – auch mit klassischen Unternehmern zusammenarbeiten? Es gibt Beispiele dafür auch in Deutschland, da werden Wissenschaftler in Schulen geschickt und bezahlt wird das Ganze zum Beispiel – das wäre ein Fall, den ich konkret kenne – von einem großen Chemieunternehmen, das sagt: Erst geht ihr kostenlos in die Schulen, dafür kriegt ihr bei uns einen Job. Klingt positiv, aber kein gewinnorientiertes Unternehmen der Welt macht das ohne Eigeninteresse. Was halten Sie von so einer Zusammenarbeit?
Spiegel: Das muss man sich im Einzelfall anschauen. Das kann man auf keinen Fall per se ansehen, man muss immer im Einzelfall kritisch diese Frage stellen und kommt dann zu guten, sinnvollen, manchmal aber auch völlig falschen Schlussfolgerungen. Diese im Bildungsbereich ... Ja, soll ich jetzt Namen nennen von einzelnen Unternehmen oder nicht?
Kassel: Ihre Schuld dann, ich war es dann nicht!
Spiegel: Okay, ja! Okay, die Vodafone-Stiftung unterstützt im Bildungsbereich soziale Innovationen, die dadurch einfach überhaupt erst die Voraussetzungen haben, ihre Innovationen zu entwickeln. Keine, auch nicht technische Innovationen sind im Tage der Entstehung der Idee selbsttragend, die brauchen Anlaufzeit. Und sehr viele schaffen das auch nach einer Anlaufzeit, soziale Innovationen, dass die dann wirtschaftlich selbsttragend sind. Viele per se auch nicht, auch auf Dauer nicht, die bleiben wirtschaftlich abhängig wie unser ganzes Sozialsystem.
Aber ich nehme noch ein Beispiel, in Nordrhein-Westfalen kam ein Arzt auf die verrückte Idee, dass er sagte: Die beste Menschengruppe für die Früherkennung von Brustkrebs sind blinde Frauen. Blinde haben den Tastsinn überproportional gut entwickelt, also ist doch das eigentlich die geeignetste Zielgruppe, die diese Dienstleistungen, die viele Menschen gut gebrauchen, machen. Und in der Tat, inzwischen ist das ein Ausbildungsberuf geworden, aber bedurfte wie jede normale Innovation auch erst mal einer Anlaufzeit. Deckt sich inzwischen selbst, ist vom Staat anerkannt und dankbar angenommen worden.
Autisten im IT-Bereich
Viele Unternehmen nehmen heute Autisten auf und sagen, Autisten sind für bestimmte Dienstleistungen im IT-Bereich, wo man lange Zahlenkolonnen sich anschauen muss und die verstehen und verarbeiten kann. Sie nehmen Autisten, weil die – wie wir eigentlich auch alle wissen – viel besser sind. Aber erst mal muss einer auf diese wahnwitzige Idee kommen, statt Mathematikprofessoren oder Leute mit Mathestudium einfach Autisten einzustellen für bestimmte Aufgaben.
Kassel: Sagt Peter Spiegel. Er ist der Initiator und Leiter des GENESIS Institutes und er fordert mehr soziale Innovationen in Deutschland, hat sich deshalb erklärt, was er überhaupt darunter versteht. Herr Spiegel, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Spiegel: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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