Christian Schüle, geboren 1970, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert. Er hat einen Lehrauftrag für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin und lebt als freier Schriftsteller, Essayist und Publizist in Hamburg. Unter seinen zahlreichen Büchern sind der Roman „Das Ende unserer Tage“ und zuletzt die Essays „Heimat. Ein Phantomschmerz“ sowie „In der Kampfzone“.
Jenseits der Rindsroulade
Gezeichnete Parodie eines deutschen Militärgenerals auf einer Zigarettensammelkarte von 1888. Christian Schüle macht sich Gedanken über das "Deutschsein" heute und in Zukunft. © Getty Images / Nextrecord Archives
Kleiner Versuch über das „Deutschsein“
Den Deutschen üblicherweise zugeordnete Attribute beschreiben "uns" immer weniger gut. Der Autor und Essayist Christian Schüle fragt sich: Was macht in einer multiethnischen, diversen Gesellschaft wie der unseren das "Deutschsein" überhaupt noch aus?
Von den meisten unbemerkt, wird seit Kurzem ein neuer Gesellschaftsvertrag verhandelt. Seine Paragrafen lauten:
Es gibt keine nationale Essenz.
Die Zukunft ist nicht deutsch, sie ist technologisch.
Und: Deutschsein heißt, nicht deutsch sein zu wollen.
Die Zukunft ist nicht deutsch, sie ist technologisch.
Und: Deutschsein heißt, nicht deutsch sein zu wollen.
Während sich dieser Tage so gut wie jede Community um den Nabel ihrer kleinen Gruppenidentität dreht, besteht die Identität der Deutschen als Gesamtheit darin, keine Identität zu haben.
Abschied von alten Mythen
Die alten Mythen sind tot: Pickelhauben-Attitüde, Wirtschaftswunder-Phönix, Dichter- und Denker-Olymp. Deutschsein heißt auch längst nicht mehr Pünktlichkeit: Stichwort Stuttgart 21, Flughafen Berlin Brandenburg, Deutsche Bahn. Heißt längst nicht mehr Funktionstüchtigkeit: marode Brücken, marode Schulen, Datenübermittlung per Fax.
Bleibt als fiktive Größe für den Zusammenhalt der Republik neben der Zivilreligion der kultivierten Patriotismusverweigerung derzeit vor allem das Narrativ der „offenen Gesellschaft“. Aber man täusche sich nicht: Diese „offene Gesellschaft“, mit leichter Hand in die Debatte geworfen, erfordert permanente Arbeit an sich selbst.
Will die offene Gesellschaft offen bleiben, muss sie ihr Wir neu denken. Die deutsche Bevölkerung setzt sich heute völlig anders zusammen als noch vor 20 Jahren. Volksparteien haben ein zerfasertes Volk, zersplitterte Milieus und fragmentierte Soziotope vor sich.
Blick in eine „superdiverse“ Zukunft
In künftig „superdiversen“ Städten könnten über 60 kulturell konstruierte Geschlechtsidentitäten, Hunderte Ethnien, Glaubensgemeinschaften und Kleinkollektive mit Anspruch auf Selbstwirksamkeit und Sichtbarkeit zusammenleben.
So diverse wie divergente Konzepte von Sittlichkeit und Lebenswelt müssen klug austariert werden, bevor unversöhn- oder unübersetzbare Sektionen entstehen.
Und auch wenn die Utopie der universalen Weltbürgergesellschaft vom deutschen Denker Kant stammt, müssen wir doch anerkennen, dass Zuwanderung Grenzen hat. Sie ist prinzipiell gut, aus pragmatischen Gründen sogar nötig und gibt es übrigens seit Jahrhunderten.
Aber sie muss einfühlsam und rücksichtsvoll gesteuert werden. Sozialer Friede setzt immer gegenseitige soziale Anerkennung voraus, und zwar von allen Seiten.
Dynamischer Prozess der Transformation
Die alte Komfort- und Konsumzonen-Republik transformiert sich schneller, als viele es wahrhaben wollen. Die Generation der heute 15- bis 25-jährigen Deutschen wächst in einem globalistisch codierten Referenzsystem heran: Digitalität, Diversität, Kollektivität.
Sie füllen die Worthülsen Gerechtigkeit, Inklusion und Respekt mit konkreten Inhalten, attackieren die Strukturen tradierter Normalität und Macht und fordern zu Recht neue Zugänge zur Mitgestaltung des Gemeinwesens ein, auch wenn ihre gelegentlich selbstgerechte Altklugheit an den Nerven zerrt.
Trotz manch beharrlicher Kräfte lässt sich neuerdings ja sogar der politische Konservatismus vom Hafermilch-Geist eines kosmopolitischen Wir behauchen und will jetzt jünger, offener und vor allem weiblicher werden.
Ist das ein weiteres Stück „Heimatverlust“, den Mitbürger mit nationalkonservativen Sehnsüchten vermehrt beklagen? Kommt auf die Perspektive an, denn jenseits von Rindsroulade, Reinheitsgebot und Almabtrieb hat das Deutsche durchaus ein heimattaugliches Epos anzubieten: die trotz seiner stets leicht verzögerten Weltläufigkeit bemerkenswerte Fähigkeit, Verschiedenes zu vereinen und doch verschieden sein zu lassen.
Eine Seele der Verschiedenheiten
Trachtenjanker und Kopftuch also, Männerchor-Liedgut und Gangsta-Rap, Frikadellen und Schawarma, Oktoberfest und Bar-Mizwa-Feier. Die deutsche Seele, notierte jenseits von Gut und Böse einst der Philosoph Friedrich Nietzsche, sei verschiedenen Ursprungs: mehr zusammen- und übereinandergesetzt als wirklich gebaut. Die Deutschen seien ein Volk der „ungeheuerlichsten Mischung und Zusammenrührung von Rassen“.
War das, 1886 geschrieben, nicht nahezu prophetisch?