"DFB-Elf kann auch für eine Überraschung gut sein"
Stefan Osterhaus, Fußballkorrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung", sieht gute Chancen für das deutsche Team bei der FIFA Fußball-WM. Zugleich hält er den Ausfall des Spielers Michael Ballack nicht unbedingt für einen Nachteil: "Spieler wie Philipp Lahm und auch Bastian Schweinsteiger stehen bereit", sagte Osterhaus.
Matthias Hanselmann: "Solche Typen braucht der Fußball", das sagte kürzlich Felix Magath, Deutschlands Trainer des Jahres, und er meinte Michael Ballack, den schon Jürgen Klinsmann damals vor der WM 2006 zum Spielführer ernannt hat. "Das ist unser Aggressiv-Leader", hat er sogar gesagt. Braucht unsere Nationalmannschaft einen solchen Aggressiv-Leader, einen Führungsspieler, oder, wie es die "TAZ" ironisch schreibt, einen deutschen Fußball-Führer?
Wenn ja, dann sieht es nicht gut aus für die WM, die übermorgen beginnt, denn der Spielführer ist bekanntlich verletzt und er kann nicht auflaufen. Bei uns ist der Sportjournalist und Fußballkorrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung", Stefan Osterhaus. Guten Tag!
Stefan Osterhaus: Guten Tag!
Hanselmann: Haben wir jetzt ohne Ballack eine kopflose DFB-Mannschaft?
Osterhaus: Das sieht auf den ersten Blick so aus, aber es ist tatsächlich nicht so. Es gibt doch einige Spieler in dieser Mannschaft, die nachrücken. Das Ganze ist von Ballack auch eine ganze Weile gedeckelt worden und Spieler wie Philipp Lahm und auch Bastian Schweinsteiger stehen bereit und möchten Verantwortung übernehmen, Lahm hat dies ja auch immer unmissverständlich erklärt nach dem Ausfall von Ballack. Ob sie es können, werden wir jetzt sehen.
Hanselmann: Lahm ist der Kapitän, aber er ist ein sehr bescheidener, ein freundlicher, loyaler Spieler, also keiner, der rumschreit oder gar die Faust sprechen lässt, wie Ballack das durchaus schon mal tut. Also, ein Leitwolf im klassischen Sinne ist Lahm ja nun nicht, oder?
Osterhaus: Im klassischen Sinne nicht, nein. Er ist jemand, der eine Trainerdenke hat, wenn man das so sagen kann. Er denkt sehr, sehr in Mannschaftsstrukturen, was für die Mannschaft gut ist. Ich hatte Gelegenheit, ihn vor Kurzem zu treffen in München zu einem längeren Gespräch, und ich war recht beeindruckt, welche Gedanken sich dieser Spieler macht. Er ist sicherlich gut geeignet, um für so eine Mannschaft zur Integrationsfigur zu werden.
Hanselmann: Sie reden von Integrationsfigur, ich will noch mal auf den Leitwolf raus. Kann jemand wie Lahm so was entwickeln?
Osterhaus: Ich denke ja, aber auf eine andere Art, als es Ballack getan hat, vielleicht auf eine stillere Art. Er wird sicherlich derjenige sein, an den sich die Spieler wenden werden, an dem sie auch versuchen werden, sich aufzurichten, vor allem die jüngeren. Das ist ja eine sehr, sehr junge Mannschaft, und da ist Philipp Lahm mit seinen gerade 26 Jahren schon einer der Erfahreneren.
Hanselmann: Was ist eigentlich die Rolle eines solchen Führungsspielers, was soll er bewirken? Ist da die Nummer zehn, die berühmte, mit im Spiel?
Osterhaus: Ja, die Nummer zehn ist traditionell die Nummer der Freigeister gewesen, Maradona, das ist so die ganz archetypische Nummer zehn gewesen, in Deutschland war das Günter Netzer, also auch ein exzentrischer Spieler. Den verbindet man nicht mit so einem klassischen Führungsspieler.
Der Führungsspieler hat dann eigentlich die Rolle, immer dann für ein Signal zu sorgen, wenn es mal schlecht läuft. Das konnte geschehen, indem halt der wichtigste Spieler der gegnerischen Mannschaft einfach mal abgegrätscht wird, gutes Beispiel, Stefan Effenberg, der hat das immer sehr gut gemacht bei den Bayern und auch sehr erfolgreich.
Hanselmann: Ja, und rumschreien konnte der auch ganz gut.
Osterhaus: Der konnte sehr gut rumschreien, ja.
Hanselmann: Gehört das dazu?
Osterhaus: Es gehört zumindest zu diesem Bild vom Führungsspieler, das man hier in Deutschland hat. Ob es unbedingt nötig ist, das ist die andere Frage, aber es haben andere dann eben auch übernommen.
Hanselmann: Kann man denn überhaupt sagen, dass der deutsche Fußball auf internationaler Ebene immer noch nach diesem Führungsprinzip funktioniert?
Osterhaus: Er hat lange danach funktioniert und es hat, glaube ich, auch ein wenig mit der Geschichte des deutschen Fußballs in den letzten 20 Jahren zu tun. Der Ruf nach diesem Führungsspieler kam immer dann auf, wenn die spielerische Qualität nicht sonderlich gut war. Das fing da so an, dass nach dem alternden Lothar Matthäus gerufen wurde.
Als die Mannschaft 1990 in Italien Weltmeister wurde, da war Matthäus in seiner spielerischen Blüte, viele gute Fußballer waren dabei, die Mannschaft hat überzeugen können. Da hat niemand diese Frage gestellt. Aber je schlechter die Qualität dann wird, desto lauter wird diese Frage gestellt.
Hanselmann: Aber es gibt auch Unterschiede zwischen den Leitwölfen. Sie haben genannt, Matthäus und Effenberg – die sind ja unterschiedliche Typen.
Osterhaus: Sind unterschiedliche Typen gewesen in dem Sinne, als dass Matthäus im Laufe der Jahre immer weiter zurückgerückt ist, und er war aber auch ein Lautsprecher, wie es Effenberg gewesen ist. Er war von der Spielanlage her anders, dynamischer, wagte sich weiter nach vorne, aber grundsätzlich gibt es auch Ähnlichkeiten zwischen den beiden.
Hanselmann: Vielleicht noch mal ein bisschen genauer, wann sich dieser Typ des Leitwolfs in der deutschen Nationalmannschaft beziehungsweise in Deutschland überhaupt entwickelt hat, auch in der Bundesliga?
Osterhaus: Erstmals kam das auf, so wie ich das beobachtet habe, nach 1982, als Paul Breitner in diese Rolle gedrängt wurde. 82, das war eine relativ kopflose Mannschaft, die sich immer wieder an dieser starken Figur Paul Breitner aufrichten musste.
Sie hatte auch keinen starken Trainer zu der Zeit, den Jupp Derwall, das ist auch ein Aspekt der da sicherlich reinspielt. In den 70er-Jahren, als ein überragender Franz Beckenbauer da war, ein Spieler mit einer ungeheuren Leichtigkeit, da ist diese Frage nicht gestellt worden, und auch 1954, als Deutschland erstmals Weltmeister ...
Hanselmann: Dem Beckenbauer, dem hat man eben einfach nur zugespielt und der hat dann schon seine Tore gemacht irgendwie.
Osterhaus: Der hat so ein Ding gemacht, der hat immer einen Weg durchs Mittelfeld gefunden mit dem Ball am Fuß. Diese unglaubliche Eleganz – da kam gar keiner auf die Idee, dass der jemanden abgrätschen würde, der hat das ganz spielerisch gelöst. Und auch die 1954er-Figur, die starke Figur von 1954, Fritz Walter, war eher ein sensibler Spieler. Das war so der klassische Zehner, der auch torgefährlich war. Er wird heute ganz stark mit dieser Mannschaft verbunden, aber das war keiner, den wir heute im klassischen Sinne als Führungsspieler bezeichnen würden.
Hanselmann: Wie sieht und sah es eigentlich im Ausland aus? Gab es da auch diesen Aggressiv-Leader, um noch mal Klinsmann zu zitieren?
Osterhaus: Ganz selten. Bei den Franzosen hat es mal Zinédine Zidane gegeben, diesen überragenden Fußballer, aber der war eher eine väterliche Figur für die anderen Spieler. Das war eine ganz klassische Integrationsfigur, auf den sich alle einigen konnten. Es war auch ganz schlecht, wenn der nicht dabei war, aber er war niemand, der geschrien hat.
Und es gibt ein Land, in dem es diesen Spieler gegeben hat, eine ganz bestimmte Figur, das war Carlos Dunga, der jetzige brasilianische Nationaltrainer. Der war in den Jahren von 1994 bis 1998 das, was man hier in Deutschland als Führungsspieler bezeichnen würde, er war sogar der Archetyp und es ist vielleicht kein Zufall, dass er von 93 bis 95, also in seiner erfolgreichsten Zeit, beim VfB Stuttgart gespielt hat. Und er wurde auch als der Germane, der Teutone im brasilianischen Team gesehen, und das mag eine Rolle gespielt haben.
Hanselmann: Beim Sieg.
Osterhaus: Beim Sieg 94 sicherlich, ja, und der Sieg ist ja auch durch Elfmeterschießen zustande gekommen, also, es war eine sehr unbrasilianische Mannschaft, die sehr auf Effizienz getrimmt war. Da passte Dunga hervorragend rein.
Hanselmann: Erklären Sie uns doch bitte vielleicht noch mal etwas genauer diese hierarchischen Strukturen auf dem Fußballfeld. Jeder, der halbwegs interessiert ist an Fußball, weiß: Es gibt eine Verteidigung, es gibt ein Mittelfeld, es gibt einen Angriff. Aber da gibt es doch noch Differenzierungen, wie ich gerade schon rausgehört habe bei Ihnen.
Osterhaus: Da gibt es Differenzierungen, ja, und in den letzten Jahren ist der sogenannte Sechser, der defensive Mittelfeldspieler, immer wichtiger geworden. Und diese Spielertypen, über die wir eben geredet haben, das sind vorwiegend auch diese Sechser gewesen, auch Lothar Matthäus hat ja im Alter dann immer weiter zurückgezogen gespielt. Es sind Spieler, die das Spiel vor sich haben, die reagieren können.
Hanselmann: Die Bälle verteilen.
Osterhaus: Die Bälle verteilen können, sicher, und die auch eine gewisse Übersicht haben. Diese Spieler sind da gefordert. Es gibt auch einen in der Bundesliga, kein Deutscher, ein Holländer, der diese Funktion ausübt, das ist Mark van Bommel, der Niederländer beim FC Bayern. Das ist auch ein Sechser, das ist auch jemand, der gerne mal abgrätscht und Klartext spricht.
Hanselmann: Zum Thema Leitwolf in ausländischen Nationalmannschaften ist Ihnen gerade der Brasilianer als Einziger eingefallen. Wenn man sich mal den Europameister von vor zwei Jahren anschaut, nämlich Spanien – das ist eine wunderbar funktionierende Mannschaft, aber gerade eben ohne einen sogenannten Leitwolf, ich erkenne jedenfalls keinen.
Osterhaus: Kann ich zum Leidwesen der deutschen Mannschaft nicht widersprechen: Die Mannschaft funktioniert wirklich sehr, sehr gut, und es gibt einen kleinen Scherz aus spanischer Perspektive, wenn da die Frage nach dem Führungsspieler gestellt wird in dieser Mannschaft, zeigt der eine auf den anderen. Also, das ist eine Mannschaft mit ganz flachen Hierarchien.
Da sind natürlich Spieler wie Xabi und Iniesta noch mal besonders wichtig, aber das hat mit deren fußballerischer Qualität zu tun. Und auch die Clubentsprechung der spanischen Nationalmannschaft, der FC Barcelona, der genauso spielt – da funktioniert es genau so. Also, es geht auch ohne.
Hanselmann: Kann man eigentlich die Strukturen auf dem Platz – es geht mir gerade durch den Kopf – irgendwie mit der Hierarchie auch im Deutschen Fußballbund vergleichen? Also, ganz konkret: Kann man die Rolle des Präsidenten Theo Zwanziger mit der von Michael Ballack vergleichen?
Osterhaus: Ja, er will natürlich auch immer gerne ein Führungsspieler sein und wagt sich da manchmal auch ein bisschen aus dem defensiven Mittelfeld zu weit vor, also insofern ist da vielleicht schon die eine oder andere Parallele da. Na, Zwanziger ist jemand, der auch ganz, ganz stark einen Führungsanspruch für sich reklamiert, und er mag es überhaupt nicht, wenn ihn da jemand abklatscht.
Hanselmann: Man darf ihn nur nicht Demagoge nennen, dann kommt gleich die Anzeige.
Osterhaus: Dann wird es kritisch, genau, dann kommt die Klage.
Hanselmann: Übermorgen geht es los, wir sprechen mit dem Sportjournalisten Stefan Osterhaus, es geht los noch nicht für Deutschland, die DFB-Elf spielt erst am Sonntag gegen Australien. Könnte das Fehlen des großen Zampano Ballack auch eine Chance sein für die deutsche Mannschaft, nämlich, sich eher als Kollektiv verstehen zu müssen, indem eben jeder mannschaftsdienlich spielt und nicht egoistisch?
Osterhaus: Auf jeden Fall, die Emanzipation von Ballack muss ja irgendwann kommen, also, Ballack ist deutlich jenseits der 30, und es ist absehbar, dass er nicht mehr lange spielen wird, und jetzt muss diese Mannschaft halt versuchen, sich im Ernstfall davon freizumachen und das Schwimmen lernen. Die fußballerische Qualität dafür hat sie.
Hanselmann: Und wir dürfen dann Zeugen sein, wie sie üben.
Osterhaus: Das dürfen wir, ja, ich bin auch gespannt!
Hanselmann: Was ist Ihr Favorit?
Osterhaus: Na, zum einen Spanien, einfach weil es eine Mannschaft ist, die ganz fabelhaft funktioniert. Eine Mannschaft, mit der man rechnen muss, die sehr unberechenbar ist, ist Argentinien, einfach von der fußballerischen Qualität her überragend. Diese beiden sehe ich recht weit vorne, und auch Brasilen unter Carlos Dunga – das ist kein Zauberfußball, aber das ist ein sehr effizienter Fußball. Ich denke, diese drei Teams werden wir recht weit vorne sehen, und die DFB-Elf kann auch für eine Überraschung gut sein.
Hanselmann: Also, über die Vorrunde kommt Sie, Ihrer Meinung nach, auf jeden Fall raus?
Osterhaus: Ich denke ja, das kann man ihnen zutrauen.
Hanselmann: Chancen geben Sie also der deutschen Nationalmannschaft, aber noch mal auf den Punkt gebracht die Frage: Braucht sie einen Leitwolf oder nicht?
Osterhaus: Ich denke, sie braucht ihn nicht mehr. Sie muss sich davon emanzipieren von dieser Figur, und das ist eine wunderbare Gelegenheit, die die Mannschaft hat, und ich glaube: Nein.
Hanselmann: Mit anderen Worten: Der Leitwolf gehört auf den Müllhaufen der Fußballgeschichte?
Osterhaus: Ob er jetzt schon draufgehört, weiß ich nicht, er ist auf jeden Fall ein Auslaufmodell. Man muss davon wegkommen, man kann sich einfach nicht leisten, auf eine Figur fokussiert zu sein. Da müssen andere die Verantwortung übernehmen und Spanien ist eigentlich das Beste Beispiel, wie man dieses Modell erfolgreich praktiziert, und davon kann die deutsche Mannschaft auch lernen. Und der deutsche Fußball – das muss man noch mal sagen – war immer dann gut, wenn er von anderen lernen konnte.
Hanselmann: Die deutsche Fußballnationalmannschaft ohne Führungsspieler, Leitwolf, Häuptling, Aggressiv-Leader oder wie auch immer man ihn nennen mag – dankeschön, Stefan Osterhaus, und viel Spaß in den kommenden vier Wochen, denn für den Sportjournalisten wird es ja ein Fest, so oder so, oder?
Osterhaus: Ich hoffe, ja. Dankeschön!
Wenn ja, dann sieht es nicht gut aus für die WM, die übermorgen beginnt, denn der Spielführer ist bekanntlich verletzt und er kann nicht auflaufen. Bei uns ist der Sportjournalist und Fußballkorrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung", Stefan Osterhaus. Guten Tag!
Stefan Osterhaus: Guten Tag!
Hanselmann: Haben wir jetzt ohne Ballack eine kopflose DFB-Mannschaft?
Osterhaus: Das sieht auf den ersten Blick so aus, aber es ist tatsächlich nicht so. Es gibt doch einige Spieler in dieser Mannschaft, die nachrücken. Das Ganze ist von Ballack auch eine ganze Weile gedeckelt worden und Spieler wie Philipp Lahm und auch Bastian Schweinsteiger stehen bereit und möchten Verantwortung übernehmen, Lahm hat dies ja auch immer unmissverständlich erklärt nach dem Ausfall von Ballack. Ob sie es können, werden wir jetzt sehen.
Hanselmann: Lahm ist der Kapitän, aber er ist ein sehr bescheidener, ein freundlicher, loyaler Spieler, also keiner, der rumschreit oder gar die Faust sprechen lässt, wie Ballack das durchaus schon mal tut. Also, ein Leitwolf im klassischen Sinne ist Lahm ja nun nicht, oder?
Osterhaus: Im klassischen Sinne nicht, nein. Er ist jemand, der eine Trainerdenke hat, wenn man das so sagen kann. Er denkt sehr, sehr in Mannschaftsstrukturen, was für die Mannschaft gut ist. Ich hatte Gelegenheit, ihn vor Kurzem zu treffen in München zu einem längeren Gespräch, und ich war recht beeindruckt, welche Gedanken sich dieser Spieler macht. Er ist sicherlich gut geeignet, um für so eine Mannschaft zur Integrationsfigur zu werden.
Hanselmann: Sie reden von Integrationsfigur, ich will noch mal auf den Leitwolf raus. Kann jemand wie Lahm so was entwickeln?
Osterhaus: Ich denke ja, aber auf eine andere Art, als es Ballack getan hat, vielleicht auf eine stillere Art. Er wird sicherlich derjenige sein, an den sich die Spieler wenden werden, an dem sie auch versuchen werden, sich aufzurichten, vor allem die jüngeren. Das ist ja eine sehr, sehr junge Mannschaft, und da ist Philipp Lahm mit seinen gerade 26 Jahren schon einer der Erfahreneren.
Hanselmann: Was ist eigentlich die Rolle eines solchen Führungsspielers, was soll er bewirken? Ist da die Nummer zehn, die berühmte, mit im Spiel?
Osterhaus: Ja, die Nummer zehn ist traditionell die Nummer der Freigeister gewesen, Maradona, das ist so die ganz archetypische Nummer zehn gewesen, in Deutschland war das Günter Netzer, also auch ein exzentrischer Spieler. Den verbindet man nicht mit so einem klassischen Führungsspieler.
Der Führungsspieler hat dann eigentlich die Rolle, immer dann für ein Signal zu sorgen, wenn es mal schlecht läuft. Das konnte geschehen, indem halt der wichtigste Spieler der gegnerischen Mannschaft einfach mal abgegrätscht wird, gutes Beispiel, Stefan Effenberg, der hat das immer sehr gut gemacht bei den Bayern und auch sehr erfolgreich.
Hanselmann: Ja, und rumschreien konnte der auch ganz gut.
Osterhaus: Der konnte sehr gut rumschreien, ja.
Hanselmann: Gehört das dazu?
Osterhaus: Es gehört zumindest zu diesem Bild vom Führungsspieler, das man hier in Deutschland hat. Ob es unbedingt nötig ist, das ist die andere Frage, aber es haben andere dann eben auch übernommen.
Hanselmann: Kann man denn überhaupt sagen, dass der deutsche Fußball auf internationaler Ebene immer noch nach diesem Führungsprinzip funktioniert?
Osterhaus: Er hat lange danach funktioniert und es hat, glaube ich, auch ein wenig mit der Geschichte des deutschen Fußballs in den letzten 20 Jahren zu tun. Der Ruf nach diesem Führungsspieler kam immer dann auf, wenn die spielerische Qualität nicht sonderlich gut war. Das fing da so an, dass nach dem alternden Lothar Matthäus gerufen wurde.
Als die Mannschaft 1990 in Italien Weltmeister wurde, da war Matthäus in seiner spielerischen Blüte, viele gute Fußballer waren dabei, die Mannschaft hat überzeugen können. Da hat niemand diese Frage gestellt. Aber je schlechter die Qualität dann wird, desto lauter wird diese Frage gestellt.
Hanselmann: Aber es gibt auch Unterschiede zwischen den Leitwölfen. Sie haben genannt, Matthäus und Effenberg – die sind ja unterschiedliche Typen.
Osterhaus: Sind unterschiedliche Typen gewesen in dem Sinne, als dass Matthäus im Laufe der Jahre immer weiter zurückgerückt ist, und er war aber auch ein Lautsprecher, wie es Effenberg gewesen ist. Er war von der Spielanlage her anders, dynamischer, wagte sich weiter nach vorne, aber grundsätzlich gibt es auch Ähnlichkeiten zwischen den beiden.
Hanselmann: Vielleicht noch mal ein bisschen genauer, wann sich dieser Typ des Leitwolfs in der deutschen Nationalmannschaft beziehungsweise in Deutschland überhaupt entwickelt hat, auch in der Bundesliga?
Osterhaus: Erstmals kam das auf, so wie ich das beobachtet habe, nach 1982, als Paul Breitner in diese Rolle gedrängt wurde. 82, das war eine relativ kopflose Mannschaft, die sich immer wieder an dieser starken Figur Paul Breitner aufrichten musste.
Sie hatte auch keinen starken Trainer zu der Zeit, den Jupp Derwall, das ist auch ein Aspekt der da sicherlich reinspielt. In den 70er-Jahren, als ein überragender Franz Beckenbauer da war, ein Spieler mit einer ungeheuren Leichtigkeit, da ist diese Frage nicht gestellt worden, und auch 1954, als Deutschland erstmals Weltmeister ...
Hanselmann: Dem Beckenbauer, dem hat man eben einfach nur zugespielt und der hat dann schon seine Tore gemacht irgendwie.
Osterhaus: Der hat so ein Ding gemacht, der hat immer einen Weg durchs Mittelfeld gefunden mit dem Ball am Fuß. Diese unglaubliche Eleganz – da kam gar keiner auf die Idee, dass der jemanden abgrätschen würde, der hat das ganz spielerisch gelöst. Und auch die 1954er-Figur, die starke Figur von 1954, Fritz Walter, war eher ein sensibler Spieler. Das war so der klassische Zehner, der auch torgefährlich war. Er wird heute ganz stark mit dieser Mannschaft verbunden, aber das war keiner, den wir heute im klassischen Sinne als Führungsspieler bezeichnen würden.
Hanselmann: Wie sieht und sah es eigentlich im Ausland aus? Gab es da auch diesen Aggressiv-Leader, um noch mal Klinsmann zu zitieren?
Osterhaus: Ganz selten. Bei den Franzosen hat es mal Zinédine Zidane gegeben, diesen überragenden Fußballer, aber der war eher eine väterliche Figur für die anderen Spieler. Das war eine ganz klassische Integrationsfigur, auf den sich alle einigen konnten. Es war auch ganz schlecht, wenn der nicht dabei war, aber er war niemand, der geschrien hat.
Und es gibt ein Land, in dem es diesen Spieler gegeben hat, eine ganz bestimmte Figur, das war Carlos Dunga, der jetzige brasilianische Nationaltrainer. Der war in den Jahren von 1994 bis 1998 das, was man hier in Deutschland als Führungsspieler bezeichnen würde, er war sogar der Archetyp und es ist vielleicht kein Zufall, dass er von 93 bis 95, also in seiner erfolgreichsten Zeit, beim VfB Stuttgart gespielt hat. Und er wurde auch als der Germane, der Teutone im brasilianischen Team gesehen, und das mag eine Rolle gespielt haben.
Hanselmann: Beim Sieg.
Osterhaus: Beim Sieg 94 sicherlich, ja, und der Sieg ist ja auch durch Elfmeterschießen zustande gekommen, also, es war eine sehr unbrasilianische Mannschaft, die sehr auf Effizienz getrimmt war. Da passte Dunga hervorragend rein.
Hanselmann: Erklären Sie uns doch bitte vielleicht noch mal etwas genauer diese hierarchischen Strukturen auf dem Fußballfeld. Jeder, der halbwegs interessiert ist an Fußball, weiß: Es gibt eine Verteidigung, es gibt ein Mittelfeld, es gibt einen Angriff. Aber da gibt es doch noch Differenzierungen, wie ich gerade schon rausgehört habe bei Ihnen.
Osterhaus: Da gibt es Differenzierungen, ja, und in den letzten Jahren ist der sogenannte Sechser, der defensive Mittelfeldspieler, immer wichtiger geworden. Und diese Spielertypen, über die wir eben geredet haben, das sind vorwiegend auch diese Sechser gewesen, auch Lothar Matthäus hat ja im Alter dann immer weiter zurückgezogen gespielt. Es sind Spieler, die das Spiel vor sich haben, die reagieren können.
Hanselmann: Die Bälle verteilen.
Osterhaus: Die Bälle verteilen können, sicher, und die auch eine gewisse Übersicht haben. Diese Spieler sind da gefordert. Es gibt auch einen in der Bundesliga, kein Deutscher, ein Holländer, der diese Funktion ausübt, das ist Mark van Bommel, der Niederländer beim FC Bayern. Das ist auch ein Sechser, das ist auch jemand, der gerne mal abgrätscht und Klartext spricht.
Hanselmann: Zum Thema Leitwolf in ausländischen Nationalmannschaften ist Ihnen gerade der Brasilianer als Einziger eingefallen. Wenn man sich mal den Europameister von vor zwei Jahren anschaut, nämlich Spanien – das ist eine wunderbar funktionierende Mannschaft, aber gerade eben ohne einen sogenannten Leitwolf, ich erkenne jedenfalls keinen.
Osterhaus: Kann ich zum Leidwesen der deutschen Mannschaft nicht widersprechen: Die Mannschaft funktioniert wirklich sehr, sehr gut, und es gibt einen kleinen Scherz aus spanischer Perspektive, wenn da die Frage nach dem Führungsspieler gestellt wird in dieser Mannschaft, zeigt der eine auf den anderen. Also, das ist eine Mannschaft mit ganz flachen Hierarchien.
Da sind natürlich Spieler wie Xabi und Iniesta noch mal besonders wichtig, aber das hat mit deren fußballerischer Qualität zu tun. Und auch die Clubentsprechung der spanischen Nationalmannschaft, der FC Barcelona, der genauso spielt – da funktioniert es genau so. Also, es geht auch ohne.
Hanselmann: Kann man eigentlich die Strukturen auf dem Platz – es geht mir gerade durch den Kopf – irgendwie mit der Hierarchie auch im Deutschen Fußballbund vergleichen? Also, ganz konkret: Kann man die Rolle des Präsidenten Theo Zwanziger mit der von Michael Ballack vergleichen?
Osterhaus: Ja, er will natürlich auch immer gerne ein Führungsspieler sein und wagt sich da manchmal auch ein bisschen aus dem defensiven Mittelfeld zu weit vor, also insofern ist da vielleicht schon die eine oder andere Parallele da. Na, Zwanziger ist jemand, der auch ganz, ganz stark einen Führungsanspruch für sich reklamiert, und er mag es überhaupt nicht, wenn ihn da jemand abklatscht.
Hanselmann: Man darf ihn nur nicht Demagoge nennen, dann kommt gleich die Anzeige.
Osterhaus: Dann wird es kritisch, genau, dann kommt die Klage.
Hanselmann: Übermorgen geht es los, wir sprechen mit dem Sportjournalisten Stefan Osterhaus, es geht los noch nicht für Deutschland, die DFB-Elf spielt erst am Sonntag gegen Australien. Könnte das Fehlen des großen Zampano Ballack auch eine Chance sein für die deutsche Mannschaft, nämlich, sich eher als Kollektiv verstehen zu müssen, indem eben jeder mannschaftsdienlich spielt und nicht egoistisch?
Osterhaus: Auf jeden Fall, die Emanzipation von Ballack muss ja irgendwann kommen, also, Ballack ist deutlich jenseits der 30, und es ist absehbar, dass er nicht mehr lange spielen wird, und jetzt muss diese Mannschaft halt versuchen, sich im Ernstfall davon freizumachen und das Schwimmen lernen. Die fußballerische Qualität dafür hat sie.
Hanselmann: Und wir dürfen dann Zeugen sein, wie sie üben.
Osterhaus: Das dürfen wir, ja, ich bin auch gespannt!
Hanselmann: Was ist Ihr Favorit?
Osterhaus: Na, zum einen Spanien, einfach weil es eine Mannschaft ist, die ganz fabelhaft funktioniert. Eine Mannschaft, mit der man rechnen muss, die sehr unberechenbar ist, ist Argentinien, einfach von der fußballerischen Qualität her überragend. Diese beiden sehe ich recht weit vorne, und auch Brasilen unter Carlos Dunga – das ist kein Zauberfußball, aber das ist ein sehr effizienter Fußball. Ich denke, diese drei Teams werden wir recht weit vorne sehen, und die DFB-Elf kann auch für eine Überraschung gut sein.
Hanselmann: Also, über die Vorrunde kommt Sie, Ihrer Meinung nach, auf jeden Fall raus?
Osterhaus: Ich denke ja, das kann man ihnen zutrauen.
Hanselmann: Chancen geben Sie also der deutschen Nationalmannschaft, aber noch mal auf den Punkt gebracht die Frage: Braucht sie einen Leitwolf oder nicht?
Osterhaus: Ich denke, sie braucht ihn nicht mehr. Sie muss sich davon emanzipieren von dieser Figur, und das ist eine wunderbare Gelegenheit, die die Mannschaft hat, und ich glaube: Nein.
Hanselmann: Mit anderen Worten: Der Leitwolf gehört auf den Müllhaufen der Fußballgeschichte?
Osterhaus: Ob er jetzt schon draufgehört, weiß ich nicht, er ist auf jeden Fall ein Auslaufmodell. Man muss davon wegkommen, man kann sich einfach nicht leisten, auf eine Figur fokussiert zu sein. Da müssen andere die Verantwortung übernehmen und Spanien ist eigentlich das Beste Beispiel, wie man dieses Modell erfolgreich praktiziert, und davon kann die deutsche Mannschaft auch lernen. Und der deutsche Fußball – das muss man noch mal sagen – war immer dann gut, wenn er von anderen lernen konnte.
Hanselmann: Die deutsche Fußballnationalmannschaft ohne Führungsspieler, Leitwolf, Häuptling, Aggressiv-Leader oder wie auch immer man ihn nennen mag – dankeschön, Stefan Osterhaus, und viel Spaß in den kommenden vier Wochen, denn für den Sportjournalisten wird es ja ein Fest, so oder so, oder?
Osterhaus: Ich hoffe, ja. Dankeschön!