Trotz Zucker noch im Ring
Diabetes - eine Diagnose, die viele Leistungssportler als Karriere-Ende auffassen würden. So dachte auch Enrico Kölling, als bei ihm die Stoffwechselstörung attestiert wurde. Doch der Profi-Boxer nimmt die Herausforderung an - das Comeback gelingt.
Enrico Kölling bearbeitet einen Sandsack in der Trainingshalle in Berlin-Marzahn. Sein Blick ist konzentriert. Er bewegt sich locker auf den Beinen. Immer wieder schlägt er mit seinen roten Handschuhen auf das schwarze Leder ein. Das jahrelange Boxtraining hat Spuren hinterlassen. Er hat muskulöse Arme und am rechten Schneidezahn fehlt ein kleines Stück. Der 25jährige verdient sein Geld als Profi beim Boxstall Sauerland. Sein Ziel unterscheidet sich dabei nicht von dem seiner Konkurrenten: Er will Weltmeister werden. Und dass, obwohl er seit kurzem an Diabetes erkrankt ist und sein Leben komplett neu organisieren muss. Nach jedem Training überprüft er deshalb den Blutzuckerwert:
"Indem ich mir hier in den Finger steche und dann drücke ich das Blut hier raus. Jetzt kommt es sogar gleich. Jetzt geht es relativ zügig. Mein Blutzucker wird jetzt relativ hoch sein. Jetzt bin ich bei 14. Das ist zu hoch. Ich muss mir dann noch etwas spritzen. Mit zehn muss ich ins Training gehen, dass ist dann völlig ausreichend."
Den Blutzuckerwert und sein Trainingspensum notiert er täglich. Für seinen Leistungssport muss er jetzt noch organisierter sein. Eine Unachtsamkeit kann schwerwiegende Konsequenzen haben. Heute steht er mit der Krankheit wieder im Ring. Vor einem Dreivierteljahr sah das noch völlig anders aus.
Am Anfang stand die Antriebslosigkeit
Rückblende in den April 2015: Enrico Kölling fühlt sich antriebslos und verliert Gewicht, das ist ungewöhnlich für den Boxer. Er weiß kaum etwas über Diabetes. In seiner Familie ist niemand zuckerkrank. Der 25-jährige sucht im Internet nach den Ursachen für seine Symptome.
"Ich dachte einfach nur, ich hätte mir einen Virus eingefangen und hab gehofft, dass sich das bessert. Und ich aufhöre auf die Toilette zu gehen. Ich habe ja gemerkt, dass der Körper irgendwas abstoßen will, weil ich immer aufs Klo musste. Und ich wurde auch immer schwächer, hab schlecht gesehen, konnte mich auch nicht konzentrieren, die ganze Körperspannung war raus. Man hat sich elendig gefühlt und ich hatte keine Erklärung dafür, was es sein könnte."
Kurz zuvor verlor Enrico Kölling seinen Intercontinental-Titel im Halbschwergewicht, der eigentlich nur eine Zwischenstation auf dem Weg zur Weltmeisterschaft sein soll. Ein Karriereknick. Sein Trainer Karsten Röwer vermutet, dass sein Schützling Probleme hat, die Niederlage zu verarbeiten.
"Gerade nach der Niederlage habe ich immer gedacht, dass die Enttäuschung so groß war und dass er psychisch zusammengebrochen ist. Er ist wirklich sehr klapprig geworden, was wir gar nicht kannten von ihm. Er wurde immer weniger vom Gewicht. Er hat sich nach jeder Trainingseinheit so schlapp gefühlt, dass er sich zwischen den Trainingseinheiten nicht mehr erholt hat und völlig kaputt war und irgendwann haben wir gesagt, geh zum Arzt."
Diabetes wird oft spät entdeckt
Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen mit Diabetes sehr spät zum Arzt gehen und andere Erklärungen für die Symptome finden. Oft wird die Krankheit erst zehn Jahre nach dem Ausbruch entdeckt.
Im Mai 2015 freut sich Enrico Kölling auf ein langes Wochenende. Seine Freizeit will er nicht im Wartezimmer einer Arztpraxis verbringen. Als er sich kaum länger als fünf Minuten aufs Fernsehen konzentrieren kann, überredet ihn seine Freundin, endlich etwas zu tun.
"Ich wollte eigentlich noch das Wochenende abwarten, wie es mir dann geht, ob es sich bis dahin erholt. Sie hat mich dann überredet, dass ich zumindest meinen Vater anrufe und ihm die Symptome erzähle, weil er Rettungssanitäter bei der Feuerwehr ist. Dann hat er mir halt den Tipp gegeben, dass ich unbedingt zum Arzt gehen soll. Was ich aus seiner Sicht schon vor einer Woche hätte machen sollen. Und dann habe ich mich halt aufgerafft."
Erkenntnis im Unfallkrankenhaus
Enrico Kölling stellt sich im Unfallkrankenhaus Berlin vor. Er will sich untersuchen lassen, muss dann aber erst einmal drei Stunden im Wartezimmer sitzen. Denn eigentlich werden im diesem Krankenhaus nur Patienten mit akuten Verletzungen behandelt.
"Dann haben sie mir Blut abgenommen und kamen schnell wieder und sagten: Hast du Diabetes in der Familie? Habe ich nicht in der Familie. Und ich hatte es auch schon im Vorfeld gegoogelt, meine Symptome und dann war auch Diabetes ein Ergebnis. Ich kannte aber bisher nur die Altersdiabetes und da konnte ich mir nicht erklären, warum ich Diabetes haben sollte. Bis ich dann eines Besseren belehrt wurde."
Volkskrankheit Diabetes
Aktuell leiden in Deutschland schätzungsweise sieben Millionen Menschen an Diabetes. Eine Volkskrankheit. 95 Prozent sind vom TYP-2 Diabetes betroffen, auch Altersdiabetes genannt, die häufig in den westlichen Industrieländern vorkommt. Die Hauptursachen sind zu wenig Bewegung und schlechte Ernährung. Nur etwa 300.000 leiden an der TYP-1 Diabetes. Einer genetischen Autoimmunerkrankung, bei der körpereigene Abwehrzellen die Insulinproduktion der Bauchspeicheldrüse zerstören. Die Ursachen dafür sind unbekannt. Häufig bricht die Erkrankung bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus.
Enrico Kölling bekommt die TYP-1 Diagnose mit 25 Jahren. Wegen des hohen Blutzuckers muss er drei Tage auf der Intensivstation verbringen. Normal ist ein Wert von 3,5 bis 7 Millimol pro Liter Blut, in Enrico Köllings Körper ist der Wert fast zehn mal höher. Er denkt schon ans Karriereende.
"Das war dann zwei Tage später, wo ich dann auf der Intensivstation lag, wo es mir dann wirklich dreckig ging. Für mich war es eine vollkommen neue Welt. Ich wusste nicht, in welche Richtung das alles geht. So ne Krankenschwester hat mir mitten in der Nacht Blut abgenommen und dann sagte sie nur: ‚mit Leistungssport ist es dann wohl vorbei!' Auf die Frage, was ich beruflich mache, sagte ich ihr Profiboxen. Da meinte sie: ‚Such dir mal was anderes. Irgendwas wo du dich nicht bewegen musst.' Sie kennt keinen, der mit Diabetes viel Sport treibt. Ein ruhiger Bürojob wäre da viel angenehmer."
Ein Neubeginn nach einer tränenreichen Nacht
Enrico Kölling verbringt eine tränenreiche Nacht. Dann beschließt er, dass er einen Weg findet mit dem Boxen weiter zu machen. Im Krankenbett sucht er im Internet nach Sportlern mit Diabetes und stößt dabei auf die "Diabetes und Sportfibel" von Ulrike Thurm und Bernhard Gehr. Die beiden Autoren haben Erfahrungsberichte von Sportlern mit der Krankheit gesammelt und beschreiben verschiedene Therapieformen.
Ulrike Thurm ist vor dreißig Jahren selbst an Diabetes erkrankt. Die kleine drahtige Frau mit kurzen Haaren ist Langstreckenläuferin. Außerdem spielt sie mit 51 Jahren in der Damen-Verbandsliga Fußball. Und sie berät Spitzensportler mit Diabetes.
"Die Erkenntnisse, auch die Technologie im Diabetes hat sich in den letzten Jahren massiv verändert und verbessert. Es gibt sehr viel im Bereich der Medizintechnologie, neue Insuline, die es TYP-1 Diabetikern ermöglichen, im Job, familiär genauso belastbar zu sein, wie Nicht-Diabetiker. Das gilt auch für den Sport. Auch ein TYP-1er kann ein Weltmeister oder ein Olympiasieger werden. Da kommt es mehr auf den Umgang an als auf die Diagnose."
"Im Krankenhaus hat er schon wieder trainiert"
Im Krankenhaus bekommt Enrico täglich Besuch von seinem Vater Detlef Kölling. Er hat seinen Sohn mit acht Jahren zum Boxen gebracht. Und der wurde mehrfacher Deutscher Meister, Vizeweltmeister bei den Junioren und startete bei den Olympischen Spielen 2012 in London. Immer dabei: Detlef Kölling, für den der Sport jetzt zweitrangig ist.
"Für mich war die Gesundheit erstmal das wichtigste. Für ihn war das bestimmt noch eine andere Sache. Wie er dann umgeschaltet hat, man hat das gemerkt im Krankenhaus, von einem Tag zum anderen, wie er dann nicht ins Loch gefallen ist, sondern eine Lösung gefunden hat und gesagt hat, das ist es jetzt, damit muss ich leben, wie kann ich damit leben? Wie kann ich damit umgehen? Wat muss ich dazu machen, um weiter meinen Sport machen zu können. Es ist Wahnsinn. Soviel Kraft und Energie wie da rauskam: Im Krankenhaus hat er schon wieder trainiert. Und er sagt: ‚jetzt fühle ich mich richtig gut. Jetzt weiß ich, woran es gelegen hat'."
Leistungssportler haben Vorteile
Zwei Wochen verbringt Enrico Kölling dann noch im Krankenhaus: Während einer einwöchigen Diabetesschulung lernt er, sich auf seine Krankheit einzustellen. Dabei hat er als Leistungssportler viele Vorteile, weiß die Diabetesberaterin Ulrike Thurm.
"Es geht bei der Typ-1 Diabetes vor allem um die persönliche Einstellung und den Umgang damit. Und ich sage immer, wenn ein Sportler Typ-1 Diabetes bekommt, hat er riesige Vorteile zu einem Diabetiker, der kein Sportler ist. Ein Sportler hat eine gewisse Grunddisziplin und einen gewissen Charakter und ist eine gewisse Lebensweise gewöhnt. (…) Wenn man das auf den Diabetes überträgt, dann braucht es nicht viel um mit dem Diabetes gut umgehen zu können. (..) Ich muss mich an ein paar Grundregeln halten: (….) Ich muss regelmäßig messen, ich muss regelmäßig spritzen, ich muss meine Therapie entsprechend meinen Alltagsaktivitäten anpassen. Dann ist es keine große Aufgabe mit einem Typ-1 Diabetes ein ganz normales Leben zu führen und genauso belastbar, leistungsfähig zu sein wie ein Nicht Diabetiker."
Wiedereinstieg ins Training
Im Juni 2015, zwei Monate, nachdem er von seiner Krankheit erfahren hat, steht Enrico Kölling wieder in der Halle. Er will langsam anfangen, sich wieder an das Trainingspensum gewöhnen.
"Und dann ging es eigentlich ganz normal weiter. Dann kam ich zum Training und habe sofort alles wieder mitgemacht beim Training. Hab mit dem Insulin ein bisschen gespart, mir weniger gespritzt, so dass ich keine große Unterzuckerung bekomme. Und hatte auch immer Zucker am Mann, ob ich jetzt eine Stunde joggen gegangen bin oder wenn wir jetzt Sparring machen, dann hab ich flüssig Zucker dabei. Ich hatte eigentlich auf Mitleid seitens des Trainers gehofft, aber das hat er nicht gezeigt. Und das war vielleicht auch ganz gut so."
Für seinen Trainer Karsten Röwer ist es auch eine neue Erfahrung. Seit 30 Jahren betreut er Boxer, aber ein Sportler mit Diabetes war bisher noch nicht dabei.
"Für mich ist das jetzt selber als Trainer eine neue Erfahrung. Ich habe mich dann natürlich auch etwas belesen und hatte einige Artikel gelesen im Zusammenhang mit dem Leistungssport und er hat das dann aber schon selbständig alles gemacht. Er führt genau Buch und ist sehr akribisch. Ich wusste schon, dass ich mich da auf ihn verlassen kann. Ich hab dann aber schon etwas mehr nachgefragt, wie er sich fühlt, wie die Werte waren, das macht man dann schon."
Im Training hat Enrico Kölling viele Erfolgserlebnisse. Er meistert die Einheiten, führt Buch und bereitet sich schnell auf einen Aufbaukampf vor. In diesem Moment sind Management und Trainer etwas unsicher.
"Die größte Sorge war eigentlich, wie er im Wettkampf damit umgeht, weil im Wettkampf ist ja nicht nur die energetische Belastung, sondern auch die psychische Belastung und auch die wirkt sich natürlich auf den Blutzucker aus."
Insulin steht auf der Dopingliste
Leistungssportler mit Diabetes müssen ihre Erkrankung dem Sportverband melden, denn das überlebenswichtige Medikament Insulin steht auf der Dopingliste. Enrico Kölling bekommt für die Behandlung eine Ausnahmegenehmigung. Aber im Kampf gelten für alle Sportler die gleichen Regeln. In der Ringpause dürfen die Boxer nur Wasser zu sich nehmen. Der Weltverband lässt hier keine Ausnahme zu.
Falls der Blutzucker unter eine kritische Grenze fällt, kann es zu gesundheitlichen Problemen bei Sportlern kommen, weiß Ulrike Thurm.
"Meistens sind Schwäche, Orientierungslosigkeit schon warnende Hinweise. Einem Marathonläufer ist es mal passiert, der so orientierungslos war, dass er die Marathonstrecke verlassen hat und irgendwo dann durch ein Wohngebiet umher irrte und nicht mehr wusste, weil der Blutzucker so niedrig war, wo er eigentlich hin musste und was er jetzt tun sollte, bis er dann glücklicherweise von seiner Frau und seinen Kindern aufgegabelt wurde."
Rückkehr in den Ring
Juli 2015: Der erste Kampf nach der Diagnose wird auf nur acht Runden angesetzt, ein Titelkampf hat zwölf. Der Boxstall Sauerland hat einen Gegner für Enrico Kölling ausgesucht, der ihn nicht vor Probleme stellt. Vasyl Konder aus der Ukraine hatte zu diesem Zeitpunkt bereits 13 Mal verloren. Trotzdem macht sich Trainer Karsten Röwer Sorgen:
"Eine gewisse Angst ist schon da. Ich denke mal, dass er selber das im Training sehr bewusst gesteuert hat, akribisch Buch geführt. Er wusste wie die Werte nach sehr hohen Belastungen sind, was er da zu spritzen hat oder was er zu essen hat. Und deswegen war das auch ein Aufbaukampf, wo die Belastung nicht ganz so hoch war, was auch sehr gut gesteuert wurde von Sauerland-Seite."
Enrico Kölling steht hinter der Bühne und wartet darauf, dass er in den Ring gerufen wird. Sein Vater sitzt in der ersten Reihe, Mutter und Freundin sind wie immer in Berlin geblieben. Enrico Kölling boxt in Halle an der Saale im Rahmenprogramm von Weltmeister Arthur Abraham und ist genauso angespannt wie immer. Im Kampf verfliegt die Nervosität. Er gewinnt Runde für Runde. Am Ende feiert er gemeinsam mit seinem Trainer einen einstimmigen Punktsieg.
Neues Fitnessgefühl
August 2015: Früher hat sich Enrico Kölling nach seinen Boxkämpfen mit Essen belohnt, den Bauch vollgeschlagen. Oft hat er dann mehr als acht Kilo zugenommen. Jetzt muss weiter auf seine Ernährung achten. Die Konsequenz: Er lebt genauso bewusst wie in der Kampfvorbereitung.
"Ich habe herausgefunden, dass ich rund um die Uhr auf meine Ernährung achte. Was ich esse, was ich trinke. Gerade auf Zuckerwasser, Cola und Fanta, ist jetzt alles tabu. Ich habe Spaß daran. Eigentlich hat es einen positiven Effekt, dass ich mich fitter fühle, dass ich plane, was ich esse. Damals habe ich wild durcheinander gegessen und mir auch mal eine Kalorienbombe reingehauen. Und das habe ich jetzt nicht mehr."
Er misst weiter regelmäßig seinen Blutzucker, notiert die Werte und den Trainingsumfang. Er lebt kontrollierter.
"Man achtet einfach darauf, was man isst. Man überlegt zweimal, wieviel man sich jetzt spritzen will, ob man jetzt aufstehen will und sich was spritzen will, nur weil man ein paar Gummibärchen nascht. Man denkt wirklich mehr über seine Ernährung nach."
Tabuthema unter Leistungssportlern
Viele Sportler versuchen die Krankheit geheim zu halten. Eine genaue Zahl von Leistungssportlern mit Diabetes gibt es nicht, Ulrike Thurm geht von einer hohen Dunkelziffer aus.
"Dummerweise gibt es sehr viele Leistungs- und Profisportler, die sich nicht outen, weil sie Angst haben, dass dann Sponsoren zurücktreten oder Konkurenten diesen Makel versuchen gegen sie einzusetzen. Es wird deutlich mehr Leistungssportler mit Typ-1 Diabetes geben, als aktuell bekannt sind."
Stefan Härtel kennt Kölling bereits seit der Amateurkarriere. Sie waren 2012 gemeinsam bei den Olympischen Spielen in London. Haben sich dort ein Zimmer geteilt. Jetzt bei den Profis trainieren beide bei Karsten Röwer und treffen sich regelmäßig im Ring zum Sparring. Aus seiner Sicht hat sein Trainingspartner von der Krankheit profitiert.
"Da hat er auf einmal eine bessere Figur gehabt, weil er ein bisschen mehr auf sein Gewicht achtet. Er hat sich auf jeden Fall nicht zum negativen verändert, sondern eher zum positiven, weil er jetzt ein bisschen bewusster mit seiner Ernährung und seinem ganzen Leben umgeht, sich auch selber hinterfragt, wie er bis jetzt gelebt hat. Er ist auf jeden Fall stärker geworden und setzt mir beim Sparring ganz schön zu."
Stefan Härtel wundert sich, dass einige Sportler versuchen, die Erkrankung vor der Öffentlichkeit und vor Konkurrenten geheim zu halten.
"Wenn man es schon so weit geschafft hat, dann ist es ja noch eine größere Leistung in der Spitze mitzuhalten. Und deswegen kann man ja gerade sagen, der Zucker hat mich nicht aufgehalten. Man kann auch als Vorbild da rangehen und sagen: ‚Guckt Leute, es ist alles möglich, wenn ihr euch gewissenhaft ernährt, kann man auch im Boxring wirklich zwölf Runden im Boxring Tempo machen und nicht zusammenbrechen'."
Olympiasieg trotz Diabetes
Im Oktober 2015 ist Enrico Kölling zu einer Gala der Deutschen Diabetes Hilfe eingeladen. Auf der Bühne erzählt er von seiner Krankheit, seiner Therapie, seinem Training und er trifft auf Sportler, die ihre Erkrankung öffentlich gemacht haben. Da ist zum Beispiel der Bodybuilder André Volkmann oder die Weltmeisterin im Standardtanz Melanie Ahl und natürlich der Olympiasieger im Gewichtheben, Mathias Steiner. Als er 2008 bei den Olympischen Spielen in Peking die Goldmedaille gewinnt, weiß kaum jemand, dass der stärkste Mann der Welt an Diabetes leidet.
Matthias Steiner ist überzeugt, dass jeder Diabetiker solche Höchstleistungen vollbringen kann:
"Es ist ja nur eine Stoffwechselstörung, die wir dann haben und die hat damit gar nichts zu tun. Wenn jemand das Talent mitbringt und die normalen Voraussetzungen hat, dann kann es jeder Diabetiker, klar."
Matthias Steiner erzählt auch von seiner Krankheitsgeschichte. Mit 18 Jahren wurde bei ihm Diabetes Typ-1 diagnostiziert. Er macht eine ähnliche Erfahrung wie Enrico Kölling.
"Die Symptome haben sich über den ganzen Sommer geschleppt. Weil es sehr heiß war, war es ein bisschen schwierig zu erkennen, denn ich hab immer schon gut und viel getrunken und viel geschwitzt. Und da habe ich noch mehr getrunken, es war aber auch extrem heiß. Und da denkt man sich auch nicht sonderlich viel dabei. Allerdings habe ich weniger gegessen. Ich hab das auch auf die Hitze zurückgeführt. Ein paar Kilo Körpergewicht verloren, und wo ich dann angefangen habe schlechter zu sehen, da ging es dann los, irgendwas stimmt nicht und natürlich erkennt man da keinen Zusammenhang als ahnungsloser gesunder Mensch. Und dann bin ich in die Augenambulanz ins Krankenhaus und dem Arzt kam das dann ein bisschen komisch vor. Die ganzen Symptome zusammen und dann plötzlich schlechter sehen, das geht eigentlich nicht so schnell. Der hat dann Zucker gemessen und ich bin sofort dageblieben."
"Man hat ja gar keine Ahnung"
Der Arzt riet ihm damals aufzuhören. Steiner galt zu dieser Zeit als Riesentalent. Trainer sagten ihm eine große Zukunft voraus. Jetzt sollte alles vorbei sein.
"Es war so mit allem, dann bekommst du jetzt einen Schwerbehindertenausweis, denkt man und ist zu keinem normalen Leben mehr fähig, weil man hat ja gar keine Ahnung von Diabetes. Über Herzinfarkt wird ja viel geschrieben und geredet. Heute ist es schon besser mit Diabetes. Damals noch sehr, sehr wenig."
Zwei Jahre suchte Steiner nach einer Lösung. Holte sich Rat von Ärzten und Experten und findet schließlich einen Weg mit der Krankheit Sport zu treiben. Eine Erfahrung, von der auch Enrico Kölling profitiert.
Nur zwei Spritzen pro Tag im harten Training
Im Dezember 2015 boxt Enrico Kölling wieder gegen einen Gegner auf Augenhöhe. Serhiy Demchenko aus der Ukraine hat bereits mehrere Titelkämpfe hinter sich. Es geht wieder um etwas für den Berliner, der gelernt hat, mit seiner Krankheit und der Behandlung umzugehen.
"Wenn ich in der harten Trainingsvorbereitung bin, spritze ich manchmal sogar nur zweimal am Tag, weil ich einfach wenig Kohlenhydrate zu mir nehme und mich den ganzen Tag bewege und wirklich platt bin. Wenn ich Urlaub habe oder etwas lockerer trainiere, dann muss ich zu jeder Mahlzeit spritzen. Also bin ich zwischen sechs und sieben mal spritzen."
"Sport ist immer gesund"
Die gesamte Behandlung und seine Trainingseinheiten notiert er in einem kleinen Notizheft. Er passt gemeinsam mit seinem Trainer die Einheiten an und fühlt sich damit professioneller vorbereitet als vor der Erkrankung.
"Es ist ja wie ein Tagebuch führen, dadurch, dass ich meine Trainingseinheiten auch immer notiere. Es ist natürlich auch ein Vorteil von der Organisation her. Einfach nur ein Beispiel: Ich habe jetzt in zwei Monaten einen Kampf und fühl mich richtig gut und die Vorbereitung hat mir wirklich gepasst, genauso will ich das nochmal haben. Da kann ich dann einfach zurück gucken und das nochmal machen. Was ich gegessen habe, wieviel ich gegessen habe und was ich trainiert habe."
Er gewinnt auch diesen Kampf nach Punkten. Und ist sich jetzt wieder sicher, auf dem richtigen Weg zu sein.
"Sport ist immer gesund, ob man jetzt Diabetes hat oder nicht. Wenn man sich bewegt hat das nur Vorteile, gerade für Diabetiker ist Sport das A und O. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich irgendwann mal aufhöre mit dem Sport. Gerade durch die Diabetes. Ich habe damit einfach ein viel ruhigeres Leben, weil ich mir keine Gedanken machen muss mit meinem Insulinspiegel. Ich spritz mir so wenig und kann gar nicht groß unterzuckern, weil ich mir nur wenig spritzen muss, durch die Bewegung."
Das Comeback glückt
Im Januar 2016 hat sich Enrico Kölling zurückgekämpft. Im Training macht er große Fortschritte und in der Weltrangliste steht er wieder auf einem der vorderen Plätze.
"Ich denke, dass ich jetzt erstmal fertig bin mit Krankheiten und Verletzungen und Niederlagen. Ich denke, jetzt kann es losgehen. Jetzt geht es wieder auf Kurs: Weltmeisterschaft."