"Künstliche Intelligenz studiert die Daten ohne Vorurteile"
Legasthenie, ADHS oder eine autistische Störung: Solche Diagnosen erhalten Kinder mit Lernschwierigkeiten oft. Der Psychologe Duncan Astle hat die Daten von 520 solcher Kinder mithilfe des Computers analysiert - und kam zu differenzierteren Ergebnissen.
Eine Grundschulklasse. Zwei Dutzend Kinder mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen. Einige von ihnen haben ganz sicher Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen, und für diese Kinder interessiert sich der Psychologe Duncan Astle. Der Brite forscht am Zentrum für Aufmerksamkeit, Lernen und Gedächtnis der Universität im englischen Cambridge, einer Anlaufstelle für Kinder mit ernsten Lernschwierigkeiten. 520 seiner Klienten hat Duncan Astle mit einer ganzen Batterie psychologischer Tests untersucht und die Daten dann mit Computerhilfe analysiert:
"Das Tolle an der künstlichen Intelligenz ist: sie studiert die Daten ohne Vorurteile. Ohne die Kinder in verschiedene Gruppen einzuteilen, ohne irgendwelche Kategorien vorzugeben."
Tatsächlich entdeckt das Programm Muster in den Daten und konnte vier etwa gleich große Gruppen von Kindern unterscheiden.
"Eine Gruppe von Kindern hatte praktisch auf allen Feldern deutliche Schwierigkeiten: beim Gedächtnis, beim Sprachverstehen, bei der Aufmerksamkeit", berichtet Astle. "Eine zweite Gruppe hatte Probleme beim Hörverstehen, war aber gut auf anderen Gebieten. Die dritte Gruppe litt unter einem schwachen Arbeitsgedächtnis. Und dann gab es schließlich Kinder, die zeigten völlig normale kognitive Leistungen."
"Kein Kind mit ADHS ist wie das andere"
Vielleicht sind bei dieser letzten Gruppe soziale Schwierigkeiten entscheidend für die Schulprobleme, so Duncan Astle. Im anschließenden Hirnscanner zeigte sich dann, dass zum Beispiel ein schlechtes Hörverstehen tatsächlich mit weniger gut ausbildeten Vernetzungen der Sprachzentren einhergeht. Es gibt für die Gruppeneinteilung durch Künstliche Intelligenz also tatsächlich eine biologische Basis. In einem nächsten Schritt prüfte der Psychologe, ob die Gruppeneinteilung des Computerprogramms irgendwie zur Diagnose auf dem Überweisungsschein der Kinder passte:
"Nein. Keine der mit dem Computer diagnostizierten Gruppen entsprach etwa einer Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, einer Legasthenie oder einer autistischen Störung. Manche Leute überrascht das. Aber sobald man mit den Menschen spricht, die mit diesen Kindern arbeiten, dann sagen sie, kein Kind mit ADHS ist wie das andere. Das Computer-Ergebnis entspricht also genau deren Erfahrungen."
Was zeigt: Auch wenn mentale Schwächen ähnlich sind, können sie sich in der Schule unterschiedlich auswirken. So haben Kinder mit Schwierigkeiten im Hörverstehen nicht unbedingt Probleme im Sprachunterricht, sondern genauso häufig auch im Matheunterricht. Professor Marcus Hasselhorn vom Leibniz- Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation in Frankfurt am Main wundert es nicht, dass konkrete Lerndefizite nur lose mit mentalen Schwächen verknüpft sind:
"Das ist eine psychologische Sichtweise, die wir auch übrigens gerne betreiben, weil sie uns neue Erkenntnisse über die möglichen individuellen Ursachen von schulischen oder von Lernproblemen geben. Aber das führt natürlich zwangsläufig zu einer völlig anderen Kategorie, weil die Logik von Schule ist, immer zu gucken, wie sehen die Leistungen aus im Lesen, Schreiben, Rechnen?"
Die Kinder brauchen individuellere Unterstützung
Dieser schulische Blickwinkel sei zwar wichtig, aber Duncan Astle plädiert dafür, ihn auszuweiten: "Wir müssen über diese althergebrachten Kategorien hinausblicken und nach individuelleren Wegen zur Unterstützung dieser Kinder suchen."
Ob dafür die objektiv errechnete neue Einteilung von Kindern mit Schulproblemen ausreicht, bezweifelt Marcus Hasselhorn allerdings. Es ist zwar möglich, zum Beispiel das Arbeitsgedächtnis gezielt zu trainieren, aber das führt leider nur selten zu besseren Leistungen etwa beim Lesen oder Rechnen. Marcus Hasselhorn unterstützt Schulen in Hessen deshalb mit der Lernverlaufsdiagnostik, bei der alle drei Wochen etwa Kinder mit einer Leseschwäche ganz genau anschaut werden.
"Ob das Problem des Kindes eher überhaupt das Umsetzen der Buchstaben in die richtigen Wörter ist oder ob es eher ein Verstehensproblem ist, wenn das Wort im Kontext mit anderen Wörtern einen Satz bildet", sagt Hasselhorn. "Oder ob es eher ein Tempoproblem ist, also alles relativ richtig passiert, aber viel zu viel Zeit dafür gebraucht wird? Oder ob ein es gegenteiliges Tempo-Problem ist, dass das Kind eigentlich ganz gut dekodieren kann, aber das zu schnell macht und damit bestimmte Leseverständnisebenen nicht mehr erreicht."
Mit diesen genauen Informationen könne der Lehrer das Kind dann gezielt unterstützen. Solche Ansätze hält auch Duncan Astle für vielversprechend. Er ist aber auch davon überzeugt, dass eine breite Diagnose der mentalen Stärken und Schwächen eines Kindes relevant für die Praxis ist:
"Meine zentrale Botschaft lautet: wenn man diesen Kindern helfen will, ist es wichtig zu wissen, wo genau das Problem liegt."
Ein schwaches Arbeitsgedächtnis lässt sich vielleicht nicht direkt beheben. Aber Lehrer können viel tun, um den Kindern das Lernen trotz ihrer Probleme einfach zu machen. Dafür wirbt Duncan Astle, wenn er seine Ergebnisse an Schulen vorstellt:
"Wenn man ihnen alles Schritt für Schritt erklärt, immer nur eine Aufgabe stellt und die wichtigsten Punkte an die Tafel schreibt, dann verringert das die Belastung für das Arbeitsgedächtnis. Kinder, die hier ein Problem habe, haben es dann leichter."
Und nebenbei gesagt: Alle anderen Kinder in der Klasse auch.