Leben und Arbeit zusammengedacht
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Das Diakonissen-Mutterhaus in Elbingerode im Harz ist vom Geist der Bauhaus-Ära geprägt. Der Architekt Godehard Schwethelm lebte monatelang mit den Schwestern und orientierte sich an ihren Wünschen.
Dunkles Kleid und weiße Haube, Schwester Ruth trägt die typische Ordenstracht der Diakonissen. 1959 ist sie in die evangelische Elbingeröder Schwesterngemeinschaft Neuvandsburg eingetreten, benannt nach dem einst westpreußischen Gründungsort im heutigen Polen. "Als ich das allererste Mal hier auf das Gelände kam – es war ja zu DDR-Zeiten und es war vieles grau", erinnert sich die 82-jährige, "da hat mich dieses Haus überrascht - in der Farbe und in der Architektur, wie es hier steht. Ich war fasziniert."
Wie die Kommandobrücke eines Ozeantankers
Gerade Linien, geschwungene Balkone und Terrassen, streng angeordnete, symmetrische Fensterflächen: Das Diakonissen-Mutterhaus in Elbingerode am Fuße des Brockens im Harz ist ein Meisterwerk der Bauhaus-Moderne. An einer Ecke des Hauses hängt wie ein Erker – eine Art Glaskanzel, ähnlich der Kommandobrücke auf einem großen Ozeantanker. Heute wie damals residiert dort die Oberin, als müsse sie immer eine klare Sicht auf ihre Schäfchen haben.
"Das ist ein Stahlskelettbau", erläutert Pfarrer Reinhold Holmer, der Direktor des Diakonissen-Mutterhauses. "Alle Pfeiler im Haus sind ganz schlanke Stahlträger, die sind später ummantelt worden und geben eine ganz große Flexibilität. Das war eine geniale Erfindung, und für die damalige Zeit war das was ganz Modernes."
Wohnideen im Zusammenleben entwickelt
Errichtet wurde das Gebäude zwischen 1932 und 1934. Der damals 33-Jährige Architekt Godehard Schwethelm war kein klassisch ausgebildeter Bauhaus-Schüler, sondern ein Verfechter des Neuen Bauens in der Tradition von Walter Gropius. Schwethelm verfolgte zeitlebens dessen Credo: Leben und Arbeit sollen in eins verschmelzen.
"Der Architekt ist hierher gekommen und hat ein Vierteljahr zusammen mit den Schwestern gelebt", sagt Reinhold Holmer. "Er hat sich Gedanken gemacht: Wie leben die Schwestern, was brauchen sie, dann hat er seinen Entwurf gemacht. Das finde ich ganz stark, dass er so einen ganzheitlichen Ansatz hatte. Aber das füllte er dann mit eigenen Ideen."
Liberale Grundhaltung und religiöse Praxis, Modernität und Sakralarchitektur, Bauhaus und Diakonie. Für Holmer sind das keine Gegensätze: "Wer hat die soziale Frage praktisch angefasst, im 19. Jahrhundert? Das war Johann Hinrich Wichern, das war Friedrich von Bodelschwingh, das war Eva von Tiele-Winckler. Und die haben unseren Sozialstaat entwickelt und geprägt. Das war topmodern."
Der ultimative Waschbeckenstöpsel
Auch für Architekten einer vom Bauhaus inspirierten Moderne wie Godehard Schwethelm waren solche sozialen Konzepte maßgeblich, sagt Holmer. Jedes Zimmer in Elbingerode ist lichtdurchflutet. Zum Standard gehören die in Nischen eingebauten Wandschränke, in manchen verbirgt sich eine kleine blaugekachelte Waschecke. Alles ist originalgetreu erhalten, hat die DDR-Zeiten unbeschadet überstanden.
Reinhold Holmer ist geradezu verliebt in die filigranen Details des Bauhaus-Klassikers: "Sehen Sie sich mal diesen Stöpsel für das Waschbecken an. Finden Sie heute nicht mehr. Lassen Sie einfach reinfallen, zack - und der Abfluss ist zu. Ist eine Kugel aus Hartmetall, ich weiß gar nicht, warum man später noch was anderes erfunden hat. Das ist doch super."
Speisen wie auf dem Zauberberg
In der Küche gab es damals schon einen Geschirrspüler, das Essen konnte direkt per Fahrstuhl in den Speisesaal geliefert werden. Ein eleganter, heller Raum, in dem 180 Gäste Platz finden und der ein wenig an ein Restaurant in einem mondänen Kurhotel erinnert, fast wie im "Zauberberg" bei Thomas Mann.
Nebenan liegt die expressionistisch gestaltete Kapelle, ein multifunktionaler Gemeindesaal, der vielfach verändert werden kann. Allein der Altar mit dem Kreuz kann nicht bewegt werden. Letztlich wirkt die Kapelle – in der allsonntäglich gut besuchte Gottesdienste stattfinden – wie ein moderner Theater- oder Kinosaal.
Durch eine Art Foyer gelangt man ins Gebäude. Mit Würde und Respekt sollen die Besucher eintreten. Reinhold Holmer spricht von einer besonderen Form des Innehaltens: "Man kommt von draußen rein, dann hat man hier seine Garderobenhaken. Über der Kanzel kann man eine Leinwand runterfahren, also auch Filmvorführungen waren hier möglich. Das war was Tolles für die damalige Zeit, der Architekt hat weit gedacht."
Die Schwestern schwimmen sich fit
Das vielleicht weltweit Einmalige liegt allerdings eine Etage tiefer. Denn genau unterhalb der Kapelle befindet sich ein großes Schwimmbad. 20 Meter lang, 6 Meter breit, 3 Meter tief. Das hat Architekt Schwethelm nicht einfach so gebaut. Ihm – aber auch der damaligen Oberin und Bauherrin Klara Sagert – lagen die Arbeits- und Lebensbedingungen der Diakonissen sehr am Herzen.
Nach getaner Arbeit sollen sich die Pflegekräfte, wie wir heute sagen würden erholen können, aber auch etwas für sich tun. Weshalb man auf die Idee kam, ein Schwimmbad unter die Kapelle zu bauen. "Leben, Gesundheit, das hat die Klara Sagert aufgenommen", so Reinhold Holmer. "Sie sagte: ‚Auch wir Schwestern müssen uns regenerieren, wir wollen fit sein für unsere Arbeit, für das was wir zu tun haben.’ Und dafür wurde das Schwimmbad gebaut."
Es war noch Dampf übrig
Entstanden ist das Schwimmbad im Diakonissenhaus aber auch aus ganz pragmatischen Gründen, sagt Holmer, nämlich, weil der Heizkessel schlicht Dampf-Überschuss produzierte: "Und mit diesem Dampf hat man für 650 Leute gekocht, in der Bäckerei gebacken. In der Wäscherei wurde mit dem Dampf die Wäsche gewaschen, die wurde auch noch gleich dampfgebügelt. Dann hat man damit Strom erzeugen können.
Und ganz zum Schluss hat der Architekt gesagt, nachts brauchen wir den Dampf für diese Sachen nicht. Da haben wir Dampf übrig. Und dann hat er die Bauherrin, die Schwester Klara gefragt: Entweder wir bauen ein Gewächshaus oder ein Schwimmbad, um etwas mit dem Restdampf zu machen. Schwester Klara hat dann mit ihren Schwestern gesprochen und gesagt, dann brauchen wir ein Schwimmbad. Und so ist es dann entstanden."
Ein Meisterwerk zum Anfassen
"Nachhaltig" würde man das heute nennen. Und das Schwimmbad wird von den Diakonissen, aber auch den Elbingerödern genutzt. Generationen von Kindern haben hier Schwimmen gelernt, die Feuerwehr, die DLRG machen hier ihre Übungen – bis heute.
Im Zuge des Bauhaus-Jubiläums hat man auf dem Areal mit Bild-und Texttafeln eine Art Freiluftausstellung geschaffen. Nirgends ist aber ein Schild zu finden mit der Aufschrift: "Bitte nicht anfassen." Denn das Diakonissen-Mutterhauses ist zwar ein Meisterwerk der Architektur aber kein musealisiertes Denkmal. Ganz im Gegenteil: Es ein lebendiges Schaufenster praktischen religiösen Lebens. Seit 1934, als das Haus eröffnet wurde – und bis heute.
"Es gibt die Verpflichtung zur Ehelosigkeit, wenn man in ein Diakonissen-Mutterhaus eintritt", erklärt Direktor Holmer. "Es besteht der Grundsatz der Bescheidenheit, der Demut. Dass man sagt, wir wollen keine Reichtümer für uns persönlich haben, sondern alles das was wir erwirtschaften, kommt in die gemeinsame Kasse. Und wir leben nur von einem Taschengeld. Bis hin zum Lebensende."
Herausragende Architektur – mit ungewisser Zukunft
Doch wie lange es das Diakonissen-Mutterhaus in seiner ursprünglichen Art und Weise noch geben wird, ist unklar. Von den einst 600 Schwestern leben und arbeiten nur noch 147 in Elbingerode. Durchschnittsalter: 79 Jahre. Nachwuchs gibt es keinen. Weshalb man jetzt schon überlegt, wie das Bauhaus-Ensemble weiter am Leben erhalten werden kann. Eine Idee: Man öffnet das Haus zunehmend für zahlende Pensions-Gäste, aber auch an eine Mutter-Kind-Suchtstation wird gedacht.
"Diese Mütter haben es besonders schwer", sagt Holmer. "Entweder haben sie keine Zeit, sich um ihre Therapie zu kümmern oder um ihre Kinder. Die sind einfach doppelt gefordert. Und für die eine Wohnform zu finden, wo für sie und die Kinder gesorgt wird, das ist ein Punkt, der uns gerade so vorschwebt. Da wollen wir gerne etwas machen."
Aber noch leben Diakonissen in Elbingerode im Zentrum für Diakonie und Mission. Eine von ihnen ist die 86-Jährige Schwester Elisabeth. Sie genießt den Anblick des Hauses jeden Tag aufs Neue. Und das bereits seit 1956: "Diese Rundungen überall, das ist das Besondere am Haus. Ich freue mich, dass wir so ein schönes Haus haben."