Hinter dem Berg, da lebten die anderen
10:44 Minuten
Der Sprachwissenschaftler Georg Wenker entdeckte im 19. Jahrhundert die Uerdinger Linie. Sie verläuft quer durch Deutschland und trennt die niederdeutschen von den hochdeutschen Dialekten. Mancherorts trennte sie auch Welten voneinander.
Littfeld im Siegerland ist das letzte Dorf im Grenzbezirk. Es ist das letzte Dorf vor der Uerdinger Linie. Diese Grenze trennt nicht nur Sieger- und Sauerland, sondern sogar Nord- und Süddeutschland - zumindest aber den hoch- und den niederdeutschen Sprachraum.
Ein anderer Kulturkreis
Bruno Steuber begrüßt Menschen, mit dem im Siegerland üblichen "Germojje". Er ist im Heimatverein von Littfeld aktiv und hat sich dem Siegerländer Platt verschrieben. Hinter Littfeld, hinterm Berg, beginnt das Sauerland. Ein anderer Sprachraum. Ein anderer Kulturkreis. Eine andere Welt, erzählt Steuber.
"Die Welt hat eigentlich an der Landgrenze oder am Kölschen Heck für uns aufgehört", erzählt er. Aber das sei heute nicht mehr so. Man gehe schon mal rüber aufs Schützenfest oder ein Bier trinken. Aber Steuber erinnert sich auch noch an andere Zeiten.
"Wenn wir früher mal Spaß an deren Mädchen hatten, mussten wir dafür bezahlen. Jagdschein bezahlen, nannte man das. Da musste man den Jungen dort Bier ausgeben - nicht nur eins, sondern etliche, bis beide zufrieden waren und sich in den Armen lagen."
"Die Welt hat eigentlich an der Landgrenze oder am Kölschen Heck für uns aufgehört", erzählt er. Aber das sei heute nicht mehr so. Man gehe schon mal rüber aufs Schützenfest oder ein Bier trinken. Aber Steuber erinnert sich auch noch an andere Zeiten.
"Wenn wir früher mal Spaß an deren Mädchen hatten, mussten wir dafür bezahlen. Jagdschein bezahlen, nannte man das. Da musste man den Jungen dort Bier ausgeben - nicht nur eins, sondern etliche, bis beide zufrieden waren und sich in den Armen lagen."
Dialekte werden kartografiert
Die in der Vergangenheit auch geopolitisch bedeutsame Grenze ist immer noch da, zumindest im Sprachgebrauch. Das "Kölsche Heck" wird sie historisch bedingt genannt, weil das Siegerland und der Kölsche Raum verwandt sind.
Es war der Sprachwissenschaftler Georg Wenker, der die Uerdinger Linie im späten 19. Jahrhundert entdeckte. Wenker hatte 1876 damit begonnen, die deutschen Dialekte systematisch zu erheben und zu kartografieren. Er gründete das Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas in Marburg.
Joachim Herrgen ist dort Sprachwissenschaftler und Dialektforscher. Er erzählt: Wenker kam auf eine geniale Idee, wenn man die Möglichkeiten des 19. Jahrhunderts berücksichtigt.
Dem Dialekt auf der Spur
"Er hat gesagt, ich entwickele einen Fragebogen mit 40 ganz einfachen Sätzen. Wir reden heute noch von den Wenkersätzen. Und diese 40 Sätze lasse ich von den Leuten vor Ort, und zwar aus jedem Ort im Deutschen Reich damals, in Dialekt übersetzen. Und er hat diese Fragebögen hierher ins Institut zurückbekommen. Und so haben wir heute hier in unserem Archiv 50.000 Fragebögen aus jedem Schulort des Deutschen Reichs ab 1876."
Einer der Wenkersätze, den die Dorfschullehrer in Lautschrift notierten, hieß: "Der gute alte Mann ist mit dem Pferd durchs Eis gebrochen und ins kalte Wasser gefallen."
Einer der Wenkersätze, den die Dorfschullehrer in Lautschrift notierten, hieß: "Der gute alte Mann ist mit dem Pferd durchs Eis gebrochen und ins kalte Wasser gefallen."
Die Uerdinger Linie wird auch ick/ich-Linie genannt, denn südlich sagt man im Dialekt "ich" und nördlich "ick". Das ist Wenkers zentrale Erkenntnis und doch nur eine Nebensächlichkeit.
Die Linie beginnt an der holländischen Grenze, quert bei Uerdingen den Rhein, weiter durchs nördliche Ruhrgebiet, durchs Bergische Land, dann zwischen Sauer- und Siegerland hindurch, weiter über Kassel, Wittenberg in Richtung Frankfurt (Oder).
Der Handel weicht die Grenze auf
Keine vier Kilometer von Littfeld, nördlich der Linie im Sauerland, liegt Welschen-Ennest. Im Sauerland wird ein niederdeutscher – also norddeutscher – Dialekt gesprochen. Hier führt Reinhard Hesse eine Großbäckerei. Er hat Filialen im Sauer- und im Siegerland. Und es war die Wirtschaft, die die Grenze aufgeweicht hat. Denn kaum eine Grenzlinie hat es bisher vermocht, Handel zu unterbinden, sagt Hesse.
"Ich selbst bin seit Kind her sehr mit dem Siegerland verbunden, weil mein Vater schon berufsbezogen nach dem Krieg über den Berg fuhr und da entsprechend Brot verkaufte. Und ich bin von Haus zu Haus gegangen. Ich kenne in Littfeld fast jedes Haus."
Und so hat auch die Uerdinger Linie, die Ick-ich-Linie, etwas von ihrer Trennschärfe verloren, denn auch im Sauerland sagt längst nicht mehr jeder "ick". Reinhard Hesse zumindest nicht. Seine Mundart ähnelt eher der des hohen Nordens als des benachbarten Siegerlandes.
Und so hat auch die Uerdinger Linie, die Ick-ich-Linie, etwas von ihrer Trennschärfe verloren, denn auch im Sauerland sagt längst nicht mehr jeder "ick". Reinhard Hesse zumindest nicht. Seine Mundart ähnelt eher der des hohen Nordens als des benachbarten Siegerlandes.