Quellenverzeichnis der benutzten Literatur:
J. Magenau: Christa Wolf – Eine Biographie. Berlin, Kindler 2002.
C. Wolf: Einiges über meine Arbeit als Schriftsteller, in: Junge Schriftsteller der DDR in Selbstdarstellungen, Leipzig 1965
C. Wolf: Ein Tag im Jahr. 1960–2000. Luchterhand, München 2003
Christa Wolf und kein Ort. Nirgends
Christa Wolf, eine der bedeutendsten deutschen Schriftstellerinnen, war eine Rastlose. Neunmal ist sie in ihrem Leben umgezogen. Nirgendwo, so scheint es, ist Christa Wolf wirklich angekommen.
Dichter, deine Städte – unter diesem Motto stellen wir Ihnen im Länderreport in loser Folge deutsche Autoren und ihr Verhältnis zur Heimat vor. Im Beispiel heute passt der Plural "Städte" besonders gut.
Ihre Biografie sei eine "Chronik fortgesetzter Verabschiedungen" hat Jörg Magenau einmal über Christa Wolf geschrieben. Die gravierendste Verabschiedung steht am Ende ihres Lebens: Christa Wolf verliert mit der DDR ein ganzes Land, das ihr einmal Heimat gewesen ist oder gewesen sein könnte.
"Ich war in einer mittelgroßen, eigentlich eher kleinen Stadt jenseits der Oder aufgewachsen. Ich hing an dieser Umgebung, an dem Blick aus dem Fenster über die ganze Stadt und den Fluß, an den Seen, an den Kiefernwäldern, an dieser im ganzen vielleicht etwas kargen Landschaft. Ich konnte mir keinen anderen Hintergrund vorstellen."
Diese Zeilen über ihre Geburtsstadt Landsberg an der Warthe schreibt Christa Wolf 1965. Den "Hintergrund" hat sie da bereits siebenmal gewechselt. Weitere Umzüge werden kommen. Sie sieht es als das Schicksal ihrer Generation:
"Alles ist im Fluß. Wir fließen mit, suchen uns hier zu halten, dann da, immer wieder reißen die Wurzeln ab."
Christa Wolf ist jetzt 36 Jahre. Die Karriere als Schriftstellerin nimmt tüchtig Fahrt auf. Für ihren Roman "Der geteilte Himmel" hat sie den Heinrich-Mann-Preis der DDR bekommen. Die Verfilmung von Konrad Wolf ist gerade in den Kinos gelaufen. Die Kritik zeigt sich begeistert. In Ost- und Westdeutschland. Aber je größer der Erfolg, desto größer wird "eine alles andere zurückdrängende Sehnsucht nach Ruhe", wie sie schreibt. Diese Sehnsucht hat auch mit den Ansprüchen der Staatsmacht zu tun. Als gefeierte Autorin genießt Wolf Privilegien. Als SED-Parteimitglied hat sie Pflichten. Aber damit kommt sie nicht mehr klar.
Vorläufiger Höhepunkt der Entfremdung: 1976 organisiert Christa Wolf gemeinsam mit anderen den Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung. Ihr Mann Gerhard Wolf wird daraufhin aus der Partei geschmissen. Sie darf bleiben. Es ist ein vergiftetes Geschenk. Denn es macht sie unter den Kollegen verdächtig. Wieder diese Unruhe, das Getriebensein, der Fluss. Die Sehnsucht nach dem "Winkel", in dem man sie einfach "leben ließe".
"Ohne Verdächtigung, ohne Beschimpfung, ohne den Zwang, mich andauernd vor anderen und vor mir verteidigen zu müssen dafür, daß ich so bin oder: so werde."
Ende der 70-er zieht Christa Wolf mit ihrem Ehemann Gerhard in die Friedrichstraße. Berlin wird ihre letzte Bleibe. Ausgerechnet hier erlebt sie die größte Entwurzelung ihres Lebens: Das Ende der DDR. Das sie nicht gewollt hat. Im November 1989, Christa Wolf ist inzwischen aus der SED ausgetreten, gehört sie zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs "Für unser Land". Die Initiative will die DDR von innen heraus verändern. Politisch betrachtet. Emotional gesehen ist sie Christa Wolfs verzweifelter Versuch, diesen größten Verlust von Heimat zu verhindern.