Dichtergott und Lebenskünstler
Schreiben konnte Johann Wolfgang von Goethe wie kaum ein anderer. Doch mit der Ordentlichkeit nahm er es dabei nicht so genau: Nach der berühmten "Weimarer Ausgabe" seiner Werke von 1887 arbeiten Mitarbeiter des Goethe-und-Schiller-Archivs Weimar nun an einer historisch-krtitischen Ausgabe - inklusive Rechtschreibfehlern und Tintenklecksen.
Wolfgang Albrecht: "Goethe hat eine sehr ausgeschriebene Hand. Wer sich damit beschäftigt, erkennt sie auch sofort. Sie ist gut lesbar. Es gibt nur Einzelpartien…vielleicht war es Zeitnot. Mitunter hat man auch den Eindruck, es ist in der Kutsche geschrieben."
"Reisetagebuch für Frau von Stein
3. September 1786
Früh 3 Uhr stahl ich mich aus Carlsbad weg, man hätte mich sonst nicht fortgelassen. Die Gräfin L. setzte auch einen entsetzlichen Trumpf darauf, ich lies mich aber nicht hindern. Denn es war Zeit. - Schöner stiller Nebelmorgen. Um 12 in Eger bei heißem Sonnenschein."
Elke Richter: "Er hat alle Arten Papier verwendet: Dünnes, handgeschöpftes Büttenpapier, aber es gibt auch abgerissene Zettelchen, kleine Blättchen mit Zierrändern. - Die meisten sind mit Tinte geschrieben, aber es gibt auch Bleistiftbriefe."
"Leipzig, den 16. Oktober 1767
Gott weiß, ich bin so dumm, so erzdumm, dass ich gar nicht weiß, wie dumm ich bin! - Meinst Du denn, ich könnte mir einbilden, dass Du fort bist?"
Ein Brief aus Goethes Studentenzeit in Leipzig an seinen Freund Ernst Wolfgang Behrisch. Behrisch ist wegen Liebeshändel über Nacht aus Leipzig nach Dessau geflüchtet - und Goethe untröstlich über den plötzlichen Verlust seines Kumpans. Der Brief hat auch einen bemerkenswerten Schluss:
"Was macht denn Mamsell Auguste? - Hölle ! Das gute Mädchen haben wir seit vier Wochen ganz vergessen. Und wenn je ein Mädchen verdient hat, dass man an sie denkt, so hat’s die verdient, merk dir das! Und wenn Sie herkömmt, so verlieb’ ich mich in sie. Und dann spielen wir einen Roman vice versa, das wird schön sein! – Gute Nacht! Ich bin besoffen wie eine Bestie."
Der Dichter selbst hat seine Briefe nicht veröffentlicht. Zwischen 1827 und 1830 erscheint bei Cotta in Stuttgart Goethes "Vollständige Ausgabe letzter Hand" - sie enthält nur sein dichterisches Werk.
Ein halbes Jahrhundert nach Goethes Tod werden seine Briefe zum Druck vorbereitet. Zwischen 1887 und 1919 erscheint die große "Weimarer Ausgabe" von Goethes Werk, insgesamt 143 Bände, Briefe und Tagebücher inklusive. Weil unter Schirmherrschaft der Herzogin Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach erstellt, wird sie auch "Sophien-Ausgabe" genannt.
"Es ist die erste große Gesamtausgabe zu einem deutschen Autor, zu einem deutschen Dichter. An dieser Ausgabe wurden gewissermaßen auch Editionsprinzipien der damaligen Zeit erprobt. Und wie man sagen muss, mit sehr gutem Erfolg."
Wolfgang Albrecht vom Goethe-und-Schiller-Archiv in Weimar.
Alle nachfolgenden Goethe-Ausgaben mit einem soliden Anspruch verdanken ihre Texte der "Sophien-Ausgabe". Dennoch: Jede Goethe-Neuauflage atmet den Geist ihrer Zeit. Diesen Geist kann man in den Kommentaren der jeweiligen Herausgeber erspüren:
"Goethes Größe ruht in dem beispiellos geschlossenen Ausdruck eines starken Einzelwesens. Er war der große Einzelne, der immer nur auf Einzelne in bestimmten Seelenlagen gewirkt hat."
heißt es im Vorwort einer Goethe-Ausgabe von 1937 besorgt von Josef Nadler. Nadler war Mitglied der NSDAP, sah in Goethe vor allem die Führer-Natur und hat sich einen Ruf als "Blut- und Boden-Germanist" eingehandelt.
Karl-Heinz Hahn hingegen, kenntnisreicher Goethe-Herausgeber in der DDR, war nach Kräften bemüht, Goethe vor jeder ideologischen Umarmung zu bewahren. Aber als Direktor des Goethe-und-Schiller-Archivs in Weimar konnte Hahn wohl nicht umhin der Staatsmacht hin und wieder Referenz zu erweisen. Aus seinem Vorwort zur Regestausgabe der Briefe an Goethe, 1979 verfasst:
"Als ein Zeugnis verantwortungsbewusster Förderung der Goethe- und Klassikforschung in der Deutschen Demokratischen Republik sei dieser erste Band der Öffentlichkeit übergeben."
"Die Herausgeber kommen und gehen, der Goethe-Text aber bleibt" - jener der "Weimarer Ausgabe" von 1887. Das galt bisher für das Gros der Goethe-Neuauflagen. Aber inzwischen genügt diese "Sophien-Ausgabe" den Ansprüchen moderner Editionswissenschaft nicht mehr. Schon allein deshalb nicht, weil nach ihrem Abschluss im Jahr 1919 rund 1.600 Goethe-Briefe neu aufgefunden worden sind.
"1.000 davon sind in Nachtragsbänden 1990 schon mal gedruckt worden. Von Paul Raabe - das ist auch in dieser Taschenbuchausgabe der Weimarer Ausgabe als Anhang gedruckt. Aber 600 Texte sind danach noch mal neu gefunden worden, und insgesamt muss man sagen: Die Texte sind nicht so, wie wir das heute drucken würden."
Elke Richter. Sie arbeitet auch im Weimarer Goethe-und-Schiller-Archiv und ist - wie Wolfgang Albrecht - mit einem Projekt beschäftigt, das vor mehr als zehn Jahren begonnen wurde: die historisch-kritische Ausgabe von Goethes Tagebüchern und seinen Briefen.
Diese Neuausgabe wurde auch in Angriff genommen, weil sich herausgestellt hat, dass die Editoren des 19. Jahrhunderts Eingriffe in Goethes Text vorgenommen haben, sprich: Die "Weimarer Ausgabe" von 1887 präsentiert uns Goethe ein wenig geglättet und geschönt - wie es sich eben gehört für den Dichtergott der eben geeinten deutschen Nation. Das 21. Jahrhundert pflegt andere wissenschaftliche Standards.
Richter: "Bei uns wird es so sein, dass man in dem Text selbst sämtliche Korrekturen nachweist. Also, man würde zum Beispiel die Streichungen wiedergeben als Streichungen, Überschreibungen, Korrekturen. Jede Art von Korrektur teilen wir mit. Alles, was man in den Briefen findet, findet man auch in der Ausgabe.
Das sind sehr frühe Briefe Goethes - Sie sehen, von 1765. Und zwar sind das die Briefe des Studenten Goethe aus Leipzig an seine Schwester Cornelia."
Im Lesesaal des Weimarer Goethe-Archivs. Elke Richter gewährt uns einen Blick auf die kostbaren Originale.
"Leipzig, den 12. Oktober 1765
Liebes Schwesterchen,
Es wäre unbillig, wenn ich nicht auch an Dich denken wollte. Es wäre die größte Ungerechtigkeit, die je ein Student, seit der Zeit, da Adams Kinder auf die Universität gehen, begangen hätte, wenn ich an Dich zu schreiben unterließe. Was würdest Du sagen, Schwesterchen, wenn Du mich, in meiner jetzigen Stube, sehen solltest? Du würdest ausrufen: "So ordentlich? So ordentlich. - Bruder!"
Der Brief sieht nicht eben ordentlich aus.
Richter: "Hier. Die erste Seite geht ja noch, und die zweite, hier, zum Beispiel - freihändig korrigiert und verbessert. Als Goethe dann aus Leipzig zurückkam, war er, wie er selber schreibt, erschrocken über die unglaubliche Vernachlässigung der Handschrift, die er da gesehen hat. Ja, war entsetzt eigentlich, in welchem Zustand er die Briefe abgeschickt hat."
Man sagt, Vater Johann Kaspar hätte seinem Filius die Leviten gelesen, sich über die Fehler in Briefen beschwert, die nicht für ihn bestimmt waren. – Gab es denn bei Goethes in Frankfurt kein Briefgeheimnis?
Richter: "Es war im 18. Jahrhundert allgemein üblich, dass man Briefe, die man erhielt, auch herumgereicht hat. Also, hier ist Goethe wirklich davon ausgegangen, dass die Familie die Briefe mitgelesen hat."
Woher kommen diese 1.600 Briefe, die nach Abschluss der "Weimarer Ausgabe" neu aufgefunden wurden?
Richter: "Man muss sich das so vorstellen, dass die Briefe eines Autors niemals vollständig überliefert sind. Das ist leicht nachzuvollziehen, wenn man an seine eigenen Briefe denkt - und so war das bei Goethe natürlich auch. Immer noch werden Briefe aufgefunden, die man vor hundert Jahren nicht gekannt hat. Oft aus Privatbesitz wird so was angeboten, in Auktionshäusern, ja. Auch heute noch taucht so was immer mal wieder auf."
Zum Beispiel hat das Weimarer Archiv inzwischen Goethes Briefe an Johann Christian Kestner erworben. Kestner war der Verlobte von Charlotte Buff, Werthers Lotte in Goethes Roman. Offiziell waren Goethe, Kestner und dessen Braut befreundet - in Wahrheit aber rivalisierte Goethe mit Kestner um Lottes Gunst.
1854 wurden Goethes Briefe an Kestner erstmals veröffentlicht - von Kestners Sohn August. Die Weimarer Goethe-Ausgabe hat diesen Druck übernommen. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass August Kestner so manchen Goethe-Briefe nach seinen Vorstellungen umgetextet hat. Zum Beispiel den vom 11. April 1773. - Goethe schreibt:
"Die Zugabe braucht, wie es Euch beliebt."
So steht es jedenfalls in der "Weimarer Ausgabe". Goethe hatte den Kestners im Brief vorher eine Zeitschrift als "Zugabe" beigelegt, die ihm inzwischen missfiel. Gründlich missfiel offensichtlich. Im Original hatte Goethe nämlich geschrieben:
"Die Zugabe tätet Ihr wohl, Euch den Arsch dran zu wischen."
August Kestner war für Injurien anscheinend nicht zu haben. Manchmal hat er auch ganze Passagen verschwinden lassen. Zum Beispiel in einem Brief vom 14. April 1773: Da hatte Goethe gerade erfahren, dass Kestner und Lotte geheiratet haben. Zunächst scheint es, als nähme er’s gelassen:
"Unter uns ohne Pralerey, ich versteh’ mich einigermaßen auf die Mädchen und ihr wisst wie ich geblieben bin."
Dann schwärmt Goethe ausgiebig von ein paar neuen Eroberungen - und ein paar Zeilen später packt ihn die Wut:
"Und das sag’ ich Euch, wenn Ihr Euch einfallen lasst, eifersüchtig zu werden, so halt’ ich mir’s aus, Euch mit den treffenden Zügen auf die Bühne zu bringen! Und Juden und Christen sollen über Euch lachen."
Diese Zeilen kommen in der "Weimarer Ausgabe" nicht vor - im Original sind sie mit breiter Feder gestrichen. Die Editoren der historisch-kritischen Ausgabe haben sich gefragt, wer wohl diese Streichung vorgenommen hat. Goethe selbst? Oder August Kestner mit Rücksicht auf seine Eltern?
Kürzlich hat man die Tinte, mit der gestrichen wurde, von einem Wissenschaftler prüfen lassen: Sie enthält eine Menge Chrom. Das Element Chrom wurde 1797 entdeckt - Goethes Brief ist mehr als zwanzig Jahre älter. Kestner. Also doch.
Goethe war schon zu Lebzeiten ein berühmter Mann. Wer das Glück hatte, von ihm mit Briefen bedacht zu werden, hütete sie als einen Schatz und vererbte sie an Kinder und Kindeskinder.
Richter: "Wir sind froh, wenn wir erfahren, wer Briefe besitzt, und es gibt viele, die sind sehr kooperativ. Wir haben auch gute Beziehungen zu Privatbesitzern, dürfen in die privaten Räume und dort die Briefe einsehen. Aber es gibt natürlich auch Leute, die das nicht bekannt geben, dass sie so was haben. Und dann passiert es immer wieder - vielleicht durch einen Todesfall - dass solche Dinge versteigert werden, dass man die zu Geld machen will, die werden angeboten. Wenn wir die Chance haben als Archiv, dann kaufen wir so was, aber die Mittel sind natürlich begrenzt, die Mittel der öffentlichen Hand. Ist klar."
Beim Auktionshaus "Stargard" in Berlin sind unlängst wieder 13 Goethe-Briefe versteigert worden - zwei davon hat das Goethe-Archiv in Weimar erworben. Für einen Brief, vom Dichterfürsten selbst verfasst, zahlt man heute übrigens rund 40.000 Euro.
Richter: "Und dann muss man sagen, dass viele Briefe Goethes in späterer Zeit von Schreibern geschrieben worden sind. Die sind dann auch nicht ganz so teuer."
Elke Richter und ihre Kollegen brüten seit zehn Jahren über der historisch-kritischen Ausgabe der Goethe-Briefe. Ende letzten Jahres ist der erste Band erschienen. Nach rund fünf Jahren Editions-Tätigkeit - die ersten fünf Jahre war man mit Vorarbeiten beschäftigt.
Richter: "Erstmal musste festgestellt werden: Wo sind die Briefe überall? Die sind ja nicht nur in Deutschland, sondern weltweit verstreut."
Bei Goethe kann man das wörtlich nehmen: Die Editoren haben Briefe an 200 Orten ermittelt, rund um den Globus. Der größte Teil liegt in Weimar. Einen erheblichen Bestand gibt es außerdem in Frankfurt, Leipzig, Düsseldorf und Bonn. Goethe- Briefe wurden aber auch in Übersee gesichtet. In New York zum Beispiel gibt es eine große Privatsammlung. Und in New Haven an der Yale–Universität.
Natürlich hat Goethe – eine Ikone schon zu Lebzeiten – auch sehr viele Briefe erhalten: 20.000 ungefähr im Laufe seines Lebens. Sie gehören zu Goethes Nachlass und lagern allesamt im Weimarer Archiv. Etwa 12 000 davon sind noch nirgends veröffentlicht worden. Damit das Publikum Kenntnis von ihnen erlangt, wird in Weimar gerade eine Regestausgabe besorgt. Hier werden nicht die Briefe selbst, sondern nur eine Inhaltsangabe gedruckt. Das liest sich wie folgt:
"29. September 1793. Herder, Karoline an Goethe .
Auf Goethes Frage, wie viel er für die Blattern-Inokulation seines Sohnes August geben solle, nennt H. ihm die Summe von 5 Louisdor. – Am 2.Oktober werde Herder zu Goethe nach Jena kommen."
Die Regestausgabe der Briefe an Goethe ist 1980 in der DDR begonnen worden. Gerhard Schmidt, damals stellvertretender Direktor des Goethe-und-Schiller-Archivs, erinnert sich:
"Es ist damals gesagt worden, wenn man die Briefe alle drucken würde - das wären also vierzig oder fünfzig Bände - das ist verlegerisch nicht zu schaffen. Ist auch viel zu aufwendig und zu umfangreich, also machen wir das so. Man sieht das heute zum Teil anders, aber es ist sicher notwenig und richtig, diese Ausgabe, die mittendrin steckt, nun auch zu Ende zu führen."
Wer allerdings genau wissen will, was Karoline Herder geraten hat in Sachen Blattern-Infektion von Goethes Sohn August und was über den bevorstehenden Besuch ihres Gatten Johann Gottfried besprochen wurde, muss sich nach Weimar ins Archiv bemühen und das Original in Augenschein nehmen. Man bekommt es freilich nur "für wissenschaftliche Zwecke".
Albrecht: "Die Tagebücher Goethes sind teilweise eigenhändig verfasst, und teilweise hat er sie diktiert. Ausgewählte Mitteilungen, ausgewählte Selbstmitteilungen. In Stichworten."
Montag, den 19. August 1816. Goethe notiert in sein Tagebuch:
"Cur fortgesetzt.
Vergleichende Anatomie."
Im Kommentar der historisch-kritischen Ausgabe erfahren wir, was es mit diesen Stichwörtern auf sich hat: Goethe weilte gerade im Thüringer Kurbad Tennstedt, um in den hiesigen Schwefelquellen zu baden. Den ganzen Tag Erholung allerdings war seine Sache nicht:
"Goethe sichtete ältere Aufzeichnungen, die schließlich 1820 unter dem Titel "Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie" gedruckt wurden."
Albrecht: "Die Tagebücher Goethes liegen in der erwähnten ‚Weimarer Ausgabe’ komplett vor, aber diese Ausgabe hat so gut wie keinen Kommentar. Das entscheidende Novum der neuen Ausgabe, das ist die kommentatorische Erschließung der Tagebücher."
Manchmal entdeckt Wolfgang Albrecht bei seinen Recherchen kuriose Sachen:
"Zum Beispiel der 9. April 1814. Da lauten die letzten Eintragungen: ‚Riemer. Mittag.’ Gemeint ist Friedrich Wilhelm Riemer, ein langjähriger Mitarbeiter Goethes, der also Mittag bei ihm war. Dann folgen die Einträge ‚Sprach Verhandlungen psychologische Buelletins. p.p.’ "
In der "Weimarer Ausgabe" sind diese Wörter hintereinander gedruckt - da fragt sich der Leser unwillkürlich: Was sind ‚psychologische Buelletins’? In Goethes Original-Tagebuch hingegen stehen die Wörter untereinander: jedes auf einer Zeile.
Im Kommentar der historisch-kritischen Ausgabe wird nun eigens darauf hingewiesen: Das Adjektiv "psychologisch" bezieht sich nicht etwa auf die "Bulletins", sondern offensichtlich auf Goethes "Sprachverhandlungen" mit Riemer, seinem Sekretär. In Riemers Tagebuch vom 9. April 1814 heißt es nämlich:
"Mittags bei G. Mit G. interessante Gespräche, psychologisch. Wir tauschten unsere Selbsterfahrungen gegeneinander aus."
Und was die "Bulletins" betrifft: Gemeint sind wahrscheinlich Zeitungsberichte über den Einzug der alliierten Armeen in Paris, März 1814. Inklusive der Nachricht über den Sturz eines Kaisers, der Goethe einst nach Paris gebeten hatte, damit er dort eine Caesar-Tragödie schreibt: Napoleon Bonaparte.
Albrecht: "Also, was ganz persönliche Dinge anbelangt, bleiben die Tagebücher durchgängig sehr wortkarg gewissermaßen. Es ist ja zum Beispiel viel gerätselt worden über den Eintrag an dem Tag, als seine Frau starb. Ein sehr merkwürdiges Nebeneinander von Mitteilungen."
6. Juni 1816, Goethe notiert in sein Tagebuch:
"Gut geschlafen und viel besser.
Nahes Ende meiner Frau. Letzter fürchterlicher Kampf ihrer Natur. Sie verschied gegen Mittag. Leere und Totenstille in und außer mir.
Ankunft und festlicher Einzug der Prinzessin Ida und Bernhards. Abends brillante Illumination der Stadt.
Meine Frau um 12 Nachts ins Leichenhaus.
Ich den ganzen Tag im Bett."
Christiane von Goethe wurde am 8. Juni 1816, 4 Uhr früh, auf dem Weimarer Jacobsfriedhof beigesetzt. Ihr Ehemann war nicht zugegen.
An der historisch-kritischen Goethe-Ausgabe wird man noch einige Zeit zu arbeiten haben. Zwanzig Jahre mindestens, schätzt Elke Richter mit Blick auf die Neu-Edition der Briefe:
"Kommt natürlich immer drauf an, wie viele Menschen an der Ausgabe arbeiten und sich damit beschäftigen. Je mehr das sind, je mehr wir Hilfe bekommen, auch vielleicht von außen, desto schneller kann das gehen."
Albrecht: "Die Arbeit an einem solchen Band einer historisch-kritischen Ausgabe, das ist also die anspruchsvollste Editionsform, das heißt: Textband und Kommentar dazu. Mit Register, das Register auch wieder kommentiert, da rechnet man oder benötigt man im Schnitt doch fünf Jahre."
sagt Wolfgang Albrecht für die Tagebuch-Edition. Bis zum Jahr 1816 sind Goethes Tagebücher erschienen - acht Bände stehen noch aus. Das heißt, wir werden noch rund vierzig Jahre warten müssen bis alle Goethe-Tagebücher historisch-kritisch ediert sind.
Ein sorgfältiger Kommentar braucht seine Zeit, und zwar die Zeit von Spezialisten. Computer taugen in dieser Sache nur als Hilfsarbeiter - hier ist vor allem Kopfarbeit gefragt: viel Wissen um den Geist der Goethe-Zeit, noch mehr Geduld, ein wenig detektivisches Gespür - und Lust am Rätselhaften.
"Offenbach, Sonntag, den 17ten September 1775, nachts zehn.
Lieb’ Gustchen,
Ist der Tag auch leidlich und stumpf herumgegangen, als ich aufstand, war mir’s gut, ich machte eine Scene an meinem Faust.
Vergängelte ein paar Stunden. Verliebelte ein paar mit einem Mädchen, davon dir die Brüder erzählen mögen, das ein seltsames Geschöpf ist. Aß in einer Gesellschaft. Ein Dutzend guter Jungens, so grad wie sie Gott erschaffen hat. – Und nun sitz’ ich hier, Dir gute Nacht zu sagen."
Über dieser Epistel des 26-jährigen Goethe an Augusta zu Stolberg brütet die Forschung seit langem. Augusta ist die Schwester von Goethes Freunden Fritz und Christian zu Stolberg. Aber wer ist dieses "Offenbacher Mädchen", mit dem Goethe an jenem Sonntag ein "paar Stunden verliebelte"? Dieses "seltsame Geschöpf", das die jungen Grafen Stolberg offensichtlich genauso gut kannten wie er? Bisher kursierte unter Goethe-Forschern das Gerücht, es soll sich um eine gewisse "Charlotte Nagel" gehandelt haben.
Richter: "Das stimmt eben nicht ganz. Ich hab’ hier eine ziemlich lange Anmerkung dazu gemacht, und hab’ eigentlich einen anderen Namen ermittelt: Justine Elisabeth."
Elke Richter ist wegen dieses Goethe-Briefes nach Offenbach gereist und hat in alten Kirchenbüchern nachgeschlagen.
Richter: "Tatsächlich ist in Offenbach für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts die Familie eines Kaufmanns Johann Nagel nachweisbar. Dem Eintrag ins Taufregister der Evangelisch-Reformierten Kirche Offenbach zufolge wurde am 11. November 1756 eine Tochter des Johann Nagel und seiner Frau Anna Maria geborene Leonhard auf die Namen "Justine Elisabeth" getauft.
Von ihrem Alter her könnte sie das "Offenbacher Mädchen" sein. Der in der Sekundärliteratur angegebene Vorname "Charlotte" lässt sich quellenmäßig nicht belegen."
Dass der Nachname von Goethes Gespielin "Nagel" gewesen ist, lässt sich ebenfalls nicht eindeutig belegen, liegt aber doch nahe. Denn es gibt einen Brief des Frankfurter Arztes Johann Christian Ehrmann - auch ein Freund aus Goethes jungen Jahren. Der erinnert den inzwischen 62-jährigen Dichterfürsten zu Weimar, der vor wenigen Jahren geheiratet hat, diskret an ein paar Jugendsünden:
"Zürnen Sie ja nicht mit mir, wenn ich Sie im jetzigen Ehestande an ein schoenes Madchen von Offenbach namens "Nagel" erinnere – an welchem Sie, Klinger, Haugwitz, Stolberg, Jacobi, Willemer – und Ich im Vielkampf berühmt wurden. - Man ist jung und alt in jedem Alter, sagte Chaulieu, und da ich diese Wahrheit gerne mit Ihnen gelten lassen moechte, so kann es uns an unserm moralischen Character nicht schaden, wenn wir zuweilen das seltne Glück wie Orpheus genießen, mit einem Blick in die Unterwelt zu schielen."
Goethe hätte also "in die Unterwelt geschielt". Zusammen mit sechs Freunden seines Alters, darunter Ehrmann und die beiden Grafen zu Stolberg. Vielleicht waren die auch unter jenem "Dutzend guter Jungs", grad, wie sie Gott erschaffen hat, in deren Gesellschaft Goethe dinierte.
Wovon ist hier die Rede? Von einer Orgie, einem dionysischen Fest? War Justine Elisabeth Nagel eine Hetäre des 18. Jahrhunderts? Oder einfach eine Prostituierte, die ihrem Gewerbe nachgegangen ist ?
Wer Goethes Briefe liest, den befällt "die Lust zu fabulieren". Ein Vergnügen, das sich Editoren einer historisch-kritischen Werkausgabe freilich verbieten müssen.
Richter: "Nein, so einfach machen wir’s uns nicht. Wir versuchen natürlich, Dinge quellenmäßig zu belegen, zu verifizieren und auch eventuell Neues noch aufzufinden. Indem wir uns an Archive, Bibliotheken, an (…) die Taufregister einsehen, indem wir selber Literaturrecherchen machen. Das ist uns schon sehr wichtig."
Aber ganz privat, als Leserin von Goethes Briefen, spekuliert Elke Richter gern – und mit einem Höchstmaß an Sachkenntnis - über Goethes unbekannte Freundin aus Offenbacher Tagen:
Richter: "Die Beziehung Goethes ist geheimnisvoll: Wer war dieses Mädchen, was hat er überhaupt für eine Beziehung zu ihr gehabt? Es wird noch ein bisschen interessanter, weil es genau in der Zeit war, in der er eigentlich mit Lili Schönemann verlobt war. In der er auch in Offenbach mit ihr zusammen war, sie besucht hat, bei ihren Verwandten. Und in dieser Zeit zugleich hat er eine lose Beziehung, eine Bekanntschaft mit Justine Nagel. Aber was sich wirklich abgespielt hat, lässt sich natürlich nicht mehr sagen."
Der erste der beiden Bände der historisch-kritischen Ausgabe von Goethes Briefen ist Ende 2008 erschienen. Der junge Goethe: Leipzig. Wetzlar. Frankfurt. Es sind übrigens nicht nur Texte gedruckt worden.
Richter: "Er hat in den Text hinein ‚integriert’, kann man fast sagen, kleine Zeichnungen, kleine Zierlinien. Oder auch Landschaften, die er besucht hat. Er hatte meistens Zeichenzeug dabei. Und in Leipzig zum Beispiel hat er Zeichenunterricht gehabt. Bei Oeser in der Zeichenakademie auf der Pleißenburg. Und da ist er, kann man sagen, ja: ausgebildet worden."
In Goethes Studenten-Briefen finden sich mitunter auch flüchtige Portraits. Da kann sich der Leser ein Bild machen, wie Frosch, Brander und Altmayer im richtigen Leben ausgesehen haben. Dieser trinkfreudige Studententrupp aus Goethes "Faust", dem so "kannibalisch wohl" gewesen ist "als wie fünfhundert Säuen" in Auerbachs Keller zu Leipzig.
Albrecht: "Die Herausgeber der ‚Weimarer Ausgabe’ haben wirklich eine großartige Leistung vollbracht. Man muss auch mal bedenken, dass diese insgesamt ungefähr 150-bändige Ausgabe von innerhalb von – na, rund dreißig Jahren nur erschienen ist. Das würde niemand mehr heute schaffen!"
Ab 1887 fünf Bände pro Jahr - so ist die "Weimarer Sophien-Ausgabe" erschienen. Hundert Jahre später ist es umgekehrt: Man braucht für einen Goethe-Band fünf Jahre. Die Gründe sind vor allem personeller Natur. Wer wollte heute jene fünfzig Mitarbeiter finanzieren, die an der "Sophien- Ausgabe" beteiligt waren?
Nicht fünfzig, sondern ganze sechs angestellte Wissenschaftler leistet sich die Stiftung Weimarer Klassik gegenwärtig für die neue Goethe-Edition".
Albrecht: "Ja, es ist wirklich eine Frage des Personals. Der Bereich ‚Editionen’ an der Klassikstiftung Weimar ist ziemlich klein - wir sind nicht das einzige Editions-Unternehmen an der Stiftung. Goethe steht natürlich im Mittelpunkt. Aber es sind einfach nicht mehr Mittel vorhanden!"
Aller Voraussicht nach also wird die historisch-kritische Goethe-Ausgabe auch zweihundert Jahre nach des Dichters Tod ein unvollendetes Projekt geblieben sein.
Goethe muss wohl geahnt haben, dass man mit ihm nicht fertig werden wird:
"Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergeh’n!"
"Reisetagebuch für Frau von Stein
3. September 1786
Früh 3 Uhr stahl ich mich aus Carlsbad weg, man hätte mich sonst nicht fortgelassen. Die Gräfin L. setzte auch einen entsetzlichen Trumpf darauf, ich lies mich aber nicht hindern. Denn es war Zeit. - Schöner stiller Nebelmorgen. Um 12 in Eger bei heißem Sonnenschein."
Elke Richter: "Er hat alle Arten Papier verwendet: Dünnes, handgeschöpftes Büttenpapier, aber es gibt auch abgerissene Zettelchen, kleine Blättchen mit Zierrändern. - Die meisten sind mit Tinte geschrieben, aber es gibt auch Bleistiftbriefe."
"Leipzig, den 16. Oktober 1767
Gott weiß, ich bin so dumm, so erzdumm, dass ich gar nicht weiß, wie dumm ich bin! - Meinst Du denn, ich könnte mir einbilden, dass Du fort bist?"
Ein Brief aus Goethes Studentenzeit in Leipzig an seinen Freund Ernst Wolfgang Behrisch. Behrisch ist wegen Liebeshändel über Nacht aus Leipzig nach Dessau geflüchtet - und Goethe untröstlich über den plötzlichen Verlust seines Kumpans. Der Brief hat auch einen bemerkenswerten Schluss:
"Was macht denn Mamsell Auguste? - Hölle ! Das gute Mädchen haben wir seit vier Wochen ganz vergessen. Und wenn je ein Mädchen verdient hat, dass man an sie denkt, so hat’s die verdient, merk dir das! Und wenn Sie herkömmt, so verlieb’ ich mich in sie. Und dann spielen wir einen Roman vice versa, das wird schön sein! – Gute Nacht! Ich bin besoffen wie eine Bestie."
Der Dichter selbst hat seine Briefe nicht veröffentlicht. Zwischen 1827 und 1830 erscheint bei Cotta in Stuttgart Goethes "Vollständige Ausgabe letzter Hand" - sie enthält nur sein dichterisches Werk.
Ein halbes Jahrhundert nach Goethes Tod werden seine Briefe zum Druck vorbereitet. Zwischen 1887 und 1919 erscheint die große "Weimarer Ausgabe" von Goethes Werk, insgesamt 143 Bände, Briefe und Tagebücher inklusive. Weil unter Schirmherrschaft der Herzogin Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach erstellt, wird sie auch "Sophien-Ausgabe" genannt.
"Es ist die erste große Gesamtausgabe zu einem deutschen Autor, zu einem deutschen Dichter. An dieser Ausgabe wurden gewissermaßen auch Editionsprinzipien der damaligen Zeit erprobt. Und wie man sagen muss, mit sehr gutem Erfolg."
Wolfgang Albrecht vom Goethe-und-Schiller-Archiv in Weimar.
Alle nachfolgenden Goethe-Ausgaben mit einem soliden Anspruch verdanken ihre Texte der "Sophien-Ausgabe". Dennoch: Jede Goethe-Neuauflage atmet den Geist ihrer Zeit. Diesen Geist kann man in den Kommentaren der jeweiligen Herausgeber erspüren:
"Goethes Größe ruht in dem beispiellos geschlossenen Ausdruck eines starken Einzelwesens. Er war der große Einzelne, der immer nur auf Einzelne in bestimmten Seelenlagen gewirkt hat."
heißt es im Vorwort einer Goethe-Ausgabe von 1937 besorgt von Josef Nadler. Nadler war Mitglied der NSDAP, sah in Goethe vor allem die Führer-Natur und hat sich einen Ruf als "Blut- und Boden-Germanist" eingehandelt.
Karl-Heinz Hahn hingegen, kenntnisreicher Goethe-Herausgeber in der DDR, war nach Kräften bemüht, Goethe vor jeder ideologischen Umarmung zu bewahren. Aber als Direktor des Goethe-und-Schiller-Archivs in Weimar konnte Hahn wohl nicht umhin der Staatsmacht hin und wieder Referenz zu erweisen. Aus seinem Vorwort zur Regestausgabe der Briefe an Goethe, 1979 verfasst:
"Als ein Zeugnis verantwortungsbewusster Förderung der Goethe- und Klassikforschung in der Deutschen Demokratischen Republik sei dieser erste Band der Öffentlichkeit übergeben."
"Die Herausgeber kommen und gehen, der Goethe-Text aber bleibt" - jener der "Weimarer Ausgabe" von 1887. Das galt bisher für das Gros der Goethe-Neuauflagen. Aber inzwischen genügt diese "Sophien-Ausgabe" den Ansprüchen moderner Editionswissenschaft nicht mehr. Schon allein deshalb nicht, weil nach ihrem Abschluss im Jahr 1919 rund 1.600 Goethe-Briefe neu aufgefunden worden sind.
"1.000 davon sind in Nachtragsbänden 1990 schon mal gedruckt worden. Von Paul Raabe - das ist auch in dieser Taschenbuchausgabe der Weimarer Ausgabe als Anhang gedruckt. Aber 600 Texte sind danach noch mal neu gefunden worden, und insgesamt muss man sagen: Die Texte sind nicht so, wie wir das heute drucken würden."
Elke Richter. Sie arbeitet auch im Weimarer Goethe-und-Schiller-Archiv und ist - wie Wolfgang Albrecht - mit einem Projekt beschäftigt, das vor mehr als zehn Jahren begonnen wurde: die historisch-kritische Ausgabe von Goethes Tagebüchern und seinen Briefen.
Diese Neuausgabe wurde auch in Angriff genommen, weil sich herausgestellt hat, dass die Editoren des 19. Jahrhunderts Eingriffe in Goethes Text vorgenommen haben, sprich: Die "Weimarer Ausgabe" von 1887 präsentiert uns Goethe ein wenig geglättet und geschönt - wie es sich eben gehört für den Dichtergott der eben geeinten deutschen Nation. Das 21. Jahrhundert pflegt andere wissenschaftliche Standards.
Richter: "Bei uns wird es so sein, dass man in dem Text selbst sämtliche Korrekturen nachweist. Also, man würde zum Beispiel die Streichungen wiedergeben als Streichungen, Überschreibungen, Korrekturen. Jede Art von Korrektur teilen wir mit. Alles, was man in den Briefen findet, findet man auch in der Ausgabe.
Das sind sehr frühe Briefe Goethes - Sie sehen, von 1765. Und zwar sind das die Briefe des Studenten Goethe aus Leipzig an seine Schwester Cornelia."
Im Lesesaal des Weimarer Goethe-Archivs. Elke Richter gewährt uns einen Blick auf die kostbaren Originale.
"Leipzig, den 12. Oktober 1765
Liebes Schwesterchen,
Es wäre unbillig, wenn ich nicht auch an Dich denken wollte. Es wäre die größte Ungerechtigkeit, die je ein Student, seit der Zeit, da Adams Kinder auf die Universität gehen, begangen hätte, wenn ich an Dich zu schreiben unterließe. Was würdest Du sagen, Schwesterchen, wenn Du mich, in meiner jetzigen Stube, sehen solltest? Du würdest ausrufen: "So ordentlich? So ordentlich. - Bruder!"
Der Brief sieht nicht eben ordentlich aus.
Richter: "Hier. Die erste Seite geht ja noch, und die zweite, hier, zum Beispiel - freihändig korrigiert und verbessert. Als Goethe dann aus Leipzig zurückkam, war er, wie er selber schreibt, erschrocken über die unglaubliche Vernachlässigung der Handschrift, die er da gesehen hat. Ja, war entsetzt eigentlich, in welchem Zustand er die Briefe abgeschickt hat."
Man sagt, Vater Johann Kaspar hätte seinem Filius die Leviten gelesen, sich über die Fehler in Briefen beschwert, die nicht für ihn bestimmt waren. – Gab es denn bei Goethes in Frankfurt kein Briefgeheimnis?
Richter: "Es war im 18. Jahrhundert allgemein üblich, dass man Briefe, die man erhielt, auch herumgereicht hat. Also, hier ist Goethe wirklich davon ausgegangen, dass die Familie die Briefe mitgelesen hat."
Woher kommen diese 1.600 Briefe, die nach Abschluss der "Weimarer Ausgabe" neu aufgefunden wurden?
Richter: "Man muss sich das so vorstellen, dass die Briefe eines Autors niemals vollständig überliefert sind. Das ist leicht nachzuvollziehen, wenn man an seine eigenen Briefe denkt - und so war das bei Goethe natürlich auch. Immer noch werden Briefe aufgefunden, die man vor hundert Jahren nicht gekannt hat. Oft aus Privatbesitz wird so was angeboten, in Auktionshäusern, ja. Auch heute noch taucht so was immer mal wieder auf."
Zum Beispiel hat das Weimarer Archiv inzwischen Goethes Briefe an Johann Christian Kestner erworben. Kestner war der Verlobte von Charlotte Buff, Werthers Lotte in Goethes Roman. Offiziell waren Goethe, Kestner und dessen Braut befreundet - in Wahrheit aber rivalisierte Goethe mit Kestner um Lottes Gunst.
1854 wurden Goethes Briefe an Kestner erstmals veröffentlicht - von Kestners Sohn August. Die Weimarer Goethe-Ausgabe hat diesen Druck übernommen. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass August Kestner so manchen Goethe-Briefe nach seinen Vorstellungen umgetextet hat. Zum Beispiel den vom 11. April 1773. - Goethe schreibt:
"Die Zugabe braucht, wie es Euch beliebt."
So steht es jedenfalls in der "Weimarer Ausgabe". Goethe hatte den Kestners im Brief vorher eine Zeitschrift als "Zugabe" beigelegt, die ihm inzwischen missfiel. Gründlich missfiel offensichtlich. Im Original hatte Goethe nämlich geschrieben:
"Die Zugabe tätet Ihr wohl, Euch den Arsch dran zu wischen."
August Kestner war für Injurien anscheinend nicht zu haben. Manchmal hat er auch ganze Passagen verschwinden lassen. Zum Beispiel in einem Brief vom 14. April 1773: Da hatte Goethe gerade erfahren, dass Kestner und Lotte geheiratet haben. Zunächst scheint es, als nähme er’s gelassen:
"Unter uns ohne Pralerey, ich versteh’ mich einigermaßen auf die Mädchen und ihr wisst wie ich geblieben bin."
Dann schwärmt Goethe ausgiebig von ein paar neuen Eroberungen - und ein paar Zeilen später packt ihn die Wut:
"Und das sag’ ich Euch, wenn Ihr Euch einfallen lasst, eifersüchtig zu werden, so halt’ ich mir’s aus, Euch mit den treffenden Zügen auf die Bühne zu bringen! Und Juden und Christen sollen über Euch lachen."
Diese Zeilen kommen in der "Weimarer Ausgabe" nicht vor - im Original sind sie mit breiter Feder gestrichen. Die Editoren der historisch-kritischen Ausgabe haben sich gefragt, wer wohl diese Streichung vorgenommen hat. Goethe selbst? Oder August Kestner mit Rücksicht auf seine Eltern?
Kürzlich hat man die Tinte, mit der gestrichen wurde, von einem Wissenschaftler prüfen lassen: Sie enthält eine Menge Chrom. Das Element Chrom wurde 1797 entdeckt - Goethes Brief ist mehr als zwanzig Jahre älter. Kestner. Also doch.
Goethe war schon zu Lebzeiten ein berühmter Mann. Wer das Glück hatte, von ihm mit Briefen bedacht zu werden, hütete sie als einen Schatz und vererbte sie an Kinder und Kindeskinder.
Richter: "Wir sind froh, wenn wir erfahren, wer Briefe besitzt, und es gibt viele, die sind sehr kooperativ. Wir haben auch gute Beziehungen zu Privatbesitzern, dürfen in die privaten Räume und dort die Briefe einsehen. Aber es gibt natürlich auch Leute, die das nicht bekannt geben, dass sie so was haben. Und dann passiert es immer wieder - vielleicht durch einen Todesfall - dass solche Dinge versteigert werden, dass man die zu Geld machen will, die werden angeboten. Wenn wir die Chance haben als Archiv, dann kaufen wir so was, aber die Mittel sind natürlich begrenzt, die Mittel der öffentlichen Hand. Ist klar."
Beim Auktionshaus "Stargard" in Berlin sind unlängst wieder 13 Goethe-Briefe versteigert worden - zwei davon hat das Goethe-Archiv in Weimar erworben. Für einen Brief, vom Dichterfürsten selbst verfasst, zahlt man heute übrigens rund 40.000 Euro.
Richter: "Und dann muss man sagen, dass viele Briefe Goethes in späterer Zeit von Schreibern geschrieben worden sind. Die sind dann auch nicht ganz so teuer."
Elke Richter und ihre Kollegen brüten seit zehn Jahren über der historisch-kritischen Ausgabe der Goethe-Briefe. Ende letzten Jahres ist der erste Band erschienen. Nach rund fünf Jahren Editions-Tätigkeit - die ersten fünf Jahre war man mit Vorarbeiten beschäftigt.
Richter: "Erstmal musste festgestellt werden: Wo sind die Briefe überall? Die sind ja nicht nur in Deutschland, sondern weltweit verstreut."
Bei Goethe kann man das wörtlich nehmen: Die Editoren haben Briefe an 200 Orten ermittelt, rund um den Globus. Der größte Teil liegt in Weimar. Einen erheblichen Bestand gibt es außerdem in Frankfurt, Leipzig, Düsseldorf und Bonn. Goethe- Briefe wurden aber auch in Übersee gesichtet. In New York zum Beispiel gibt es eine große Privatsammlung. Und in New Haven an der Yale–Universität.
Natürlich hat Goethe – eine Ikone schon zu Lebzeiten – auch sehr viele Briefe erhalten: 20.000 ungefähr im Laufe seines Lebens. Sie gehören zu Goethes Nachlass und lagern allesamt im Weimarer Archiv. Etwa 12 000 davon sind noch nirgends veröffentlicht worden. Damit das Publikum Kenntnis von ihnen erlangt, wird in Weimar gerade eine Regestausgabe besorgt. Hier werden nicht die Briefe selbst, sondern nur eine Inhaltsangabe gedruckt. Das liest sich wie folgt:
"29. September 1793. Herder, Karoline an Goethe .
Auf Goethes Frage, wie viel er für die Blattern-Inokulation seines Sohnes August geben solle, nennt H. ihm die Summe von 5 Louisdor. – Am 2.Oktober werde Herder zu Goethe nach Jena kommen."
Die Regestausgabe der Briefe an Goethe ist 1980 in der DDR begonnen worden. Gerhard Schmidt, damals stellvertretender Direktor des Goethe-und-Schiller-Archivs, erinnert sich:
"Es ist damals gesagt worden, wenn man die Briefe alle drucken würde - das wären also vierzig oder fünfzig Bände - das ist verlegerisch nicht zu schaffen. Ist auch viel zu aufwendig und zu umfangreich, also machen wir das so. Man sieht das heute zum Teil anders, aber es ist sicher notwenig und richtig, diese Ausgabe, die mittendrin steckt, nun auch zu Ende zu führen."
Wer allerdings genau wissen will, was Karoline Herder geraten hat in Sachen Blattern-Infektion von Goethes Sohn August und was über den bevorstehenden Besuch ihres Gatten Johann Gottfried besprochen wurde, muss sich nach Weimar ins Archiv bemühen und das Original in Augenschein nehmen. Man bekommt es freilich nur "für wissenschaftliche Zwecke".
Albrecht: "Die Tagebücher Goethes sind teilweise eigenhändig verfasst, und teilweise hat er sie diktiert. Ausgewählte Mitteilungen, ausgewählte Selbstmitteilungen. In Stichworten."
Montag, den 19. August 1816. Goethe notiert in sein Tagebuch:
"Cur fortgesetzt.
Vergleichende Anatomie."
Im Kommentar der historisch-kritischen Ausgabe erfahren wir, was es mit diesen Stichwörtern auf sich hat: Goethe weilte gerade im Thüringer Kurbad Tennstedt, um in den hiesigen Schwefelquellen zu baden. Den ganzen Tag Erholung allerdings war seine Sache nicht:
"Goethe sichtete ältere Aufzeichnungen, die schließlich 1820 unter dem Titel "Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie" gedruckt wurden."
Albrecht: "Die Tagebücher Goethes liegen in der erwähnten ‚Weimarer Ausgabe’ komplett vor, aber diese Ausgabe hat so gut wie keinen Kommentar. Das entscheidende Novum der neuen Ausgabe, das ist die kommentatorische Erschließung der Tagebücher."
Manchmal entdeckt Wolfgang Albrecht bei seinen Recherchen kuriose Sachen:
"Zum Beispiel der 9. April 1814. Da lauten die letzten Eintragungen: ‚Riemer. Mittag.’ Gemeint ist Friedrich Wilhelm Riemer, ein langjähriger Mitarbeiter Goethes, der also Mittag bei ihm war. Dann folgen die Einträge ‚Sprach Verhandlungen psychologische Buelletins. p.p.’ "
In der "Weimarer Ausgabe" sind diese Wörter hintereinander gedruckt - da fragt sich der Leser unwillkürlich: Was sind ‚psychologische Buelletins’? In Goethes Original-Tagebuch hingegen stehen die Wörter untereinander: jedes auf einer Zeile.
Im Kommentar der historisch-kritischen Ausgabe wird nun eigens darauf hingewiesen: Das Adjektiv "psychologisch" bezieht sich nicht etwa auf die "Bulletins", sondern offensichtlich auf Goethes "Sprachverhandlungen" mit Riemer, seinem Sekretär. In Riemers Tagebuch vom 9. April 1814 heißt es nämlich:
"Mittags bei G. Mit G. interessante Gespräche, psychologisch. Wir tauschten unsere Selbsterfahrungen gegeneinander aus."
Und was die "Bulletins" betrifft: Gemeint sind wahrscheinlich Zeitungsberichte über den Einzug der alliierten Armeen in Paris, März 1814. Inklusive der Nachricht über den Sturz eines Kaisers, der Goethe einst nach Paris gebeten hatte, damit er dort eine Caesar-Tragödie schreibt: Napoleon Bonaparte.
Albrecht: "Also, was ganz persönliche Dinge anbelangt, bleiben die Tagebücher durchgängig sehr wortkarg gewissermaßen. Es ist ja zum Beispiel viel gerätselt worden über den Eintrag an dem Tag, als seine Frau starb. Ein sehr merkwürdiges Nebeneinander von Mitteilungen."
6. Juni 1816, Goethe notiert in sein Tagebuch:
"Gut geschlafen und viel besser.
Nahes Ende meiner Frau. Letzter fürchterlicher Kampf ihrer Natur. Sie verschied gegen Mittag. Leere und Totenstille in und außer mir.
Ankunft und festlicher Einzug der Prinzessin Ida und Bernhards. Abends brillante Illumination der Stadt.
Meine Frau um 12 Nachts ins Leichenhaus.
Ich den ganzen Tag im Bett."
Christiane von Goethe wurde am 8. Juni 1816, 4 Uhr früh, auf dem Weimarer Jacobsfriedhof beigesetzt. Ihr Ehemann war nicht zugegen.
An der historisch-kritischen Goethe-Ausgabe wird man noch einige Zeit zu arbeiten haben. Zwanzig Jahre mindestens, schätzt Elke Richter mit Blick auf die Neu-Edition der Briefe:
"Kommt natürlich immer drauf an, wie viele Menschen an der Ausgabe arbeiten und sich damit beschäftigen. Je mehr das sind, je mehr wir Hilfe bekommen, auch vielleicht von außen, desto schneller kann das gehen."
Albrecht: "Die Arbeit an einem solchen Band einer historisch-kritischen Ausgabe, das ist also die anspruchsvollste Editionsform, das heißt: Textband und Kommentar dazu. Mit Register, das Register auch wieder kommentiert, da rechnet man oder benötigt man im Schnitt doch fünf Jahre."
sagt Wolfgang Albrecht für die Tagebuch-Edition. Bis zum Jahr 1816 sind Goethes Tagebücher erschienen - acht Bände stehen noch aus. Das heißt, wir werden noch rund vierzig Jahre warten müssen bis alle Goethe-Tagebücher historisch-kritisch ediert sind.
Ein sorgfältiger Kommentar braucht seine Zeit, und zwar die Zeit von Spezialisten. Computer taugen in dieser Sache nur als Hilfsarbeiter - hier ist vor allem Kopfarbeit gefragt: viel Wissen um den Geist der Goethe-Zeit, noch mehr Geduld, ein wenig detektivisches Gespür - und Lust am Rätselhaften.
"Offenbach, Sonntag, den 17ten September 1775, nachts zehn.
Lieb’ Gustchen,
Ist der Tag auch leidlich und stumpf herumgegangen, als ich aufstand, war mir’s gut, ich machte eine Scene an meinem Faust.
Vergängelte ein paar Stunden. Verliebelte ein paar mit einem Mädchen, davon dir die Brüder erzählen mögen, das ein seltsames Geschöpf ist. Aß in einer Gesellschaft. Ein Dutzend guter Jungens, so grad wie sie Gott erschaffen hat. – Und nun sitz’ ich hier, Dir gute Nacht zu sagen."
Über dieser Epistel des 26-jährigen Goethe an Augusta zu Stolberg brütet die Forschung seit langem. Augusta ist die Schwester von Goethes Freunden Fritz und Christian zu Stolberg. Aber wer ist dieses "Offenbacher Mädchen", mit dem Goethe an jenem Sonntag ein "paar Stunden verliebelte"? Dieses "seltsame Geschöpf", das die jungen Grafen Stolberg offensichtlich genauso gut kannten wie er? Bisher kursierte unter Goethe-Forschern das Gerücht, es soll sich um eine gewisse "Charlotte Nagel" gehandelt haben.
Richter: "Das stimmt eben nicht ganz. Ich hab’ hier eine ziemlich lange Anmerkung dazu gemacht, und hab’ eigentlich einen anderen Namen ermittelt: Justine Elisabeth."
Elke Richter ist wegen dieses Goethe-Briefes nach Offenbach gereist und hat in alten Kirchenbüchern nachgeschlagen.
Richter: "Tatsächlich ist in Offenbach für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts die Familie eines Kaufmanns Johann Nagel nachweisbar. Dem Eintrag ins Taufregister der Evangelisch-Reformierten Kirche Offenbach zufolge wurde am 11. November 1756 eine Tochter des Johann Nagel und seiner Frau Anna Maria geborene Leonhard auf die Namen "Justine Elisabeth" getauft.
Von ihrem Alter her könnte sie das "Offenbacher Mädchen" sein. Der in der Sekundärliteratur angegebene Vorname "Charlotte" lässt sich quellenmäßig nicht belegen."
Dass der Nachname von Goethes Gespielin "Nagel" gewesen ist, lässt sich ebenfalls nicht eindeutig belegen, liegt aber doch nahe. Denn es gibt einen Brief des Frankfurter Arztes Johann Christian Ehrmann - auch ein Freund aus Goethes jungen Jahren. Der erinnert den inzwischen 62-jährigen Dichterfürsten zu Weimar, der vor wenigen Jahren geheiratet hat, diskret an ein paar Jugendsünden:
"Zürnen Sie ja nicht mit mir, wenn ich Sie im jetzigen Ehestande an ein schoenes Madchen von Offenbach namens "Nagel" erinnere – an welchem Sie, Klinger, Haugwitz, Stolberg, Jacobi, Willemer – und Ich im Vielkampf berühmt wurden. - Man ist jung und alt in jedem Alter, sagte Chaulieu, und da ich diese Wahrheit gerne mit Ihnen gelten lassen moechte, so kann es uns an unserm moralischen Character nicht schaden, wenn wir zuweilen das seltne Glück wie Orpheus genießen, mit einem Blick in die Unterwelt zu schielen."
Goethe hätte also "in die Unterwelt geschielt". Zusammen mit sechs Freunden seines Alters, darunter Ehrmann und die beiden Grafen zu Stolberg. Vielleicht waren die auch unter jenem "Dutzend guter Jungs", grad, wie sie Gott erschaffen hat, in deren Gesellschaft Goethe dinierte.
Wovon ist hier die Rede? Von einer Orgie, einem dionysischen Fest? War Justine Elisabeth Nagel eine Hetäre des 18. Jahrhunderts? Oder einfach eine Prostituierte, die ihrem Gewerbe nachgegangen ist ?
Wer Goethes Briefe liest, den befällt "die Lust zu fabulieren". Ein Vergnügen, das sich Editoren einer historisch-kritischen Werkausgabe freilich verbieten müssen.
Richter: "Nein, so einfach machen wir’s uns nicht. Wir versuchen natürlich, Dinge quellenmäßig zu belegen, zu verifizieren und auch eventuell Neues noch aufzufinden. Indem wir uns an Archive, Bibliotheken, an (…) die Taufregister einsehen, indem wir selber Literaturrecherchen machen. Das ist uns schon sehr wichtig."
Aber ganz privat, als Leserin von Goethes Briefen, spekuliert Elke Richter gern – und mit einem Höchstmaß an Sachkenntnis - über Goethes unbekannte Freundin aus Offenbacher Tagen:
Richter: "Die Beziehung Goethes ist geheimnisvoll: Wer war dieses Mädchen, was hat er überhaupt für eine Beziehung zu ihr gehabt? Es wird noch ein bisschen interessanter, weil es genau in der Zeit war, in der er eigentlich mit Lili Schönemann verlobt war. In der er auch in Offenbach mit ihr zusammen war, sie besucht hat, bei ihren Verwandten. Und in dieser Zeit zugleich hat er eine lose Beziehung, eine Bekanntschaft mit Justine Nagel. Aber was sich wirklich abgespielt hat, lässt sich natürlich nicht mehr sagen."
Der erste der beiden Bände der historisch-kritischen Ausgabe von Goethes Briefen ist Ende 2008 erschienen. Der junge Goethe: Leipzig. Wetzlar. Frankfurt. Es sind übrigens nicht nur Texte gedruckt worden.
Richter: "Er hat in den Text hinein ‚integriert’, kann man fast sagen, kleine Zeichnungen, kleine Zierlinien. Oder auch Landschaften, die er besucht hat. Er hatte meistens Zeichenzeug dabei. Und in Leipzig zum Beispiel hat er Zeichenunterricht gehabt. Bei Oeser in der Zeichenakademie auf der Pleißenburg. Und da ist er, kann man sagen, ja: ausgebildet worden."
In Goethes Studenten-Briefen finden sich mitunter auch flüchtige Portraits. Da kann sich der Leser ein Bild machen, wie Frosch, Brander und Altmayer im richtigen Leben ausgesehen haben. Dieser trinkfreudige Studententrupp aus Goethes "Faust", dem so "kannibalisch wohl" gewesen ist "als wie fünfhundert Säuen" in Auerbachs Keller zu Leipzig.
Albrecht: "Die Herausgeber der ‚Weimarer Ausgabe’ haben wirklich eine großartige Leistung vollbracht. Man muss auch mal bedenken, dass diese insgesamt ungefähr 150-bändige Ausgabe von innerhalb von – na, rund dreißig Jahren nur erschienen ist. Das würde niemand mehr heute schaffen!"
Ab 1887 fünf Bände pro Jahr - so ist die "Weimarer Sophien-Ausgabe" erschienen. Hundert Jahre später ist es umgekehrt: Man braucht für einen Goethe-Band fünf Jahre. Die Gründe sind vor allem personeller Natur. Wer wollte heute jene fünfzig Mitarbeiter finanzieren, die an der "Sophien- Ausgabe" beteiligt waren?
Nicht fünfzig, sondern ganze sechs angestellte Wissenschaftler leistet sich die Stiftung Weimarer Klassik gegenwärtig für die neue Goethe-Edition".
Albrecht: "Ja, es ist wirklich eine Frage des Personals. Der Bereich ‚Editionen’ an der Klassikstiftung Weimar ist ziemlich klein - wir sind nicht das einzige Editions-Unternehmen an der Stiftung. Goethe steht natürlich im Mittelpunkt. Aber es sind einfach nicht mehr Mittel vorhanden!"
Aller Voraussicht nach also wird die historisch-kritische Goethe-Ausgabe auch zweihundert Jahre nach des Dichters Tod ein unvollendetes Projekt geblieben sein.
Goethe muss wohl geahnt haben, dass man mit ihm nicht fertig werden wird:
"Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergeh’n!"