Anglizismen unter Integrationsdruck
Der "Erste Bericht zur Lage der deutschen Sprache" lässt keinen Platz für Kulturpessimismus. Platz ist derweil sehr wohl in den Feuilletons für eine Würdigung von Nadine Gordimer.
"So übel schreiben wir gar nicht", schreibt die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG Und resümiert damit den "Ersten Bericht zur Lage der deutschen Sprache", den die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gemeinsam mit der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften in Berlin vorgestellt hat.
Dabei kam auch zur Sprache, dass die teils geliebten, teils verhassten Anglizismen unserem insgesamt pumperlgesunden Deutsch nichts anhaben können.
NZZ-Autor Joachim Güntner berichtet:
"Peter Eisenberg gab in Berlin Entwarnung: Anglizismen seien 'sehr gut an den deutschen Kernwortschatz angepasst', sie flektierten in vielen Fällen einheitlich und ständen unter einem 'erheblichen Integrationsdruck' der deutschen Grammatik. Falsch sei, Anglizismen als direkte Übernahme aus dem Englischen anzusehen. Die meisten würden im Deutschen geformt."
Auch die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG bejubelt die tolle Deutschnote, die unsere Muttersprache in Berlin bekommen hat, und seufzt zufrieden:
"Ach, wir Reichen."
Indessen muss man von der reichen und bilderreichen Sprache auch den richtigen Gebrauch machen - was dem ansonsten pfiffigen Sprachnutzer Dieter Bartezko in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG am Anfang des Artikels "Gebt doch den Domen ihren Rahmen zurück" nicht restlos gelungen ist. Bartezko schreibt:
"Eigentlich gleichen unsere riesigen Dome gestrandeten Walen. Denn ihnen fehlt ihre einstige Umbauung."
Schade um den schönen Vergleich! Gestrandeten Walen fehlt ja am wenigsten die "einstige Umbauung". Was ihnen fehlt, ist die einstige Umgebung. Und deren Fehlen ist wiederum das gemeinsame Merkmal von gestrandeten Walen und Domen in modernen Stadtlandschaften, also das Dritte des Vergleichs, das berühmte Tertium comparationis.
Wir bleiben bei der Sprache, unterlassen aber die Besserwisserei. In der Tageszeitung DIE WELT denkt Mathias Heine über "Das Selbst und das Selfie" nach.
"Selfie" – ein umgangsenglisches Wort und gleichzeitig ein Anglizismus im Deutschen, mit dem ein Selbstporträt per Handykamera bezeichnet wird - ist auf der Insel zum Wort des Jahres gekürt worden.
Mathias Heine wundert sich indessen darüber, dass es nicht der Selfie heißt:
"Auch der schon seit Mitte der Siebzigerjahre im Deutschen existierende Quickie ist ja männlich und in der Grammatik ist Analogie immer ein starkes Argument."
Dann aber ergibt sich WELT-Autor Heine dem Neutrum Selfie und versetzt sich in die Lage eines schlechtgelaunten Kulturkritikers.
"Der Bedenkenträger glaubt, bei den jungen Leuten einen unsympathischen Narzissmus zu erkennen. Das Selfie ist in dieser Weltsicht ein Quickie mit sich selbst, ein Akt der fotografischen Selbstbefriedigung. Der autoerotische Lustgewinn, für den man früher wochenlang beim Maler Modell sitzen musste, ist nun in Sekunden zu haben."
Nun denn. Der mutmaßliche Erfinder des Selfie verspürte im Augenblick der Erfindung keinen autoerotischen Lustgewinn.
Wie die TAGESZEITUNG berichtet, stand das Wort erstmalig 2002 unter der Nahaufnahme einer aufgeschwollenen Lippe. Der Kontext laut TAZ:
"'Betrunken nach einem 21. Geburtstag. Ich bin gestolpert und mit den Lippen zuerst auf der Treppenstufe gelandet. Entschuldigt den Fokus, es war ein Selfie.'"
Nun zu einer Dame, die wohl keine vergleichbaren Selfies von sich macht. Unter dem Titel "Am Kap der hoffnungslosen Hoffnung" gratuliert SZ-Autorin Meike Fessmann der südafrikanischen Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer zum 90. Geburtstag.
"Gordimers Stil ist trocken, auf einnehmende Weise spröde. Verführungskünste liegen ihr ebenso fern wie Heroismen . Ihr Schreiben lebt vom Stoff. Wie ein Kompass ist es auf die Würde des Menschen ausgerichtet."
Sie haben's gehört, liebe Hörer: Heute sprachen wir vor allem über Sprache und solche Dinge. Und das ändert sich nun auch nicht mehr. Wir küren nämlich die klangvollste Überschrift des Tages. Sie steht in der FAZ und lautet:
"Göttin der Triebe, Göttin des Traums".
Und wenn Ihnen unser Silbensalat nicht geschmeckt hat, liebe Hörer, dann verlangen Sie beim nächsten Mal – mit einer SZ-Überschrift - gleich am Anfang:
"Jetzt bitte Kunst statt Posen."