Dicke Mädchen werden eher stigmatisiert als Jungen
"Du Müllschlucker", "du verfressene Tonne": Solche Beleidigungen von Mitschülern gehören zum Alltag besonders dicker Kinder. In Großbritannien werden extrem übergewichtige Kinder aus den Familien genommen. In Deutschland werde zunächst versucht, mit den Familien zusammenzuarbeiten, sagt Susanne Wiegand von der Deutschen Adipositas Gesellschaft.
Matthias Hanselmann: Zwischen 500.000 bis zu einer Million Kinder sind es nach Schätzungen, die an Adipositas, also an Fettsucht erkrankt sind. Aktuelle, repräsentative Zahlen für Deutschland gibt es zwar nicht, sicher ist aber, Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem Sozialstatus sind von dieser Krankheit dreimal häufiger betroffen. Ist extremes Übergewicht bei Kindern auch eine Form von Kindesmisshandlung durch die Eltern. In England sagt man ja - und trennt fettleibige Kinder von ihren Eltern, um ihnen zu helfen.
Aus London Friedbert Meurer
.
Hanselmann: So viel zur Situation in England. Bei uns ist Susanna Wiegand, Kinderärztin von Beruf, seit 12 Jahren leitet Frau Wiegand die Adipositas-Sprechstunde für Kinder an der Berliner Charite. Außerdem ist sie Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter bei der Deutschen Adipositas-Gesellschaft. Willkommen im Studio, Frau Wiegand!
Susanna Wiegand: Herzlich willkommen!
Hanselmann: Haben Sie auch schon den Fall erlebt, dass ein extrem fettleibiges Kind aus der Familie genommen werden musste, um es zu schützen oder auch zu heilen, also gesunde Ernährung und Abnehmen zu ermöglichen?
Wiegand: Auch solche Fälle kennen wir hier in Deutschland, wobei es nie nur das Übergewicht ist, das starke Übergewicht, was dazu führt, dass ein Kind außerhalb der Familie betreut wird. Es ist immer ein sehr komplexes Problem. Und es ist, glaube ich, auch ganz wichtig in diesem Zusammenhang, dass Gewicht alleine nie ein Grund ist, wirklich ein Kind aus der Familie zu nehmen.
Hanselmann: Man schaut sich also die allgemeinen Verhältnisse genauer an.
Wiegand: Genau. Und es ist immer auch ein langer Prozess, und auch wir betreuen eine ganze Reihe Kinder, die nicht bei ihrer Ursprungsfamilie leben, sondern in Einrichtungen, in Heimen, in Wohngruppen, und idealerweise ist es ein Prozess, den die Eltern mit begleiten, und nur sehr selten ist es notwendig, dass ein Gericht eingeschaltet werden muss, also ein Familiengericht in diesem Fall. Meist ist es so, dass die Eltern es dann auch als Entlastung sehen und die Hilfe durchaus annehmen können.
Hanselmann: Aber diese, ich sag mal, englische Methode, die wir da eben gehört haben, kommt durchaus auch mal vor in Deutschland?
Wiegand: Das gibt es auch in Deutschland, aber noch einmal: Nie ist dann ausschließlich das Gewicht der Faktor, sondern das sind Kinder, die aus vielen anderen Gründen nicht gut versorgt sind, die oft Jahre nicht in die Schule gehen, wie in dem Beitrag auch erwähnt, das Haus nicht verlassen. Wo doch dann massive, oft auch psychiatrische Erkrankungen der Kinder, teilweise auch der Eltern dahinter stecken.
Hanselmann: Was ist denn ein typischer Fall in Ihrer Sprechstunde? Wer kommt, und wem helfen Sie?
Wiegand: Also wir im sozialpädiatrischen Zentrum der Charité-Kinderklinik sehen Kinder auf Zuweisung der niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen, die der Meinung sind, dass das Kinder sind, die zum Beispiel mit ihrem starken Übergewicht eben nicht nur eine medizinische Versorgung brauchen, sondern auch andere Berufsgruppen. Wir haben eben Psychotherapeuten, Ernährungswissenschaftler, Sozialpädagogen im Team, die dann so eine Familie auch, wie es heißt, mehrdimensional betreuen können, also in all ihren Anliegen auch entsprechend begleiten und unterstützen können.
Hanselmann: Haben Sie eigentlich Zahlen, die beweisen, dass die Adipositas-Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen wirklich extrem steigen, so wie man das immer wieder liest?
Wiegand: Das ist ein guter Punkt, weil wir in Deutschland sehr wenig repräsentative Daten haben. Der einzige Zeitpunkt, wo alle Kinder angeschaut werden, ist die sogenannte Schuleingangsuntersuchung vor der Einschulung. Da sind die Zahlen konstant bis leicht rückläufig in den letzten zehn Jahren. Aber es sieht so aus, dass in den, gerade bei Jugendlichen doch die Anzahl an extrem übergewichtigen Jugendlichen zunimmt, aber noch mal: Wir haben keine repräsentativen Zahlen, es gibt nicht mehr flächendeckend so etwas wie die Schulausgangsuntersuchung früher, also im zehnten Schuljahr. Da werden nur noch einzelne Gruppen angeschaut. Also auch da ein Defizit einfach an harten Daten, die wir leider nicht haben.
Hanselmann: Nun ist ja die Frage, ob man dicker oder dünner ist, nicht immer eine Frage dessen, wie viel man in sich hineinschaufelt, sondern durchaus auch eine genetische Frage oder eine Frage von zum Beispiel Stoffwechselkrankheiten. Wie ist denn da so ungefähr der Proporz, der Anteil?
Wiegand: Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den man immer berücksichtigen muss, weil starkes Übergewicht ja so eine sehr stigmatisierende Erkrankung ist. Die Gewichtsentwicklung ist sehr komplex reguliert und wir alle haben etwa 50 Prozent angeborenen Anteil, was unsere Gewichtsentwicklung betrifft. Also, ob wir das Glück haben, uns nicht um unser Gewicht kümmern zu müssen oder eben doch intensiv, ist zu etwa 50 Prozent, also 40 bis 70, so ist die Datenlage dazu, eben in den Genen angelegt.
Hanselmann: Was sind denn aus Ihrer Erfahrung die Hauptursachen für Fettleibigkeit bei Kindern? Wir haben eben gesprochen vom sozialen Umfeld, die Rolle der Eltern ist wichtig dafür, es gibt Formen der Vernachlässigung, also - was ist die häufigste Ursache für Adipositas?
Wiegand: Für alle Kinder hat sich die Lebensumwelt sehr stark verändert, das Nahrungsmittelangebot hat sich geändert hin zu immer mehr industriell hergestellter Nahrung, die dann tendenziell zu viel Zucker und Fett enthält. Alle Kinder bewegen sich weniger, Mobilität hat sich verändert. Ein längerer Schulweg zu Fuß war für unsere Eltern noch selbstverständlich, ist jetzt eher ungewöhnlich. Das sind alles Dinge, sogenannte Lifestyle-Faktoren, die alle Kinder betreffen. Und dann gibt es eben Kinder, die besonders betroffen sind, wo die Eltern eben aus ganz unterschiedlichen Gründen sie nicht ausreichend mit entsprechend gesunder Nahrung versorgen können, die Freizeit nicht so gestalten können, dass die Kinder aktiv sein können. Medien ist ein ganz großer Punkt, also die Zeit, die vor Bildschirmen - egal welcher Größe - verbracht wird, hat für alle Kinder sich in den letzten zehn Jahren etwa verdoppelt, auch das ist ein Faktor, der auf der anderen Seite die Aktivität der Kinder reduziert.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton, wir sprechen mit Susanne Wiegand von der Deutschen Adipositas-Gesellschaft über das Problem von Fettleibigkeit bei Kindern. Frau Wiegand ist außerdem seit zwölf Jahren in der Adipositas-Beratungsstelle für Kinder der Charité in Berlin tätig. Frau Wiegand, wo ziehen Sie eigentlich die Grenze zwischen "normalem" Übergewicht, in Anführungsstrichen, und tatsächlicher Krankheit?
Wiegand: Auch das ist eine gute Frage, weil es ist nie absolut das Gewicht, was wirklich den Krankheitswert ausmacht. Wir untersuchen die Kinder auch sehr genau bezüglich ihrer Stoffwechselsituation. Da sehen wir bei einigen Kindern, auch wenn sie noch gar nicht so stark übergewichtig sind, Veränderungen, die wir eigentlich von älteren Menschen kennen. Mit hohen Blutfetten, hohen Insulinwerten, einem hohen Blutdruck, also sogenannten metabolischen Veränderungen. Auch da muss man schauen, wie ist das Muster, und wann muss man solche Kinder auch möglicherweise schon sehr früh zusätzlich behandeln.
Hanselmann: Wie sehen sich die Kinder eigentlich selbst, wenn sie zu Ihnen in die Praxis kommen?
Wiegand: Auch dazu gibt es relativ gute Untersuchungen. Kinder nehmen das natürlich sehr unterschiedlich wahr, aber das Gefühl, dass Kinder nicht darunter leiden, trügt, das ist sehr gut untersucht. Gerade stark übergewichtige Kinder fühlen sich ähnlich eingeschränkt in ihrer gesundheitsbezogenen Lebensqualität wie Kinder, die an Krebs erkrankt sind. Das hat uns sehr verblüfft, diese Ergebnisse. Und, das ist auch noch ganz spannend, es gibt einen Gender-Aspekt, also stark übergewichtige Jungs leiden weniger darunter, sind eher in der Wahrnehmung ihrer Peer-Group stark, durchsetzungsfähig, wogegen stark übergewichtige Mädchen wesentlich stärker gehänselt werden, aber auch von verbaler und körperlicher Aggression betroffen sind. Also da wirklich ein großer Unterschied. Das ist auch wichtig, wenn wir mit diesen Jugendlichen arbeiten. Da ist gerade Selbstwertstärkung bei Mädchen, wieder rausgehen, sich etwas trauen ein ganz wichtiger Punkt.
Hanselmann: Sie haben es schon angesprochen, manchmal muss das Jugendamt eingeschaltet werden, aber das dürfte doch auch manchmal sehr schwer sein. Also, was muss dem vorausgegangen sein, dass Sie sich ans Jugendamt wenden?
Wiegand: Dieser Begriff, sich ans Jugendamt wenden, hat ja so einen gewissen negativen Touch, es geht ja darum, mit den Familien gemeinsam zu schauen, wie kann man die Situation für die Kinder verbessern. Und das ist durchaus etwas, was wir oft anbieten und auch mit den Familien gemeinsam angehen. Wir haben eine sehr erfahrenen Sozialpädagogin im Team, die dann mit den Familien gemeinsam, und das ist wirklich, ich betone es noch mal, immer der Weg, den wir versuchen, zu beschreiten, die Familien zu unterstützen, Hilfen zur Erziehung anzunehmen, also für eine Zeit die Unterstützung einer Familienhelferin oder eines Familienhelfers zum Beispiel zu beantragen. Das sind Dinge, die sind relativ niederschwellig und sind immer der erste Schritt. Das, was wir aus dem Bericht aus England gehört haben, ist immer wirklich das Ende einer ganz langen Kette und in den meisten Fällen doch vermeidbar.
Hanselmann: Danke schön, herzlichen Dank, Frau Wiegand, für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hanselmann: So viel zur Situation in England. Bei uns ist Susanna Wiegand, Kinderärztin von Beruf, seit 12 Jahren leitet Frau Wiegand die Adipositas-Sprechstunde für Kinder an der Berliner Charite. Außerdem ist sie Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter bei der Deutschen Adipositas-Gesellschaft. Willkommen im Studio, Frau Wiegand!
Susanna Wiegand: Herzlich willkommen!
Hanselmann: Haben Sie auch schon den Fall erlebt, dass ein extrem fettleibiges Kind aus der Familie genommen werden musste, um es zu schützen oder auch zu heilen, also gesunde Ernährung und Abnehmen zu ermöglichen?
Wiegand: Auch solche Fälle kennen wir hier in Deutschland, wobei es nie nur das Übergewicht ist, das starke Übergewicht, was dazu führt, dass ein Kind außerhalb der Familie betreut wird. Es ist immer ein sehr komplexes Problem. Und es ist, glaube ich, auch ganz wichtig in diesem Zusammenhang, dass Gewicht alleine nie ein Grund ist, wirklich ein Kind aus der Familie zu nehmen.
Hanselmann: Man schaut sich also die allgemeinen Verhältnisse genauer an.
Wiegand: Genau. Und es ist immer auch ein langer Prozess, und auch wir betreuen eine ganze Reihe Kinder, die nicht bei ihrer Ursprungsfamilie leben, sondern in Einrichtungen, in Heimen, in Wohngruppen, und idealerweise ist es ein Prozess, den die Eltern mit begleiten, und nur sehr selten ist es notwendig, dass ein Gericht eingeschaltet werden muss, also ein Familiengericht in diesem Fall. Meist ist es so, dass die Eltern es dann auch als Entlastung sehen und die Hilfe durchaus annehmen können.
Hanselmann: Aber diese, ich sag mal, englische Methode, die wir da eben gehört haben, kommt durchaus auch mal vor in Deutschland?
Wiegand: Das gibt es auch in Deutschland, aber noch einmal: Nie ist dann ausschließlich das Gewicht der Faktor, sondern das sind Kinder, die aus vielen anderen Gründen nicht gut versorgt sind, die oft Jahre nicht in die Schule gehen, wie in dem Beitrag auch erwähnt, das Haus nicht verlassen. Wo doch dann massive, oft auch psychiatrische Erkrankungen der Kinder, teilweise auch der Eltern dahinter stecken.
Hanselmann: Was ist denn ein typischer Fall in Ihrer Sprechstunde? Wer kommt, und wem helfen Sie?
Wiegand: Also wir im sozialpädiatrischen Zentrum der Charité-Kinderklinik sehen Kinder auf Zuweisung der niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen, die der Meinung sind, dass das Kinder sind, die zum Beispiel mit ihrem starken Übergewicht eben nicht nur eine medizinische Versorgung brauchen, sondern auch andere Berufsgruppen. Wir haben eben Psychotherapeuten, Ernährungswissenschaftler, Sozialpädagogen im Team, die dann so eine Familie auch, wie es heißt, mehrdimensional betreuen können, also in all ihren Anliegen auch entsprechend begleiten und unterstützen können.
Hanselmann: Haben Sie eigentlich Zahlen, die beweisen, dass die Adipositas-Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen wirklich extrem steigen, so wie man das immer wieder liest?
Wiegand: Das ist ein guter Punkt, weil wir in Deutschland sehr wenig repräsentative Daten haben. Der einzige Zeitpunkt, wo alle Kinder angeschaut werden, ist die sogenannte Schuleingangsuntersuchung vor der Einschulung. Da sind die Zahlen konstant bis leicht rückläufig in den letzten zehn Jahren. Aber es sieht so aus, dass in den, gerade bei Jugendlichen doch die Anzahl an extrem übergewichtigen Jugendlichen zunimmt, aber noch mal: Wir haben keine repräsentativen Zahlen, es gibt nicht mehr flächendeckend so etwas wie die Schulausgangsuntersuchung früher, also im zehnten Schuljahr. Da werden nur noch einzelne Gruppen angeschaut. Also auch da ein Defizit einfach an harten Daten, die wir leider nicht haben.
Hanselmann: Nun ist ja die Frage, ob man dicker oder dünner ist, nicht immer eine Frage dessen, wie viel man in sich hineinschaufelt, sondern durchaus auch eine genetische Frage oder eine Frage von zum Beispiel Stoffwechselkrankheiten. Wie ist denn da so ungefähr der Proporz, der Anteil?
Wiegand: Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den man immer berücksichtigen muss, weil starkes Übergewicht ja so eine sehr stigmatisierende Erkrankung ist. Die Gewichtsentwicklung ist sehr komplex reguliert und wir alle haben etwa 50 Prozent angeborenen Anteil, was unsere Gewichtsentwicklung betrifft. Also, ob wir das Glück haben, uns nicht um unser Gewicht kümmern zu müssen oder eben doch intensiv, ist zu etwa 50 Prozent, also 40 bis 70, so ist die Datenlage dazu, eben in den Genen angelegt.
Hanselmann: Was sind denn aus Ihrer Erfahrung die Hauptursachen für Fettleibigkeit bei Kindern? Wir haben eben gesprochen vom sozialen Umfeld, die Rolle der Eltern ist wichtig dafür, es gibt Formen der Vernachlässigung, also - was ist die häufigste Ursache für Adipositas?
Wiegand: Für alle Kinder hat sich die Lebensumwelt sehr stark verändert, das Nahrungsmittelangebot hat sich geändert hin zu immer mehr industriell hergestellter Nahrung, die dann tendenziell zu viel Zucker und Fett enthält. Alle Kinder bewegen sich weniger, Mobilität hat sich verändert. Ein längerer Schulweg zu Fuß war für unsere Eltern noch selbstverständlich, ist jetzt eher ungewöhnlich. Das sind alles Dinge, sogenannte Lifestyle-Faktoren, die alle Kinder betreffen. Und dann gibt es eben Kinder, die besonders betroffen sind, wo die Eltern eben aus ganz unterschiedlichen Gründen sie nicht ausreichend mit entsprechend gesunder Nahrung versorgen können, die Freizeit nicht so gestalten können, dass die Kinder aktiv sein können. Medien ist ein ganz großer Punkt, also die Zeit, die vor Bildschirmen - egal welcher Größe - verbracht wird, hat für alle Kinder sich in den letzten zehn Jahren etwa verdoppelt, auch das ist ein Faktor, der auf der anderen Seite die Aktivität der Kinder reduziert.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton, wir sprechen mit Susanne Wiegand von der Deutschen Adipositas-Gesellschaft über das Problem von Fettleibigkeit bei Kindern. Frau Wiegand ist außerdem seit zwölf Jahren in der Adipositas-Beratungsstelle für Kinder der Charité in Berlin tätig. Frau Wiegand, wo ziehen Sie eigentlich die Grenze zwischen "normalem" Übergewicht, in Anführungsstrichen, und tatsächlicher Krankheit?
Wiegand: Auch das ist eine gute Frage, weil es ist nie absolut das Gewicht, was wirklich den Krankheitswert ausmacht. Wir untersuchen die Kinder auch sehr genau bezüglich ihrer Stoffwechselsituation. Da sehen wir bei einigen Kindern, auch wenn sie noch gar nicht so stark übergewichtig sind, Veränderungen, die wir eigentlich von älteren Menschen kennen. Mit hohen Blutfetten, hohen Insulinwerten, einem hohen Blutdruck, also sogenannten metabolischen Veränderungen. Auch da muss man schauen, wie ist das Muster, und wann muss man solche Kinder auch möglicherweise schon sehr früh zusätzlich behandeln.
Hanselmann: Wie sehen sich die Kinder eigentlich selbst, wenn sie zu Ihnen in die Praxis kommen?
Wiegand: Auch dazu gibt es relativ gute Untersuchungen. Kinder nehmen das natürlich sehr unterschiedlich wahr, aber das Gefühl, dass Kinder nicht darunter leiden, trügt, das ist sehr gut untersucht. Gerade stark übergewichtige Kinder fühlen sich ähnlich eingeschränkt in ihrer gesundheitsbezogenen Lebensqualität wie Kinder, die an Krebs erkrankt sind. Das hat uns sehr verblüfft, diese Ergebnisse. Und, das ist auch noch ganz spannend, es gibt einen Gender-Aspekt, also stark übergewichtige Jungs leiden weniger darunter, sind eher in der Wahrnehmung ihrer Peer-Group stark, durchsetzungsfähig, wogegen stark übergewichtige Mädchen wesentlich stärker gehänselt werden, aber auch von verbaler und körperlicher Aggression betroffen sind. Also da wirklich ein großer Unterschied. Das ist auch wichtig, wenn wir mit diesen Jugendlichen arbeiten. Da ist gerade Selbstwertstärkung bei Mädchen, wieder rausgehen, sich etwas trauen ein ganz wichtiger Punkt.
Hanselmann: Sie haben es schon angesprochen, manchmal muss das Jugendamt eingeschaltet werden, aber das dürfte doch auch manchmal sehr schwer sein. Also, was muss dem vorausgegangen sein, dass Sie sich ans Jugendamt wenden?
Wiegand: Dieser Begriff, sich ans Jugendamt wenden, hat ja so einen gewissen negativen Touch, es geht ja darum, mit den Familien gemeinsam zu schauen, wie kann man die Situation für die Kinder verbessern. Und das ist durchaus etwas, was wir oft anbieten und auch mit den Familien gemeinsam angehen. Wir haben eine sehr erfahrenen Sozialpädagogin im Team, die dann mit den Familien gemeinsam, und das ist wirklich, ich betone es noch mal, immer der Weg, den wir versuchen, zu beschreiten, die Familien zu unterstützen, Hilfen zur Erziehung anzunehmen, also für eine Zeit die Unterstützung einer Familienhelferin oder eines Familienhelfers zum Beispiel zu beantragen. Das sind Dinge, die sind relativ niederschwellig und sind immer der erste Schritt. Das, was wir aus dem Bericht aus England gehört haben, ist immer wirklich das Ende einer ganz langen Kette und in den meisten Fällen doch vermeidbar.
Hanselmann: Danke schön, herzlichen Dank, Frau Wiegand, für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.