Dickens' Themen noch heute aktuell
Nach Ansicht des Literaturwissenschaftlers Uwe Böker sind die Themen Kinderarmut, Elend und Kriminalität, um die Charles Dickens' Roman "Oliver Twist" kreist, auch heute noch relevant. Kinder seien zu Charles Dickens Zeiten aber noch ungeschützter gewesen. Polanskis Romanverfilmung "Oliver Twist" kommt nun ins Kino.
Wuttke: Prof. Uwe Böker ist Literaturwissenschaftler in Dresden und Dickens-Kenner. Guten Tag!
Böker: Guten Tag!
Wuttke: Ist "Oliver Twist" eine Geschichte für Kinder? Gibt diese Geschichte etwas zu denken auf?
Böker: Sicher ist es also zunächst mal eine Geschichte für Kinder, aber vor allen Dingen über Kinder in einer Zeit des Hochkapitalismus in Großbritannien. Eine Geschichte, die eigentlich märchenhaft angelegt ist wie vieles bei Dickens. Eine deutliche Scheidung in Gut und Böse, aber das ist natürlich nicht immer so in Dickens Romanen.
Wuttke: Kinder, Armut, Elend und Kriminalität - heute genauso ein Problem wie Mitte des 19. Jahrhunderts - macht auch das den Roman zu einem Klassiker?
Böker: Sicherlich. Das sind natürlich Probleme zu Dickens Zeiten, die sehr viel schärfer zutage treten, da die Gesetzgebung also sehr viel Freiraum lässt, also zum Beispiel für die Kinderarbeit zu einem Zeitpunkt, als es in England gerade mal erste Ansätze zu einer Polizei gibt. Also, es sind sehr viel schärfere Zustände, es sind Bedingungen die Dickens aufgreift, die in gewisser Weise natürlich vergleichbar sind mit heutigen aber doch - würde ich sagen - sehr viel brisanter, weil Kinder ungeschützt waren. Man weiß ja von den kleinen Jungen, die hier so als Schornsteinfeger in Schornsteinen unterwegs waren, weil man als normaler Erwachsener natürlich nicht durch den Kamin passte. Kinder, die in Bergwerken Untertage arbeiten mussten, derartiges gibt es natürlich heute in Deutschland, in Europa nicht - natürlich anderswo auf der Welt.
Wuttke: Dickens ist ein englischer Autor. Damals war England noch das große Kolonialreich und man kann ja - Sie haben einschränkend gesagt in Europa gäbe es diese Kinderarmut, dieses Elend nicht mehr, aber wir leben inzwischen in einer globalisierten Welt, in der diese Themen durchaus noch sehr, sehr virulent sind. Wie ist es denn mit Ihrer Einschätzung, gibt es heute auch noch Autoren, die dieses Thema so aufgreifen, wie Dickens es damals getan hat? Oder ist durch die Globalisierung Armut und Elend zu etwas Abstraktem geworden?
Böker: Das glaube ich nicht. Das ist für Autoren vor Ort, sagen wir mal in Indien oder in Indonesien oder in der Türkei, natürlich ein ganz brennendes Problem. Der Unterschied zu Dickens ist sicherlich in vieler Hinsicht, dass Dickens sehr viel stärker auf seine viktorianischen Leser eingeht, versucht noch, die Sympathie der Leser zu gewinnen und dann natürlich in seinen späten Werken sehr kritisch mit den englischen Institutionen umgeht.
Wuttke: Sie haben ja sehr eindrücklich geschildert, wie es damals um Kinderarbeit und Kinderarmut stand. Dass Dickens diese Geschichte "Oliver Twist" und nicht nur diese so genau erzählen konnte, dieses Milieu so genau schildern konnte, das lag ja auch ein bisschen an seiner Biografie. Er hat ja als Zehnjähriger schon Schuhwichse in Dosen füllen müssen, und das war ja eine Arbeit, die ihn ja wohl sehr gedemütigt hat.
Böker: Ja, das scheint also nach allgemeiner Auffassung der Literaturwissenschaft und also auch - sagen wir mal - psychoanalytisch orientierter Interpreten sozusagen ein traumatisches Erlebnis gewesen zu sein. Er hat ja selbst gesagt, wie leicht man in einem solchen Alter weggeworfen werden kann, dass man also degradiert sei zu einem kleinen Kuli. Und Kummer und Schmach an diese Erinnerung, die hat ihn also wohl sein ganzes Leben verfolgt. Und deshalb hat er auch sehr viele Kinder in anderen Werken, die ähnlichen Problemen des Ausgesetztseins, Verlassenseins konfrontiert sind.
Wuttke: Roman Polanski hat gesagt, sein Film sei so hart, wie Dickens gewesen sei. War Dickens ein harter Brocken?
Böker: Sie meinen jetzt harter Brocken in welcher Hinsicht?
Wuttke: Ein menschlicher Faktor.
Böker: Ja. Natürlich war er besessen vom Schreiben, war er besessen davon, in diesem Beruf voranzukommen, Geltung zu erlangen und darunter hatte seine Ehefrau zu leiden gehabt...
Wuttke: Die ihm immerhin zehn Kinder geboren hat!
Böker: Ja, aber manchmal wusste er gar nicht, was er damit anfangen sollte. Das war ihm alles zu viel. Ja, harter Brocken insofern schon.
Wuttke: Es heißt, er sei im Alter auch immer exzentrischer, immer arroganter und immer aufbrausender geworden. Gleichzeitig war er schon mit Mitte 30 jemand, der sich quasi ständig einen Arzt an die Seite holte. Zumindest kann man festhalten ein sehr nervöser Charakter.
Böker: Naja, das hängt also zusammen, kann man so sagen, mit seiner Arbeitswut. Er ist ja auch zwischendurch durch London gelaufen, kilometerlange Wege gegangen, aber vor allem seine Arbeitswut, und auch die Tatsache, dass er zeitweise an zwei Texten nebeneinander gearbeitet hat. Man muss natürlich wissen, dass seine Romane in wöchentlichen oder in monatlichen Lieferungen erschienen, und er hat immer sofort zugegriffen, wenn sich eine neue Möglichkeit ergeben hat. Und so sind zum Beispiel "Die Pickwickier??" und "Oliver Twist" nebeneinander entstanden.
Wuttke: 57 Jahre alt ist Charles Dickens geworden und nachdem, was Sie jetzt gerade geschildert haben, würde man ihn heute einen Workaholic nennen. Der hat sein Geld auch gerne mit Lesetouren verdient, er ist ja sowieso ein reicher Mann gewesen. Und, um noch mal auf "Oliver Twist" zurückzukommen, beim Mord an Nancy damals fielen die Damen reihenweise bei den Lesungen in Ohnmacht. Verstand man "Oliver Twist" zumindest in bestimmten Schichten damals vor allem als Thriller?
Böker: Ja, diese Thrillerelemente sind natürlich bei Dickens sehr stark ausgeprägt. In allen seinen Romanen gibt es Geheimnisse, dieses detektivische Element ist ausgeprägt. Also so ein Aspekt, der mit Dickens Erzähltechnik auch zu tun hat, denn wenn man den Leser über einen längeren Zeitraum beim Zaume halten will, dann muss man die Texte ja auch so anlegen, dass am Ende einer Fortsetzungslieferung zum Spannungshöhepunkt kommt.
Wuttke: Das heißt, zu damaliger Zeit hat "Oliver Twist" weniger zu denken aufgegeben, als dass er sie unterhalten hat.
Böker: Ja, unterhalten und natürlich, weil es bei Dickens ja sehr viele Figuren gibt, die grotesk überzeichnet sind oder sentimental - viele Figuren haben den Leser gerührt, sentimental. Sie hatten vorhin erwähnt, dass die Damen - aber sicher auch die Männer - zu weinen angefangen haben.
Wuttke: Überliefert sind natürlich immer nur die Damen, das war ja damals üblich.
Böker: Nein, also bei den Lesungen, also bei den Freunden gab es also auch derartige Bekundungen. Auf jeden Fall, dieses rührselige Element, das ja auch mit der Vorliebe für das Melodrama im 19. Jahrhundert zu tun hat, das ist natürlich bei Dickens sehr stark ausgeprägt und das hat auch bei den Lesungen sehr viel Wirkung gebracht.
Wuttke: Der Literaturwissenschaftler Uwe Böker über Charles Dickens. Herzlichen Dank, Herr Böker!
Böker: Wiedersehen!
Böker: Guten Tag!
Wuttke: Ist "Oliver Twist" eine Geschichte für Kinder? Gibt diese Geschichte etwas zu denken auf?
Böker: Sicher ist es also zunächst mal eine Geschichte für Kinder, aber vor allen Dingen über Kinder in einer Zeit des Hochkapitalismus in Großbritannien. Eine Geschichte, die eigentlich märchenhaft angelegt ist wie vieles bei Dickens. Eine deutliche Scheidung in Gut und Böse, aber das ist natürlich nicht immer so in Dickens Romanen.
Wuttke: Kinder, Armut, Elend und Kriminalität - heute genauso ein Problem wie Mitte des 19. Jahrhunderts - macht auch das den Roman zu einem Klassiker?
Böker: Sicherlich. Das sind natürlich Probleme zu Dickens Zeiten, die sehr viel schärfer zutage treten, da die Gesetzgebung also sehr viel Freiraum lässt, also zum Beispiel für die Kinderarbeit zu einem Zeitpunkt, als es in England gerade mal erste Ansätze zu einer Polizei gibt. Also, es sind sehr viel schärfere Zustände, es sind Bedingungen die Dickens aufgreift, die in gewisser Weise natürlich vergleichbar sind mit heutigen aber doch - würde ich sagen - sehr viel brisanter, weil Kinder ungeschützt waren. Man weiß ja von den kleinen Jungen, die hier so als Schornsteinfeger in Schornsteinen unterwegs waren, weil man als normaler Erwachsener natürlich nicht durch den Kamin passte. Kinder, die in Bergwerken Untertage arbeiten mussten, derartiges gibt es natürlich heute in Deutschland, in Europa nicht - natürlich anderswo auf der Welt.
Wuttke: Dickens ist ein englischer Autor. Damals war England noch das große Kolonialreich und man kann ja - Sie haben einschränkend gesagt in Europa gäbe es diese Kinderarmut, dieses Elend nicht mehr, aber wir leben inzwischen in einer globalisierten Welt, in der diese Themen durchaus noch sehr, sehr virulent sind. Wie ist es denn mit Ihrer Einschätzung, gibt es heute auch noch Autoren, die dieses Thema so aufgreifen, wie Dickens es damals getan hat? Oder ist durch die Globalisierung Armut und Elend zu etwas Abstraktem geworden?
Böker: Das glaube ich nicht. Das ist für Autoren vor Ort, sagen wir mal in Indien oder in Indonesien oder in der Türkei, natürlich ein ganz brennendes Problem. Der Unterschied zu Dickens ist sicherlich in vieler Hinsicht, dass Dickens sehr viel stärker auf seine viktorianischen Leser eingeht, versucht noch, die Sympathie der Leser zu gewinnen und dann natürlich in seinen späten Werken sehr kritisch mit den englischen Institutionen umgeht.
Wuttke: Sie haben ja sehr eindrücklich geschildert, wie es damals um Kinderarbeit und Kinderarmut stand. Dass Dickens diese Geschichte "Oliver Twist" und nicht nur diese so genau erzählen konnte, dieses Milieu so genau schildern konnte, das lag ja auch ein bisschen an seiner Biografie. Er hat ja als Zehnjähriger schon Schuhwichse in Dosen füllen müssen, und das war ja eine Arbeit, die ihn ja wohl sehr gedemütigt hat.
Böker: Ja, das scheint also nach allgemeiner Auffassung der Literaturwissenschaft und also auch - sagen wir mal - psychoanalytisch orientierter Interpreten sozusagen ein traumatisches Erlebnis gewesen zu sein. Er hat ja selbst gesagt, wie leicht man in einem solchen Alter weggeworfen werden kann, dass man also degradiert sei zu einem kleinen Kuli. Und Kummer und Schmach an diese Erinnerung, die hat ihn also wohl sein ganzes Leben verfolgt. Und deshalb hat er auch sehr viele Kinder in anderen Werken, die ähnlichen Problemen des Ausgesetztseins, Verlassenseins konfrontiert sind.
Wuttke: Roman Polanski hat gesagt, sein Film sei so hart, wie Dickens gewesen sei. War Dickens ein harter Brocken?
Böker: Sie meinen jetzt harter Brocken in welcher Hinsicht?
Wuttke: Ein menschlicher Faktor.
Böker: Ja. Natürlich war er besessen vom Schreiben, war er besessen davon, in diesem Beruf voranzukommen, Geltung zu erlangen und darunter hatte seine Ehefrau zu leiden gehabt...
Wuttke: Die ihm immerhin zehn Kinder geboren hat!
Böker: Ja, aber manchmal wusste er gar nicht, was er damit anfangen sollte. Das war ihm alles zu viel. Ja, harter Brocken insofern schon.
Wuttke: Es heißt, er sei im Alter auch immer exzentrischer, immer arroganter und immer aufbrausender geworden. Gleichzeitig war er schon mit Mitte 30 jemand, der sich quasi ständig einen Arzt an die Seite holte. Zumindest kann man festhalten ein sehr nervöser Charakter.
Böker: Naja, das hängt also zusammen, kann man so sagen, mit seiner Arbeitswut. Er ist ja auch zwischendurch durch London gelaufen, kilometerlange Wege gegangen, aber vor allem seine Arbeitswut, und auch die Tatsache, dass er zeitweise an zwei Texten nebeneinander gearbeitet hat. Man muss natürlich wissen, dass seine Romane in wöchentlichen oder in monatlichen Lieferungen erschienen, und er hat immer sofort zugegriffen, wenn sich eine neue Möglichkeit ergeben hat. Und so sind zum Beispiel "Die Pickwickier??" und "Oliver Twist" nebeneinander entstanden.
Wuttke: 57 Jahre alt ist Charles Dickens geworden und nachdem, was Sie jetzt gerade geschildert haben, würde man ihn heute einen Workaholic nennen. Der hat sein Geld auch gerne mit Lesetouren verdient, er ist ja sowieso ein reicher Mann gewesen. Und, um noch mal auf "Oliver Twist" zurückzukommen, beim Mord an Nancy damals fielen die Damen reihenweise bei den Lesungen in Ohnmacht. Verstand man "Oliver Twist" zumindest in bestimmten Schichten damals vor allem als Thriller?
Böker: Ja, diese Thrillerelemente sind natürlich bei Dickens sehr stark ausgeprägt. In allen seinen Romanen gibt es Geheimnisse, dieses detektivische Element ist ausgeprägt. Also so ein Aspekt, der mit Dickens Erzähltechnik auch zu tun hat, denn wenn man den Leser über einen längeren Zeitraum beim Zaume halten will, dann muss man die Texte ja auch so anlegen, dass am Ende einer Fortsetzungslieferung zum Spannungshöhepunkt kommt.
Wuttke: Das heißt, zu damaliger Zeit hat "Oliver Twist" weniger zu denken aufgegeben, als dass er sie unterhalten hat.
Böker: Ja, unterhalten und natürlich, weil es bei Dickens ja sehr viele Figuren gibt, die grotesk überzeichnet sind oder sentimental - viele Figuren haben den Leser gerührt, sentimental. Sie hatten vorhin erwähnt, dass die Damen - aber sicher auch die Männer - zu weinen angefangen haben.
Wuttke: Überliefert sind natürlich immer nur die Damen, das war ja damals üblich.
Böker: Nein, also bei den Lesungen, also bei den Freunden gab es also auch derartige Bekundungen. Auf jeden Fall, dieses rührselige Element, das ja auch mit der Vorliebe für das Melodrama im 19. Jahrhundert zu tun hat, das ist natürlich bei Dickens sehr stark ausgeprägt und das hat auch bei den Lesungen sehr viel Wirkung gebracht.
Wuttke: Der Literaturwissenschaftler Uwe Böker über Charles Dickens. Herzlichen Dank, Herr Böker!
Böker: Wiedersehen!