Didier Eribon: "Betrachtungen zur Schwulenfrage"
Aus dem Französischen von Achim Russer und Bernd Schwibs
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
622 Seiten, 38 Euro
Der Scham entkommen
05:47 Minuten
Schon vor 20 Jahren hat der französische Star-Intellektuelle Didier Eribon der Homosexualität eine große Studie gewidmet. Nun erscheint dieser Klassiker der Queer Studies unter dem Titel "Betrachtungen zur Schwulenfrage" erstmals auf Deutsch.
"Schwuchtel", "Tunte", "Lesbensau" – auch wenn Diskriminierung heute oft nicht mehr rabiat auftritt, existieren diese Worte weiterhin. In seiner groß angelegten Studie zeigt Didier Eribon, was Beleidigung mit Menschen macht, wie sich historisch eine Sprache der Homosexualität entwickelte und wie authentisches Schwulsein aussehen könnte.
Der Titel dieses dicken Wälzers erinnert nicht zufällig an einen berühmten Text von Jean-Paul Sartre. Den "Juden" gebe es, weil andere ihn dazu machten, hatte Sartre in "Betrachtungen zur Judenfrage" 1945 behauptet. Ähnlich demonstriert Didier Eribon, dass Schwule und Lesben nicht "an sich" existieren, sondern in ihren Lebensweisen und Charakteristika wesentlich durch ihre Position in der heterosexuellen Gesellschaft bestimmt sind.
Leben im Geheimen
Zentral ist dabei die immer mögliche Beleidigung, die Injurie. Das Bedürfnis, ihr zu entgehen, treibe Schwule und Lesben aus den Familien hinaus, in die anonymen Großstädte, in bestimmte Berufe und in die Klandestinität.
Konstitutiv für Homosexualität sei das Geheimnis, die "Struktur des Verstecks", schreibt Eribon, und die Möglichkeit, als Homosexueller entdeckt und beleidigt zu werden, führe oft zu Leugnung und Selbsthass. Immer wieder weist Eribon auch auf die patriarchale Grundlage der Homophobie hin, denn verpönt am Schwulen ist vor allem das "Effeminierte", das abgewertete Weibliche.
Eine Frage der Gesellschaft – aber nicht nur
Homosexualität ist also gesellschaftlich bedingt. Ganz auf die Seite der These, dass sie ein rein historisches Konstrukt sei, will sich Eribon aber nicht stellen. Mit seinem Buch schreibt er gegen die einflussreiche Behauptung Michel Foucaults an, derzufolge Homosexualität eine reine Erfindung der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts sei.
Diese Aussage Foucaults sei in ihrer Radikalität von vielen Interpreten missverstanden worden, meint Eribon, und sie sei sachlich falsch. In einem langen historischen Exkurs weist er nach, wie sich im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert mit Oscar Wilde, Marcel Proust, André Gide, aber auch den Oxforder Hellenisten Walter Pater und John Addington Symonds ein wissenschaftliches und literarisches Sprechen über homosexuelles Begehren entwickelte, auf das der psychiatrische Diskurs dann erst reagierte.
Es gab, so will Eribon zeigen, genuine Äußerungsformen und auch eine rege schwule Subkultur, die sich trotz der gesellschaftlichen Ächtung einen Weg bahnten und nicht erst durch das Verbot hervorgebracht wurden.
Die Umkehr der Scham
"Betrachtungen zur Schwulenfrage", im französischen Original bereits 1999 erschienen, steht ganz unter dem Eindruck der gesellschaftlichen Liberalisierung ab den 1970er-Jahren. Es ist aber auch eine Auseinandersetzung mit jenen Kritikern, denen die neuen Freiheiten und die offensive Sichtbarkeit der Schwulen und Lesben heute zu weit gehen.
"Können die sich nicht ein bisschen zurücknehmen?" Nein, meint Eribon. Politisch gebe es nur eine Möglichkeit, der Knechtschaft durch das Stigma zu entkommen, nämlich Öffentlichkeit und ein Bekenntnis der Zugehörigkeit zur stigmatisierten Gruppe: "Exhibitionismus ist die Umkehrung der Scham, aber es geht nicht anders", schreibt Eribon.