Didier Eribon: "Grundlagen eines kritischen Denkens"
Aus dem Französischen von Oliver Precht
Verlag Turia + Kant, Wien 2018
246 Seiten, 26 Euro
Eine Abrechnung mit der Psychoanalyse
In seiner Essay-Sammlung "Grundlagen eines kritischen Denkens" rechnet der französische Philosoph Didier Eribon auch mit der Psychoanalyse ab. Durch die Beschränkung auf Individuum und Familie schmeichle sie "dem Narzissmus der Intellektuellen".
In Deutschland hat sich der französische Soziologe und Philosoph Didier Eribon in erster Linie mit dem autobiografischen Werk "Rückkehr nach Reims" einen Namen gemacht. Die Essay-Sammlung "Grundlagen eines kritischen Denkens" schließt nun in vielen Punkten ergänzend, vertiefend und erklärend an das Rückkehr-Buch an. Entsprechend dürfen sich dessen Kenner den größten Gewinn erwarten.
Eribons grundlegende Maxime ist denkbar einfach: "Alles, was ich bin, lässt sich aus meiner Herkunft erklären." Oder ins Theoretische übersetzt: Unsere individuelle und kollektive Existenz wird von "historischen und sozialen Determinismen" bestimmt. Wer kritisch zu denken beansprucht, muss sich auf die Kraft dieser Einflüsse konzentrieren.
Von wütend bis persönlich
Was beinahe banal klingt, führt bei Eribon zu einer beherzten Abrechnung mit der Psychoanalyse vor allem in der Tradition Jacques Lacans. Durch die Beschränkung auf Individuum und Familie mache sich die Psychoanalyse "der Entgesellschaftlichung, der Entgeschichtlichung und der Entpolitisierung" ihrer Erkenntnisse schuldig und schmeichle allein "dem Narzissmus der Intellektuellen". In dem wütenden Essay "Für einen neuen Anti-Ödipus" firmiert die Psychoanalyse schlicht als "Pseudo-Wissenschaft".
Zutiefst persönlich wird Eribon, wenn er die Frage aufwirft "Wer ist 'Ich'?" und über den Nutzen und die Fallstricke der Selbstanalyse nachdenkt. Hart am Rande der Indiskretion beshreibt er die teils verstörten Reaktionen seiner Mutter und seiner Brüder auf das Rückkehr-Buch. Ein Bruder drohte ihm einen Prozess wegen "Verleumdung der Familie" an.
Scham als Dauerzustand
Ergreifend sind die Passagen über die Scham: "Ich schämte mich, Bücher zu schreiben, die sie (die Mutter) nicht lesen konnte, Bücher, die von Dingen handelten, (…) von denen sie sich nicht die geringste Vorstellung machen konnte." Für Eribon ist Scham keine momentane Gefühlsregung, sondern ein Bewusstseinszustand von Dauer: "Im Grunde geht die Scham, die soziale zumal, dem Blick voraus, antizipiert und fürchtet ihn." Weniger persönlich, aber scharf im Ton greift der homosexuelle Eribon schwule und queere Aktivisten an, die ihre dogmatische Vorstellung vom "'guten' Schwulen" und der "'guten' queeren Person" durchsetzen wollen: "Es gibt (…) innerhalb der queeren Theorie eine Logik der ständigen Denunziation (gepaart mit einem pastoralen Tonfall)."
Ob es um politische Vereinigungen und Widerstand, die Kritik an der Linken, die ehemalige französische Kolonie Algerien oder die Ehe für alle geht: In Eribons Essays (entstanden zwischen 2004 und 2015) wimmelt es stets von Zeugnissen seiner Belesenheit bis hin zum Name-Dropping. Seine geistigen Paten Michel Foucault und Pierre Bourdieu dürfen immer mitreden. Teils geht es tief hinab in akademische Höhlengänge, teils um innerfranzösische Debatten älteren Datums. Insofern ist "Grundlagen eines kritischen Denkens" kein Buch für alle und jeden. Wohl aber für Freunde von realitätsgesättigter Selbst- und Gesellschaftsanalyse im Modus theoretischer Angriffslust.