"Die Literatur als einen Ort des Widerstands nutzen"
Didier Eribon und Edouard Louis sind nicht nur literarische Stars in ihrer Heimat Frankreich. Sie sind befreundet und sie eint die Kritik an rassistischen Herrschaftsstrukturen der Grande Nation. Im Literarischen Colloquium Berlin standen sie gemeinsam auf der Bühne.
"Wenn ich schreibe, habe ich den Eindruck, dass die Welt, in der wir leben, mit Fiktion, mit Geschichten, mit Unwahrheiten gesättigt ist. Geschichten, die lügen, wie es auch Staaten und Regierungen tun", sagt Edouard Louis. Er sitzt neben Didier Eribon auf der Bühne.
"Gegen diesen Zustand versuche ich, die Literatur als einen Ort des Widerstands und der Wahrheit zu nutzen. Wenn ich das Leben meiner Mutter betrachte, ihr Leiden, ihre Armut, dann sage ich mir, ich kann keine Zeit damit verlieren, Geschichten zu erfinden. Es geht nicht, es ist zu dringend."
Als Florian Höllerer, der Leiter des Literarischen Colloquium Berlin kurz vor 20 Uhr das Wort ergreift, passt keine Maus mehr in den Saal, so voll ist er.
"Meine Damen und Herren, schön, dass Sie so viele sind. Sie bringen unser Haus ein bisschen an seine Grenzen. Seien Sie herzlich willkommen zu diesem Abend mit Didier Eribon und Edouard Louis!"
Wie zwei Freunde mit gleichem Anliegen
Zwischen dem 24-jährigen Edouard Louis, der in hochgeschlossener weißer Jacke wach und gespannt ins Publikum blickt und dem 64-jährigen, ruhigen und zuweilen ausufernd antwortenden Didier Eribon liegen fast zwei Generationen. Aber die beiden treten nicht wie Lehrer und Schüler oder in einem Vater-Sohn-ähnlichen Verhältnis auf, sondern wie zwei Freunde mit gleichem Anliegen.
Beide sind homosexuell, beide stammen aus der gesellschaftlichen Unterschicht und schreiben darüber, beide stehen politisch links. Und, so Patricia Klobusiczky, die als Moderatorin und Übersetzerin souverän und mit Humor durch den Abend führt: Beide treffen mit ihren Büchern einen Nerv und stoßen bei uns eine Debatte an, auf die viele scheinbar gewartet haben.
"Edouard Louis schreibt dezidiert Romane, die kein Fünkchen Fiktion enthalten und Didier Eribon mischt seine soziologische Analyse mit sehr literarischen Erinnerungsmomenten."
Die Klassenfrage wird in Deutschland ausgeklammert
"Mein Buch 'Rückkehr nach Reims' und die Bücher von Edouard haben beide eine Frage aufgeworfen, die in Deutschland in der intellektuellen und politischen Debatte weitgehend unter den Teppich gekehrt wurde, nämlich die nach der sozialen Klasse", sagt Didier Eribon. "Sie ist ganz zentral, wurde aber meist verschwiegen. Mit unseren Büchern protestieren wir dagegen, und viele Menschen, auch in Deutschland, haben in ihnen etwas wiedererkannt. Daher ihre Begeisterung, als die Bücher hier erschienen."
Der engagierte Didier Eribon und der mitreißende Edouard Louis beziehen sich in ihren Ausführungen immer wieder aufeinander, fast so, als wollten sie sich einander vergewissern.
"Zusammen mit Didier, aber auch mit anderen versuchen wir, gemeinsam etwas zu produzieren", sagt Louis. "Denn in dem Moment, in dem man etwas Avantgardistisches macht und Fragen stellt, ist man auch Widerständen und Ablehnung ausgesetzt. In meinen Büchern, wie auch in denen von Didier, fragen wir nach der sozialen Gewalt, nach Homophobie und Rassismus. Unsere Art, dringliche Fragen zu stellen, ruft Widerstand hervor. Ich glaube, man kann nur dagegen ankommen, wenn man zusammen schöpferisch tätig ist."
Ihr Anliegen: die Gesellschaft aufrütteln, das Bewusstsein für Ungerechtigkeiten schärfen. Ihre Referenzen: der Soziologe Pierre Bourdieu, die Schriftsteller Jean Paul Sartre oder Annie Ernaux, außerdem die Frankfurter Schule.
"Wir verstehen unsere Arbeit als radikale Kritik an der Gesellschaft"
Immer wieder treten sie gemeinsam auf, auch mit dem Soziologen Geoffroy de Lagasnière als drittem im Bunde. In Edouard Louis’ neuem Buch "Im Herzen der Gewalt" werden Didier und Geoffroy namentlich genannt und spielen als Freunde eine wichtige Rolle. Steht das Trio Eribon, Louis und de Lagasnière am Beginn einer neuen französischen Bewegung? Dazu Eribon:
"Unsere Beziehung ist vor allem freundschaftlich. Wir sind eine ganze Gruppe von Freunden. Aber was wir suchen, stellt die soziale Welt, in der wir leben, zutiefst in Frage. Wir verstehen unsere Arbeit als radikale Kritik an der Gesellschaft, in der wir leben."