Diese Bücher haben Ulrich Raulff mit dem Rückblick auf 1968 am meisten beeindruckt:
- Max Frisch: Stiller
- Alexander u. Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern
- Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus
- Heinrich Böll: Irisches Tagebuch
- William Shakespeare: Tragödien und Sommernachtstraum
- William Shakespeare: Sonnette
- R. M. Rilke: Malte Laurids Brigge
- Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas u. a. Erzählungen und Anekdoten
- Gottfried Keller: Der grüne Heinrich
"Wir wollten die heißen Stoffe lesen"
Vielleicht wurde nie so viel gelesen wie bei den 68ern: Scheinbar kein Buch war zu kompliziert oder zu verquast, als dass es nicht ein Publikum gefunden hätte. "Wir wollten die heißen Stoffe lesen, sofort und auch auf der Straße", sagt der Kulturwissenschaftler Ulrich Raulff.
Marx, die Kritische Theorie, Sartre, Simone de Beauvoir und viele andere mehr: Vielleicht wurde nie so viel gelesen wie zur Zeit der 68er.
"Wir wollten schnell lesen, wir wollten die heißen Stoffe lesen, sofort und auch auf der Straße und so", erinnert sich der Kulturwissenschaftler Ulrich Raulff, Jahrgang 1950. Einerseits habe es damals einen neuen Stil des Lesens gegeben: "Also ein bisschen abenteuerliches Lesen, in dem es auch zwischen Literatur und Theorie heftig hin und her ging", so der Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach im Deutschlandfunk Kultur.
Andererseits sei das Lesen auch ein vergewisserndes gewesen. Denn:
"Wenn es schwieriger wird mit der Realität, wenn die irgendwie undurchsichtig wird, dann greift man gern zum Buch."
Die Bestseller der neuen Zeit
Die Zeit habe auch ihre eigenen Bestseller produziert, zum Beispiel Peter Schneiders "Lenz" oder - kurz danach - "Häutungen" der kürzlich verstorbenen Verena Stefan.
"Im Übrigen las man natürlich auch den Kanon: Adorno, Horkheimer, Marcuse waren ja längst bekannte und seit Jahren gelesene Autoren."
Die man damals allerdings zum Teil nur als Raubdruck bekommen konnte.
Eine wichtige Rolle bei dieser neuen Lust am Lesen hat Raulff zufolge auch gespielt, dass zunehmend Taschenbücher auf den Markt kamen:
"Die beiden wichtigsten Printmedien von 68 waren das Flugblatt, versteht sich, und daneben das Taschenbuch. Es gibt amerikanische Literaturhistoriker, die 68 mittlerweile als 'The Paperback Revolution' bezeichnen."
Das versinkende Lesen gibt es auch heute noch
Was davon heute geblieben ist?
"Ich glaube, dass es immer noch neben allem oberflächlichen Lesen, das jetzt eher auf Schirmen stattfindet als auf Buchseiten, auch noch das versinkende oder versunkene Lesen gibt. Das findet, glaube ich, immer noch zielsicher zum Buch, zum Print."
(uko)