Die 9. Sinfonie von Gustav Mahler

Abschied vom Ich-Ton

Der Komponist Gustav Mahler (1860-1911)
Anfang 1911 entstand bei einer Atlantik-Überfahrt das letzte Bild von Gustav Mahler, kurz nachdem er seine Neunte Sinfonie vollendet hatte und wenige Wochen vor seinem Tod © imago / Leemage
Gast: Michael Stegemann, Musikwissenschaftler; Moderation: Olaf Wilhelmer · 15.03.2020
Musik, die aus dem Nichts kommt und ins Nichts verschwindet. Musik am Rande des Zerfalls, verbunden mit der Stille. Musik am Ende eines Lebens und am Beginn einer neuen Epoche: Gustav Mahlers 9. Sinfonie ist ein magisches Werk.
Diese Musik ist ein Abgesang auf das Zeitalter der Romantik und steht am Beginn der Moderne. Gustav Mahlers Neunte Sinfonie verkörpert Abschied und Aufbruch gleichermaßen. Nicht lange vor seinem frühen Tod 1911 sagte Mahler seiner Welt und seiner Musik Lebewohl – und stieß die Tür zu neuen Welten weit auf.

Hier geht es zur Playlist der Sendung.

Irdische Tragik und überirdische Entrückung – beide Elemente sind in Gustav Mahlers Neunter Sinfonie unauflöslich miteinander verbunden. Das letzte vollendete Werk des österreichischen Komponisten wurde und wird von vielen Dirigenten als besondere Herausforderung empfunden. Und je nach Charakter und Interesse der Interpreten wird mal mehr die irdische, mal mehr die sphärische Seite betont, wird eher das Traditionelle oder mehr das Moderne unterstrichen.
Entsprechend vielseitig, ja widersprüchlich erscheint die Diskographie dieses Werks, die inzwischen auf fast 200 Einspielungen angewachsen ist. Die ersten beiden Aufnahmen, kurz vor und einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in Wien entstanden, dokumentieren feuriges, drängendes Musizieren.

Interpretation als Entschleunigung

Ab den 1960er Jahren, als Mahlers Musik mehr und mehr ins Repertoire einging, neigte die Auffassung vieler Interpreten zum Getragenen – mal mit höchster Spannung erfüllt und sinnfällig musiziert, mal eher in die Breite als in die Tiefe gehend. Klar ist: die eine Wahrheit gibt es bei diesem Ausnahmewerk nicht, auch wenn die radikal schnörkellose Ersteinspielung durch Bruno Walter und die Wiener Philharmoniker von 1938 den Vorstellungen Mahlers am nächsten kommen dürfte.
Immerhin war Walter ein enger Mitarbeiter, guter Freund und lebenslanger Fürsprecher des Komponisten. Walter und die Wiener waren es auch, die Mahlers Neunte 1912 aus dem Nachlass zur Uraufführung gebracht hatten.
Der Dirigent Sir John Barbirolli 1936 in New York.
Dirigent mit langem Atem, meisterhafter Mahler-Interpret: Sir John Barbirolli 1936 in New York.© imago / stock people
Mit Mahlers Neunter Sinfonie liegen acht Jahrzehnte Aufnahmegeschichte vor uns, von Walters Pionierleistung über die ersten Höhepunkte in den 1960er Jahren (Sir John Barbirolli), den leidenschaftlich durchglühten Interpretationen Leonard Bernsteins der 1970er und 80er Jahre hin zu den abgeklärten Meister-Aufführungen der vergangenen Jahre, die etwa von Claudio Abbado, Herbert Blomstedt und Mariss Jansons geleitet wurden.

Geistige Kühle statt animalischer Wärme

Diese Aufnahmen und noch einige mehr – darunter auch Raritäten und Kuriositäten – werden im Gespräch mit dem Musikwissenschaftler Michael Stegemann vorgestellt, stets auf der Suche nach dem besonderen Ton Gustav Mahlers, den sein begeisterter Anhänger Arnold Schönberg zu umschreiben versuchte, nachdem er die posthume Uraufführung von Mahlers letztem vollendeten Werk gehört hatte:
"Seine Neunte ist höchst merkwürdig. In ihr spricht der Autor kaum mehr als Subjekt. Fast sieht es aus, als ob es für dieses Werk noch einen verborgenen Autor gebe, der Mahler bloß als Sprachrohr benützt hat. Dieses Werk ist nicht mehr im Ich-Ton gehalten. Es bringt sozusagen objektive, fast leidenschaftslose Konstatierungen, von einer Schönheit, die nur dem bemerkbar wird, der auf animalische Wärme verzichten kann und sich in geistiger Kühle wohlfühlt."
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