Die Abtreibung und die Grenzen der Politik

Von Cora Stephan · 01.08.2013
Der Staat müsse dafür sorgen, dass nicht nur die Mutter, sondern auch das Leben des ungeborenen Kindes geschützt werde, fordern manche. Doch der Schwangerschaftsabbruch muss die freie Entscheidung der Schwangeren bleiben, fordert die Autorin Cora Stephan - eine freie Gesellschaft gebietet das.
Auch heute noch wird in der Bundesrepublik abgetrieben. Wie häufig? Das ist unbekannt, denn es gibt keine Meldepflicht. Der Mehrheit scheint die Sache mehr oder weniger egal zu sein. Die anderen nutzen die Lücke für Mutmaßungen über gigantische Dunkelziffern.

Die erregten Debatten der 60er Jahre aber – "Mein Bauch gehört mir" hieß die berühmte, von Alice Schwarzer angezettelte Kampagne – sind vorbei. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 hat dem Streit ein Ende bereitet. Seither sind Abtreibungen innerhalb von zwölf Wochen erlaubt, sofern sich die Schwangere zuvor beraten lässt.

Ist die quälende und blutige Angelegenheit nun damit etwas Alltägliches geworden, eine Sache, die man kühlen Herzens pragmatisch entscheidet und löst?

Zwanzig Jahre später beklagt Ernst-Wolfgang Böckenförde, der als Mitglied des Zweiten Senats das Urteil damals beanstandete, den fehlenden "politischen Willen", sich mit dem "Lebensschutz" des ungeborenen Kindes zu befassen und sich dem Schwangerschaftsabbruch ermahnend oder helfend entgegenzustemmen.

Der Staat müsse durch "Vorkehrungen" dafür sorgen, dass nicht nur schwangere Frauen, sondern auch ungeborene Kinder in ihrer Menschenwürde geschützt werden.

Doch tut er das nicht bereits? Oder tut er noch immer nicht genug – trotz Betreuungsgeld und Rechtsanspruch auf Krippenplätze? Denn die Geburtenrate bleibt hierzulande niedrig und niemand weiß, ob auch nur eine der vielfältigen staatlichen Maßnahmen eine Abtreibung verhindert hat.

Das könnte daran liegen, dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. Nicht die Menschenwürde des ungeborenen Kindes, sondern die demografische Entwicklung bewegt Politiker seit einigen Jahren, wieder über Bevölkerungspolitik nachzudenken.

Deutschland müsse, wenn nicht gleich aussterben, so doch vergreisen, ändere sich an der niedrigen Geburtenrate nichts. An der aber lässt sich gar nicht viel drehen: die Mütter wurden nie geboren, die heute nötig wären. Wir müssen schon mit dem wirtschaften, was wir haben und uns damit abfinden, dass Europa beim weltweiten Bevölkerungswachstum nicht mitmacht. Einer muss ja schließlich damit anfangen.

Die wichtigere Frage aber dürfte sein, ob Böckenförde die Notsituation der Frauen im Schwangerschaftskonflikt richtig einschätzt. Geht es wirklich nur darum, der Schwangeren durch "Maßnahmen" eine soziale Notlage zu ersparen? Spielt sich der Konflikt nicht womöglich in ganz anderen seelischen Tiefen ab?

Abgetrieben wurde in der Menschheitsgeschichte immer, dagegen halfen keine Verbote. In Deutschland war eine Abtreibung bis in die 70er Jahre hinein quälend, entwürdigend und schmerzvoll. Der ärztliche Eingriff selbst muss heutzutage nicht mehr schmerzen. Aber wer sagt denn, dass damit auch die anderen Schmerzen vorbei sind?

Alles arbeitet dem Schwangerschaftsabbruch entgegen, die Hormone spielen verrückt, der Körper wehrt sich – und erst recht die Gefühle. Und dann die moderne Medizin: Ultraschall zeigt, dass es nicht nur ein unbelebter Zellhaufen ist, von dem man sich bedenkenlos trennen könnte.

Ganz zu schweigen von jenen Konflikten, die vorgeburtliche Diagnostik eröffnet. Kann man, muss man, will man ein behindertes Kind austragen? Die Seelenqualen der Eltern müssen unendlich sein.

Und ist es nur eine Frage von materieller Not, wenn eine Frau ihr Kind nicht austragen will, weil der Erzeuger nicht dazu steht, das Kind also keinen Vater hätte?

Ein Schwangerschaftsabbruch muss in einer freien Gesellschaft die freie Entscheidung der Schwangeren bleiben. Keine staatlichen Versprechen, kein Mahnen und Beschwören kann einer Frau diese Entscheidung abnehmen. Wenn sie Glück hat, findet sie Beratung, die den Namen verdient und die ihr hilft, einen Konflikt zu bewältigen, der fast jede Frau umtreibt, die sich zur Abtreibung entschließt.

Wer lediglich eine soziale Notlage unterstellt, gegen die Staat und Politik ja etwas tun könnten, behandelt Frauen wie käufliche Leihmütter.

Auch gutgemeinte Bevölkerungspolitik hat ihre hässlichen Seiten.


Cora Stephan, Jahrgang 1951, ist promovierte Politikwissenschaftlerin, arbeitet als freie Publizistin und schreibt unter dem Pseudonym Anne Chaplet Kriminalromane.

Nach Büchern wie "Der Betroffenheitskult" und "Handwerk des Krieges" heißt ihre jüngste Veröffentlichung "Angela Merkel. Ein Irrtum", erschienen 2011 bei Knaus. Cora Stephan lebt in Oberhessen.
Die Historikerin, Publizistin und Autorin Cora Stephan
Die Historikerin, Publizistin und Autorin Cora Stephan© picture-alliance/ ZB
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