Carlos sucht seine Mutter
Auf dem Papier ist Carlos Haas Deutscher. Doch geboren wurde er 1985 in Guatemala. Mit vier Monaten wird er in Deutschland adoptiert. Mehr als 30 Jahre später sucht er seine Mutter. Hat sie ihn freiwillig abgegeben oder wurde er – wie viele andere Babys – geraubt?
Als sich die Reporter Martin Reischke und Carlos Haas zum ersten Mal am Bahnhof von Augsburg treffen, erkennt Martin ihn sofort: Carlos trägt eine bunte Wickelhose, so wie es für die indigene Maya-Bevölkerung typisch ist. Martin kennt das, denn er hat mehrere Jahre in Guatemala gelebt und gearbeitet.
Zu diesem Zeitpunkt weiß Carlos nicht viel von der Zeit, die zwischen seiner Geburt und seiner Adoption lag.
"Was ich nur ganz genau sagen kann, ist, dass ich am 9. Juni 1985 in Frankfurt gelandet bin, und dass zehn Tage vorher eine Frau, eine Bekannte meiner Eltern, nach Guatemala kam und mich dort in einem Kinderheim abgeholt hat. Sie hat sich dann einige Tage in Guatemala um mich gekümmert und ist dann mit mir rübergeflogen."
Jeder Mensch sucht seine Wurzeln
Carlos‘ Adoptiveltern freuen sich und holen ihren Adoptivsohn am Flughafen ab. Die Beziehung ist innig – bis heute.
"Ich sag auch nie Adoptiveltern. Das sind natürlich meine Adoptiveltern, aber jedes Mal, wenn jemand sagt, das sind deine Adoptiveltern, dann stolpere ich über den Begriff, weil das sind für mich einfach meine richtigen Eltern, in jeder Hinsicht."
Mit 17 Jahren beginnt sich Carlos für seine Herkunft zu interessieren. Er lernt Spanisch und trifft auf dem Weltjugendtag eine Gruppe aus Guatemala. Er fühlt sich auf wundersame Weise zugehörig. Er erfährt, dass in den achtziger Jahren Kinder aus Guatemala illegal ins Ausland vermittelt wurden. Dass sie ihren Müttern geraubt wurden.
"Das Narrativ, das da angeboten wurde, ist, dass arme Kinder aus dem Land eine bessere Zukunft im reichen Europa haben sollten. Und dass deshalb alles getan wird, damit diese Kinder so schnell wie möglich Guatemala und den Bürgerkrieg verlassen können und nach Europa in diese bessere Zukunft eintreten können. Das klingt natürlich gut, kann ich mir auch vorstellen, dass einem das als Adoptiveltern gefällt, so eine Geschichte."
Kinder wurden ihren Müttern gestohlen
Carlos ist neugierig und will mehr über seine Herkunft wissen. Aber dann kommen das Studium, der erste Job, die eigene Familiengründung. Mit 32 Jahren ist es soweit.
Er spricht mit seinen Adoptiveltern, die seinen Entschluss verstehen und ihn unterstützen. Dass ihr Adoptivkind damals illegal nach Deutschland kam, können sie sich nicht vorstellen. Aber der Gedanke daran verunsichert sie und lässt alte Erinnerungen hochkommen:
"Sie wachen dann auch mal nachts auf und denken: Was ist, wenn morgen jemand vor der Tür steht und sagt: Das ist mein Kind, ich will mein Kind zurück."
In Guatemala gibt es Organisationen, die Betroffene wie Carlos dabei unterstützen, die eigene Herkunft zu erforschen und eventuell Familienangehörige zu finden. Carlos nimmt Kontakt auf. In der Adoptionsurkunde stehen einige wenige Informationen. Carlos weiß aber nicht, ob die stimmen. Sie könnten auch gefälscht sein.
Maco, der Direktor der Organisation, an die sich Carlos wendet, macht ihm zuerst keine großen Hoffnungen. Aber dann kommt doch plötzlich Bewegung in die Sache, denn beim Einwohnermeldeamt einer Gemeinde im Hochland, ganz in der Nähe des Geburtsortes, ist eine Frau registriert, auf die alle Angaben zu passen scheinen.
Ein Mitarbeiter der Organisation fährt hin, im Gepäck hat er Carlos‘ Adoptionsurkunde und einige Fotos. Auch das Foto von Carlos‘ rechter Hand. Carlos hat einen Ansatz zu einem sechsten Finger, den er an seinen kleinen Sohn vererbt hat. Vielleicht war das ja bei seiner Mutter auch so und es ist ein wichtiges Indiz, um sie zu identifizieren.
"Wenn sie mehr wissen wollen, dann melden Sie sich!"
Der Mitarbeiter findet die Frau. Maco erzählt:
"Er spricht sie also an und fragt sie, ob sie eine Frau mit dem Namen Victoriana kenne. Sie sagt, dass sie es ist. Sie ist völlig überrascht. Aber sie hat große Angst, weil ihr aktueller Ehemann von der ganzen Sache nichts weiß, und wenn er davon Wind bekommt, wird er sie totschlagen, meint sie. Er sagt: Seien Sie unbesorgt, wir wollen Ihnen nur mitteilen, dass es ihrem Jungen gut geht, er lebt in Deutschland, und wenn sie mehr wissen wollen, dann melden sie sich bei Maco."
Tatsächlich hat Victoriana auch einen Ansatz zu einem sechsten Finger, erzählt der Mitarbeiter, als er zurückkommt. Das macht Maco ziemlich sicher, dass es die Richtige ist. Kurze Zeit später klingelt sein Handy. Victoriana meldet sich.
Maco schreibt nun Carlos eine euphorische mail. Und der steht erst einmal unter Schock.
"Ich fühle mich wie so ein Zombie, das konnte ich erst so gar nicht richtig fassen. Irgendwie habe ich mich auch schon gefreut, aber das ist emotional gar nicht so richtig einzuordnen, was da gerade passiert."
Noch ist nicht sicher, ob es zu einem Treffen kommen wird. Carlos ist zwar bereit. Aber seine Mutter hat Angst vor ihrem gewalttätigen Ehemann und traut sich noch nicht, das Geheimnis zu lüften.
Der erste Kontakt
Neun Monate später ist es dann soweit: Victoriana hat sich für ihren Sohn und gegen ihren Ehemann entschieden. Sie hat reinen Tisch gemacht und ihrer Familie von der Adoption erzählt. Mit Carlos hat sie mehrfach telefoniert.
Der erfährt von seiner Mutter, dass Victoriana vier Kinder aus erster Ehe hatte, bevor sie mit ihm durch einen anderen Mann schwanger wurde. Und er weiß nun, dass sein leiblicher Vater kurz vor seiner Geburt gestorben ist.
"...dann stand sie alleine da mit vier Kindern und einem Säugling und hat aus dieser Situation den Entschluss gefasst, mich zur Adoption freizugeben. Und hat das seitdem als Geheimnis für sich behalten."
Carlos beschließt, mit seiner Frau und seinen beiden Kindern nach Guatemala zu reisen. Die Reisevorbereitungen sind aufregend.
"Letzte Woche habe ich mir dann so vorgestellt, wie denn der Moment sein wird, wenn ich dann die Mutter – ich hab sie ja jetzt schon ein paar Mal gesehen im Videoanruf – wie sich das dann anfühlen wird, sie in den Arm zu nehmen, das habe ich mir ausgemalt, und da war ich dann schon sehr aufgewühlt."
Marimba und Böller für Carlos in Guatemala
Als die Familie in Guatemala ankommt, geht es gleich am nächsten Tag mit einem Geländewagen ins Hochland – dort ist Carlos‘ Geburtsort. Maco hat alles vorbereitet und mit Victoriana überlegt, wie sie das Treffen gestalten möchte.
Es ist ein großer Tag für Victoriana und deshalb will sie ihn auch angemessen begehen.
Rund 40 Onkel, Tanten, Cousins, Cousinen, Neffen und Nichten sitzen an weiß gedeckten Tischen vor dem kleinen Haus von Luís, Carlos‘ Halbbruder. Victorianas gewalttätiger Ehemann ist nicht dabei. Sie ist nach dem Krach zu ihrem Sohn Luís gezogen.
Als der Geländewagen mit Carlos‘ und seiner Familie einbiegt, werden Böller in die Luft gejagt, die Marimba spielt auf und alle applaudieren. Carlos‘ ist gerührt. In vorderster Reihe steht eine winzig kleine Frau im blauen Kleid. Tränen laufen über ihre Wangen. Das muss sie sein. Carlos‘ geht auf sie zu, die beiden liegen sich in den Armen.
33 Jahre hat Victoriana diesen Tag herbeigesehnt, ohne daran zu glauben, dass er wirklich einmal kommen wird. Abgegeben hat sie ihr Baby damals aus purer Not.
"Meine Schwester hat mir damals gesagt: Du wirst dem Jungen nicht das geben können, was er braucht, er braucht Bildung, es soll ihm gut gehen, und das kannst du ihm nicht geben, weil du arm bist."
An den Moment, als sie Carlos weggab, erinnert sie sich noch genau.
"No hay nada más difícil que vivir sin tí"
"Die Frau in der Hauptstadt, bei der ich ihn gelassen habe, hat zu mir gesagt: Fragen Sie nie mehr nach Ihrem Kind, es wird nie wieder zurückkehren."
Nach dem Abendessen sitzt die Familie in kleinem Kreis in der Küche zusammen. Die Stimmung ist ausgelassen und fröhlich. Carlos und sein Halbbruder Luis stehen auf und singen.
Victoriana sitzt etwas abseits, den Kopf auf eine Hand gestützt.
"Ich schäme mich so sehr vor dem Moment, wo er mich plötzlich fragt: 'Mama, warum hast du das gemacht? Das ist sehr, sehr hart für mich."
Carlos möchte nicht, dass seine Mutter sich so quält.
"Ich glaube, es gibt niemanden, der so viel darunter gelitten hat wie meine Mutter, die so viele Schuldgefühle hatte. Ich habe auch gar kein Gefühl von Zorn und Wut auf sie, habe so viel Mitleid mit ihr und ihrem Leben, das sie hatte."
Er will heute Nacht den Augenblick genießen, auf den auch er so lange gewartet hat. Und er singt mit seinem Halbbruder weiter. Den alten mexikanischen Schlager: "No hay nada más difícil que vivir sin tí" - "Nichts ist schwieriger, als ohne dich zu leben."