Das Rätsel
Carlos Haas wird 1985 in Guatemala geboren, mit vier Monaten von einem deutschen Ehepaar adoptiert. Mehr als 30 Jahre später will er endlich wissen, wo er herkommt und ob seine Mutter ihn freiwillig weggegeben hat.
Als ich Carlos im Mai 2017 zum ersten Mal treffe, erkenne ich ihn sofort: Aus dem Zug steigt ein Mann mit dichten, schwarzen Haaren und einem runden Gesicht, der zum karierten Hemd eine weit geschnittene, bunte gewebte Hose trägt, wie sie typisch ist für die indigene Maya-Bevölkerung in Guatemala. Ich kenne das. Ich habe mehrere Jahre dort gelebt.
Carlos arbeitet am Institut für Zeitgeschichte in München als Historiker und wohnt in Augsburg.
Seine Frau Juliane, der fünfjährige Sohn Valentin und die anderthalb Jahre alte Tochter Cecilia sind schon zu Hause. Jetzt bereiten sie zusammen das Abendessen vor. Nach dem Essen setzt sich Carlos mit mir ins Wohnzimmer, kramt ein altes Foto aus Guatemala hervor. Auf dem Bild ist eine Frau zu sehen, die ein Baby im Arm hält.
"Das ist das vor dem Waisenhaus, und das bin ich, und das ist eben diese Kinderkrankenschwester, die da gearbeitet hat."
Keine Erinnerungen an Guatemala
Carlos hat nur wenig Informationen über seine früheste Kindheit. Erinnerungen hat er gar keine. Er war kaum vier Monate alt, als er von Guatemala nach Deutschland gebracht wurde. Jetzt ist er 32.
"Was ich nur ganz genau sagen kann, ist, dass ich am 9. Juni 1985 in Frankfurt gelandet bin und dass die zehn Tage zuvor eine Frau, eine Bekannte meiner Eltern, in Guatemala war, mich dort in einem Kinderheim abgeholt hat und sich dann diese Tage in Guatemala selbst noch um mich gekümmert hat und dann mit mir rübergeflogen ist."
Seine deutschen Adoptiveltern sehen Carlos zum ersten Mal am Flughafen Frankfurt – nach Guatemala gereist sind sie bis heute nicht. Sie erzählen ihm früh von seiner Herkunft, Carlos hat zu ihnen ein herzliches Verhältnis.
"Ich sag auch nie Adoptiveltern, das sind natürlich meine Adoptiveltern, aber, also jedes Mal, wenn jemand sagt, das sind deine Adoptiveltern, dann stolpere ich auch über den Begriff, weil das sind für mich einfach – das sind einfach meine richtigen Eltern, in jeder Hinsicht."
Auf wundersame Weise dazugehörig
Mit 17, erzählt mir Carlos, fängt er an sich stärker für seine Herkunft zu interessieren. Er lernt Spanisch. 2005 trifft er beim Weltjugendtag in Köln eine Gruppe junger Guatemalteken. Carlos ist damals 20 und fühlt sich auf wundersame Weise dazugehörig. Er knüpft neue Kontakte in sein Geburtsland und reist das erste Mal nach Guatemala. Dort erfährt er, dass Adoptionen ins Ausland nicht immer auf legalem Weg zustande gekommen sind. Das liegt daran...
"...dass es in den 80er-Jahren in den Industrienationen eine Anzahl an Paaren gab, die aus den verschiedensten Gründen ein Kind adoptieren wollten. Das hat man natürlich in Guatemala irgendwann gemerkt, und dann gab es so eine Art Markt, der dann auch bedient werden musste oder konnte."
Geschäftsmodell Adoption
In Guatemala herrscht in den achtziger Jahren, als Carlos geboren wird, ein blutiger Bürgerkrieg. Die Papiere für Adoptionen ins Ausland sind unter der Militärdiktatur einfach zu bekommen. Ein Netzwerk aus Militärs, Anwälten und Waisenhäusern entwickelt daraus ein lukratives Geschäftsmodell, sie verdienen viel Geld mit den Adoptionen. Den Adoptiveltern erzählen sie eine andere Geschichte.
"Das Narrativ, das da angeboten wurde, ist, dass arme Kinder aus dem ganzen Land, dass denen eine bessere Zukunft im reichen Europa, in Deutschland eröffnet werden sollte, und dass deshalb alles getan wird, damit die so schnell wie möglich Guatemala verlassen können und dann eben in diese bessere Zukunft eintreten können. Das klingt natürlich gut, kann ich mir auch vorstellen, dass einem das als Adoptiveltern gefällt so ein Narrativ."
Auch Carlos' Adoptiveltern wird diese Geschichte erzählt, sie wissen nicht, dass Kinder sogar gegen den Willen der leiblichen Eltern ins Ausland gebracht werden. Carlos will jetzt wissen, wie es bei ihm war und wer seine leibliche Mutter ist. Hat sie ihn freiwillig in Adoption gegeben – oder wurde er seiner Mutter geraubt? Und: Lebt sie noch? Er entschließt sich zu suchen. Aber er hat auch Angst davor, enttäuscht zu werden: Denn was ist, wenn seine Mutter ihn gar nicht haben wollte – und auch heute nichts von ihm wissen will? Deshalb hat er sich eine Strategie zurechtgelegt...
"...in so einer einer Art Selbstvergewisserung: Ich habe nichts zu verlieren, weil meine Adoptiveltern hier in Deutschland sind für mich ja meine richtigen Eltern, also ich hab schon Eltern."
Doch ihnen hat Carlos noch gar nichts von seiner Suche erzählt.