Die Adoptiv-Eltern
Mehr als 30 Jahre nach seiner Adoption will Carlos Haas wissen, wer seine Mutter ist und ob sie ihn freiwillig weggeben hat. Carlos will sie in Guatemala suchen. Seinen deutschen Adoptiveltern erzählt er erst davon, als der Entschluss fest steht.
Hier also ist Carlos aufgewachsen: großes Haus, großer Garten, dahinter fließt der Main. Ronald und Reinhilde Haas, beide Anfang 60, wohnen in Niedernberg in Bayern. Ronald Haas zeigt mir die gepflegten Beete. Haas, ein Mann mit Halbglatze und jungenhaftem Lachen, ist hier fest verwurzelt. Schon als Kind hat er hier gelebt, später das Grundstück von seinen Eltern geerbt.
"Ich war noch nie in Amerika gewesen, auch noch nicht in Australien, aber hier, da weiß ich, wo ich mal lande, ist ein gutes Gefühl."
Weil er und seine Frau Reinhilde keine eigenen Kinder bekommen können, entscheiden sie sich 1985 für eine Adoption. Eine Bekannte vermittelt den Kontakt zu einer guatemaltekischen Rechtsanwältin, Rosa Elena Calderón. Sie organisiert Privatadoptionen nach Deutschland. Das Ehepaar vertraut der Anwältin. Nach Guatemala reisen sie nicht.
"Die Möglichkeit hätte es gegeben, aber ich war damals schon zu feige, was Fliegen betrifft, ich habe damals, ich hätte zu viel Angst gehabt, da rüberzufliegen."
Eine Bekannte holt Carlos
Eine Bekannte holt Carlos in Guatemala ab und bringt ihn nach Frankfurt. Er ist vier Monate alt. Reinhilde Haas holt ein altes Familienalbum hervor, auf einem Foto hält sie den kleinen Carlos im Arm.
"Das war ganz am Anfang, wie wir ihn gekriegt haben, da bin ich oben an der Treppe gestanden, ganz klein und dünn."
Also haben sie Carlos erst einmal aufgepäppelt. Wegen eines Herzfehlers muss er früh operiert werden. Danach entwickelt er sich prächtig.
"War ein angenehmes Kind, der Carlos, kein Ärger in der Schule gehabt, war immer bei den Guten gewesen, gab nie Probleme, er hat seine ganze Lebensenergie in den Backen gespeichert, hahaha."
Kurze Zeit später will das Ehepaar noch ein zweites Kind aus Guatemala adoptieren. Aber dazu kommt es nicht mehr.
Gerüchte über Organspenden
"In Guatemala gab's dann das Gerücht, dass also die Kinder, die zur Adoption ins Ausland gebracht werden, als Organspender genutzt werden, und das muss für Frau Calderón damals recht unangenehm gewesen sein, da ist die für eine Zeit lang ausgereist."
Die Rechtsanwältin taucht unter, Familie Haas verliert den Kontakt. Doch die Gerüchte dringen bis nach Deutschland.
"Sie haben das Kind auf dem Arm und man sagt Ihnen: 'Und, was habt ihr dafür bezahlt?' Das war schon der größte Tiefpunkt während unserer Adoption. Im Umfeld hast du das gemerkt. Vorher haben die Leute: Oh, ihr habt ein Kind aus Guatemala, toll, klasse. Und plötzlich haben die Leute die Frage gestellt: Habt ihr das gekauft, das Kind?"
Für die Adoption von Carlos musste das Ehepaar Haas einen vierstelligen DM-Betrag nach Guatemala überweisen – deklariert als Rechtsanwalts- und Adoptionsgebühren. Ronald Haas findet, dass sie sich richtig entschieden haben.
"Wir haben so ne Art Win-Win-Situation gesehen, für das Kind und für uns. Dass es ganz andere Wege gibt, besser zu helfen, das ist mir auch klar, aber sagen wir mal, wirklich dran geglaubt hätte ich nie, dass wir jetzt da ein Kind adoptiert hätten, das einer Mutter weggenommen worden ist, das kann ich auch heute noch nicht glauben, das mag vorkommen, aber wissen tue ich's natürlich nicht."
Die Adoptiv-Eltern unterstützen Carlos Suche
Die Vorstellung, dass Carlos seiner Mutter in Guatemala weggenommen worden sein könnte, macht dem Ehepaar Angst. Aber die Entscheidung, die Carlos getroffen hat, nach seiner leiblichen Mutter und nach der Wahrheit zu suchen, unterstützen sie.
"Der Carlos, wenn er an mich denkt, dann denkt er an zu Hause, an Niedernberg, aber ich bin ja nicht die Wurzel von ihm, also kann ich das schon verstehen, dass er das rauskriegen will."
Ihr Mann Ronald wundert sich sogar, dass Carlos nicht viel früher auf die Idee gekommen ist.
"Dann wäre ich, obwohl ich damals noch Flugangst hatte, wäre ich mitgefahren, aber er hat es ja nicht gesagt, und jetzt ist er ja alt genug, um den Weg alleine zu gehen. Das Einzige, was mich belasten würde, wäre mein schlechtes Gewissen, wenn er sie finden würde, dass man das nicht eher forciert hätte."
Alte Ängste kehren zurück
Das klingt souverän, abgeklärt. In Wahrheit aber wühlt der Entschluss von Carlos die Adoptiveltern auch auf. Und weckt Erinnerungen an früher – an die Zeit, als sie Carlos gerade adoptiert hatten.
"Sie wachen dann auch mal nachts auf und denken: Was ist, wenn morgen jemand vor der Tür steht und sagt: Das ist mein Kind, ich will mein Kind zurück."
Carlos ist heute mit 32 Jahren erwachsen. Aber was ist, wenn er in Guatemala seine Wurzeln findet und diese tiefer reichen als die, die er zuhause in Niedernberg jemals hat schlagen können?