Die Suche
Auf dem Papier ist Carlos Haas Deutscher. Doch geboren wurde er 1985 in Guatemala. Als Baby wurde er von einem deutschen Ehepaar adoptiert. 30 Jahre später macht er sich auf die Suche nach seiner Mutter. Unser Reporter hilft ihm dabei.
Mit kritischem Blick blättert Carlos durch seine Adoptionsurkunde – ein neunseitiges Dokument auf Spanisch, datiert auf den 14. Mai 1985.
"Die Details über die Mutter sind erstmal recht genau: Also, es gibt den Namen, es gibt das Alter, es gibt kein Geburtsdatum, es gibt aber das Alter, dass sie zum Zeitpunkt der Adoption 31 Jahre alt war, es gibt den Hinweis, dass sie ledig war, dass sie aus Huehuetenango im Hochland von Guatemala stammt, und es gibt auch die Ausweisnummer, die wird auch genannt. Unterschrift gibt es nicht, es gibt nur einen Daumenabdruck, konnte also wahrscheinlich nicht schreiben. Also, das ist so die Hauptspur, die es gibt."
Carlos schickt eine Kopie seines guatemaltekischen Kinderpasses, die Adoptionsurkunde und ein paar wenige Babyfotos nach Guatemala an einen Mann namens Marco Antonio Garavito. Garavito, den alle nur "Maco" nennen, ist Direktor einer guatemaltekischen Organisation, die seit fast 20 Jahren nach dem Verbleib von Kindern forscht, die während des Bürgerkriegs verschwunden sind. Mehr als 450- mal war sie bereits erfolgreich. Die Unterlagen sollen Maco nun dabei helfen, auch Carlos' Mutter zu finden. Doch niemand weiß, ob die Daten in der Adoptionsurkunde überhaupt richtig sind.
"Es kann sein, dass es stimmt, ist auch sehr wahrscheinlich, dass es nicht stimmt. Es würde mich überhaupt nicht überraschen, wenn dort einfach irgendein Name als Name der Mutter genannt wird."
Der sechste Finger
Außerdem schickt Carlos Maco ein Foto von seiner linken und seiner rechten Hand. An den kleinen Fingern sind verstümmelte Ansätze eines sechsten Fingers zu erkennen. Vielleicht ja ein wichtiges Indiz. Denn auch sein Sohn Valentin hat einen sechsten Finger. Und so wie er diesen an seinen Sohn vererbt hat, hat seine Mutter ihn vielleicht an ihn vererbt, hofft Carlos.
Die erste Post aus Guatemala ist ernüchternd. Maco schreibt, dass es schwierig sein wird, die Mutter zu finden, vielleicht sogar unmöglich. Dann herrscht erst einmal Funkstille.
Aber die Geschichte geht trotzdem weiter. Denn ich reise einige Wochen später nach Guatemala und besuche Maco in seinem Büro. Maco strahlt. Er hat über das Einwohnermeldeamt in Carlos' Geburtsort eine Frau gefunden, die eventuell die richtige sein könnte. Er schickt seinen langjährigen Mitarbeiter Pedro in die Region, um sie zu treffen. Und gibt ihm den Tipp mit dem sechsten Finger.
Carlos Mutter hat Angst - vor ihrem Mann
"Pedro spricht sie also an und fragt sie, ob sie eine Frau mit dem Namen Victoriana kenne, und ich hatte ihm noch gesagt, dass er besonders auf ihre Hände achtgeben soll. Sie sagt also, dass sie es ist, sie ist völlig überrascht. Aber sie hat große Angst, weil ihr aktueller Ehemann von der ganzen Sache nichts weiß, und wenn er davon Wind bekommt, wird er sie totschlagen und Pedro gleich dazu. Also nimmt Pedro sie zur Seite und sagt: Seien Sie unbesorgt, wir wollen Ihnen nur mitteilen, dass es Ihrem Jungen gut geht, er lebt in Deutschland, und wenn Sie mehr wissen wollen, dann melden Sie sich bei Maco."
Tatsächlich, so berichtet ihm Pedro nach dem Treffen, hat Victoriana den Ansatz zu einem sechsten Finger. Es dauert nur ein paar Tage, dann klingelt Macos Handy. Am anderen Ende der Leitung ist Victoriana. Maco und Victoriana telefonieren nun fast täglich. Sie hat tatsächlich vor 32 Jahren einen Jungen aus wirtschaftlicher Not zur Adoption frei gegeben. Wenn es Carlos ist, ist er nicht unter Zwang nach Deutschland gelangt – auch wenn er über das gleiche Netzwerk verschickt wurde wie die geraubten Kinder. Maco ist sich sicher und schreibt Carlos eine lange Mail:
"Lieber Carlos, ich hoffe, es geht dir gut. Ich habe gute Nachrichten für dich. Wir haben deine leibliche Mutter gefunden."
"Fühlte mich wie ein Zombie"
Carlos erste Reaktion: Ein Schock. Ungläubig liest er die Mail, wieder und wieder. Was, wenn das alles nicht stimmt? Doch dann beruhigt er sich: Der sechste Finger, dazu die jahrelange Erfahrung von Maco – was soll da schiefgehen? Wir telefonieren gleich am nächsten Tag. Carlos steht neben sich, weiß nicht, ob er sich freuen soll.
"Fühlte ich mich wie so ein Zombie irgendwie, also, ich konnte es erst so gar nicht richtig fassen und war dann, glaube ich, auch zu Hause auch so ziemlich schlecht gelaunt, oder wusste auch gar nicht, was jetzt so richtig los ist. Irgendwie habe ich mich auch schon gefreut, also, konnte es emotional gar nicht so richtig einordnen, was jetzt eigentlich gerade passiert."
Seiner Mutter schreibt er einen langen Brief auf Spanisch, um ihr zu sagen, dass er ihr keine Vorwürfe macht. Dann spricht er mit seinen Adoptiveltern. Sie sind genauso überrascht wie er selbst – und freuen sich für Carlos. Er weiß jetzt auch, wo er geboren wurde: Nicht in Guatemala-Stadt, wie es in der Adoptionsurkunde steht, sondern in Huehuetenango, einer Stadt im Hochland nahe der Grenze zu Mexiko. Für Carlos ist es beruhigend, endlich einen Geburtsort zu haben, den er besuchen kann.
"Jetzt auf einmal, wo ich weiß: Jetzt kann ich das ja auch machen, das ist einfach schon ein starkes positives Gefühl, da bin ich einfach sehr glücklich drüber, dass das jetzt geht."
In allen anderen Fragen verlässt er sich ganz auf Maco.
Victoriana muss sich entscheiden
"Wenn er eben jetzt sagt: Jetzt ist eben die Strategie, alles langsam, Schritt für Schritt, und er versucht sozusagen, sie an die Hand zu nehmen und eine Möglichkeit zu finden, dass man sich tatsächlich eines Tages mal sieht, dann ist das für mich okay."
Doch zwischen Carlos und seiner Mutter steht ihr gewalttätiger Ehemann, der nichts von der Adoption weiß. Victoriana hat Angst davor, ihm davon zu erzählen. Sie fürchtet sich vor seiner Wut. Aber sie muss sich entscheiden: zwischen ihm – und ihrem Sohn Carlos.