Das Wiedersehen
Auf dem Papier ist Carlos Haas Deutscher. Doch geboren wurde er 1985 im zentralamerikanischen Guatemala. Mit vier Monaten wurde er in Niederfranken adoptiert. Mehr als 30 Jahre später sucht er seine leibliche Mutter - und findet sie. Er reist nach Guatemala.
Der rote Geländewagen rast über die gewundene Straße im Hochland von Guatemala.
Auf der Rückbank sitzt Carlos Haas mit seiner Frau und seinen beiden Kindern. Draußen ziehen die mächtigen Berge der Cuchumatanes vorüber. Doch dafür hat Carlos keinen Blick. Ihm ist schlecht von den Kurven. Und von der Aufregung.
"Cuánto falta ahorita?" Schon wieder will er wissen, wie lange es noch dauert. 40 Minuten, sagt Maco.
"Es gibt kein Protokoll, hört auf euer Herz"
Sie haben bereits 20 Minuten Verspätung. Und sich jetzt auch noch verfahren. Macos Kollege Pedro wartet schon im Dorf mit Victoriana und ihrer ganzen, großen Familie. Denn Victoriana hat reinen Tisch gemacht, als Carlos sich bei ihr gemeldet hat. Alle sind eingeladen zum Wiedersehen mit Carlos – außer Victorianas gewalttätiger Ehemann.
Endlich die richtige Abzweigung. Maco hält an. Er ist eigentlich der Profi, derjenige, dessen Job es ist, Adoptivkinder und ihre leiblichen Eltern zusammenzuführen. Aber jetzt ist er fast genauso aufgeregt wie Carlos.
"Also: Es gibt kein Protokoll, ihr hört einfach auf eure Gefühle, das, was euch euer Herz sagt, das ist genau richtig, so wird es eine richtig tolle Feier."
Carlos, seine Frau und die beiden Kinder steigen aus dem Auto. Lange Tische mit weißen Tischdecken stehen vor dem Haus von Victorianas Sohn Luis, 40 Nichten, Neffen, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen sitzen da und warten.
Ganz vorne steht eine kleine Frau mit langen, schwarzen Haaren in einem blauen Kleid. Tränen fließen über ihre Wangen. Das muss sie sein. Langsam geht Carlos auf sie zu. Victoriana kommt ihm entgegen, dann liegen sie sich in den Armen. Ihre Wangen berühren sich, dann schmiegen sich ihre Körper eng aneinander. Dann soll Carlos ein paar Worte sagen.
"Wir sind sehr glücklich hier zu sein, ich möchte euch sagen, dass wir euch alle sehr liebhaben möchte danke sagen für eure Gastfreundschaft..."
Auch seine Frau Juliane ist jetzt total aufgewühlt.
"Schon als wir ausgestiegen und dort hingelaufen sind, musste ich total anfangen zu weinen, ich war total überwältigt irgendwie von dieser Situation, dass die alle auf uns warten und man sie sieht, nachdem man sie vorher ein paar Monate über's Handy gesehen und gesprochen hat, irgendwie hat man's da dann erst so richtig realisiert, was das jetzt heißt. Es einfach total toll, wirklich auch unbegreiflich!"
"Du kannst ihm nichts bieten, weil du arm bist"
Eng umschlungen tanzt Carlos mit seiner Mutter zu den Klängen der Marimba. Die Nase, die Augenbrauen, der Mund: die beiden ähneln sich. Mehr als 30 Jahre hat Victoriana auf diesen Moment gehofft. Abgegeben hat sie ihr Baby damals aus purer Not.
"Meine Schwester hat mir damals gesagt: Du wirst dem Jungen nicht das geben können, was er braucht, er braucht Bildung, es soll ihm gut gehen, und das kannst du ihm nicht geben, weil du arm bist."
An den Moment, als sie Carlos weggab, erinnert sie sich noch genau.
"Die Frau in der Hauptstadt, bei der ich ihn gelassen habe, hat zu mir gesagt: Fragen Sie nie mehr nach Ihrem Kind, es wird nie wieder zurückkehren."
Carlos hegt keinen Groll gegen seine Mutter. Doch wenn er an die guatemaltekische Rechtsanwältin denkt, die die Adoption organisiert hat, ist er wütend und traurig.
"Die hat von dem Wunsch meiner Eltern in Deutschland, ein Kind zu haben, ebenso profitiert wie von der Armut, in der meine Mutter gelebt hat, und aufgrund derer sie sich gezwungen gesehen hat, mich in die Adoption zu geben. Und damit hat sie ihr Geld verdient, und das ist natürlich sehr hässlich, weil das Gefühl, dass man von ihr verkauft wurde, das ist natürlich ein schreckliches Gefühl."
Niemand leidet mehr als die Mutter, die ihr Baby abgibt
Nach dem Abendessen sitzt die Familie in kleinem Kreis in der Küche zusammen. Die Stimmung ist ausgelassen und fröhlich. Carlos und sein Halbbruder Luis stehen auf und singen. Victoriana sitzt etwas abseits, den Kopf auf eine Hand gestützt.
"Ich schäme mich so sehr vor dem Moment, wo er mich plötzlich fragt: 'Mama, warum hast,du das gemacht? Das ist sehr, sehr hart für mich."
Carlos möchte nicht, dass seine Mutter sich so quält.
"Ich glaube, es gibt niemanden, der so viel darunter gelitten hat wie meine Mutter, dass sie das gemacht hat, jetzt die letzten 33 Jahre, und die so viele Schuldgefühle hatte. Ich habe auch gar kein Gefühl von Zorn und Wut auf sie, habe so viel Mitleid mit ihr und ihrem Leben, das sie hatte.
Er will heute Nacht den Augenblick genießen, auf den auch er so lange gewartet hat. Und singt mit seinem Halbbruder weiter. Den alten mexikanischen Schlager: "No hay nada más difícil que vivir sin tí" - Nichts ist schwieriger, als ohne dich zu leben.