Wallfahrt zu einem Weltwunder
Eine Wiege des Christentums steht in Afrika: Äthiopiens christliche Tradition reicht weit in die Zeit vor der Kolonialisierung zurück. Im schwer zugänglichen Hochland im Norden des Landes liegt ihr religiöses Zentrum: Die Felsenkirchen von Lalibela.
Auf den ersten Blick wirkt der Mann wie ein Muezzin. Aber es ist ein christlicher Priester, der am Sonntagmorgen die Messe in Lalibela hält. Die elf roten Felsenkirchen sind dann überfüllt mit Gläubigen. Auf den Kirchhöfen und über die roten Berghänge verteilt stehen hunderte weiß gekleidete Menschen.
Abebe Abiye: "Hallo, alle zusammen! Ich wollte noch etwas erzählen, bevor wir hinuntergehen. Das ist die größte Felsenkirche, die vorne steht. Das ist ‚Bet Medhane Alem‘. ‚Medhane Alem‘ bedeutet ‚Erlöser‘. ‚Bet‘ bedeutet ‚Haus‘. ‚Bet Medhane Alem‘ bedeutet ‚Haus des Erlösers‘."
Abebe Abiye ist einer der wenigen deutschsprachigen Reiseführer in Lalibela. Mit einer kleinen Gruppe von Touristen steht er nach der Messe am Rand eines Kirchhofs – einer künstlichen Schlucht im äthiopischen Hochland. Zwölf Meter tief ist der rote Tuffstein hier ausgehoben. In der Mitte dieses Abgrunds steht eine Basilika.
Abiye: "Der König Lalibela hat alle Felsenkirchen in 26 Jahren von oben nach unten aus Tuffstein herausgeschlagen. Er hat 40 Jahre das Land regiert und hat diese elf Kirchen in 26 Jahren geleistet."
König Lalibela regierte das Land wahrscheinlich von 1189 bis 1229. Der Legende nach hat er die Kirchen selbst aus dem Fels herausgeschlagen. Nachts kamen Engel, um ihm zu helfen. Hier wurde nicht ein Stein auf den anderen geschichtet, sondern das leichte Tuffgestein mit einfachsten Werkzeugen abgetragen. Das Gebäude stand so zunächst als Monolith da und wurde anschließend ausgehöhlt. Die Erlöserkirche, zu der Abebe seine Gruppe über Treppen und Tunnel hinabführt, ist die größte monolithische Kirche der Welt.
Ein zweites Jerusalem
Abiye: "Der König Lalibela hat Lalibela als zweites Jerusalem gebaut. Weil viele Leute damals nach Israel gereist sind, sind viele unterwegs gestorben. Und Gott hat ihm einen Auftrag gegeben nach der Legende, hier ein zweites Jerusalem herauszuschlagen. Deswegen haben die meisten Orte hier einen biblischen Namen aus dem Heiligen Land. Zum Beispiel: Es gibt ein symbolisches Grab von Abraham, ein Grab von Adam und von Jesus."
Lalibela als Kopie von Jerusalem, als mittelalterlicher Miniaturenpark, ist aus einer Geschichte der Isolation entstanden. Das Christentum verbreitete sich wahrscheinlich ab dem 4. Jahrhundert in der Region am Horn von Afrika. Als der Großteil von Nordafrika ab dem 7. Jahrhundert muslimisch wurde, wurden die äthiopischen Christen nach und nach von anderen christlichen Kirchen und dem Wallfahrtsweg nach Jerusalem abgeschnitten. Im schwer zugänglichen Hochland von Äthiopien, vor Eroberung und Verfolgung geschützt, entwickelte sich so eine sehr eigentümliche Form des orthodoxen Christentums – mit den Felsenkirchen von Lalibela als Zentrum.
"Die Kirche ist so groß. 33 Meter lang und 23 Meter breit", erklärt Abiye. Die wirkliche Größe dieses "Hauses des Erlösers" wird dem Besucher jedoch erst bewusst, sobald er tief unten im engen Kirchhof steht und beim Blick in die Höähe nur noch einen schmalen Streifen Himmel erkennt. Schlanke Säulen tragen ein Vordach – kaum vorstellbar, dass das ganze Gebäude in einem Stück aus dem Fels gehauen wurde.
Auf Socken ins Allerheiligste
"Wir lassen unsere Schuhe hier", sagt Abebe Abiye und mahnt zur Vorsicht: "Der Eingang und Ausgang ist sehr rutschig." Das Innere der Kirche darf – ähnlich wie in einer Moschee – nur auf Socken oder barfuß betreten werden. Durch einen über die Jahrhunderte fast spiegelglatt gewordenen Eingangsbereich tritt der Besucher in den schummerigen Innenraum.
Abiye: "Jede Kirche hat drei Teile. Das ist der Priesterbereich. Und der zweite ist, wo die heilige Messe stattfindet. Und der dritte ist der allerheiligste Raum, wo die Bundeslade steht. In jeder Kirche gibt es eine Replika der Bundeslade."
Der allerheiligste Raum ist hinter schweren Vorhängen verborgen. Dahinter befindet sich das Heiligtum jeder äthiopischen Kirche – ein kunstvoller Nachbau der Bundeslade. Die äthiopisch-orthodoxe Kirche hat ihre eigene Version vom Verbleib der Bundeslade – des wirklich echten, biblischen Originals mit den Steintafeln, die die zehn Gebote enthalten.
In jeder Kirche eine Kopie der Bundeslade
"Die echte Bundeslade steht in Aksum", sagt Abiye. "Aber in jeder Kirche gibt es eine Replik. Wenn eine Kirche keine Replik der Bundeslade hat, sagt niemand ‚Kirche‘." Aksum war bis in die Spätantike die Hauptstadt Äthiopiens. Die Bundeslade lagert angeblich bis heute dort, wo sie ständig von einem Mönch bewacht wird. Nicht einmal der höchste äthiopische Patriarch darf sie sehen.
Um die Bundeslade rankt sich auch der Gründungsmythos des äthiopischen Christentums und der wichtigsten Königsfamilie, der Zagwe-Dynastie. Demnach geht die Zagwe-Dynastie auf eine Verbindung zwischen König Salomon und der Königin von Saba zurück – noch Haile Selassie, der Äthiopien bis 1974 regierte, bezeichnete sich als Nachfolger dieser Dynastie. Am Anfang, also ungefähr im Jahr 800 vor Christus, soll Menelik I, der Sohn von Salomon und der Königin von Saba, die Bundeslade seinem Vater in Jerusalem gestohlen und nach Äthiopien gebracht haben.
Aus alten Handschriften wird noch gelesen
Der wirkliche Reichtum vieler äthiopischer Felsenkirchen sind aber nicht die Kopien der Bundeslade. Es sind die uralten Handschriften, die von den Priestern verwahrt, aber auch alltäglich genutzt werden. Sie sind in Ge’ez geschrieben, einem der ältesten Alphabete der Welt.
Einige der Bibeln und Hagiografien in Lalibela sind angeblich so alt wie die Felsenkirchen selbst. Die wertvollsten liegen in einem kleinen Museum, aber auch viele jener Bücher, die alltäglich in Benutzung sind, sind mehrere Jahrhunderte alt. Für die festgelegte tägliche Liturgie werden sie hervorgeholt, präsentiert und gelesen. "Die Priester stehen immer in der Kirche", erklärt Abiye. "Die Leute gehen auch in die Kirche jeden Tag und werden dann auch gesegnet."
Während die wenigen Touristen auf Socken über die Teppiche schleichen, stehen die oft sehr alten Priester in weiße Tücher gehüllt an ihrem Pult und lesen. Zwischendurch segnen sie Gläubige jeden Alters, reich und arm, die zu ihnen kommen. Diese Lebendigkeit, mit der die Kirchen in Lalibela genutzt werden, beeindruckt beim Besuch noch mehr als die alte Baukunst.