Die Ahnung eines selbstbestimmten Lebens
Auch in seinem neuen Roman geht Colm Tóibín Widersprüchen zwischen den Wünschen eines Menschen und der Wirklichkeit nach. Tóibín ist auf der Höhe seiner diskreten Einfühlungskunst, voll melancholischer Einsichten in die Menschennatur.
Der Erzähler und Essayist Colm Tóibín, 1955 in Enniscorthy in Südirland geboren, gilt als der bedeutendste irische Autor der mittleren Generation. Seine Bücher sind vielfach preisgekrönt. Mit seinem Henry-James-Roman "Der Meister in mittleren Jahren" (2005) gelang ihm auch im deutschsprachigen Raum der Durchbruch.
Tóibín interessieren vor allem die emotionalen und sozialen Einengungen, die Menschen daran hindern, ihre Sehnsüchte auszuleben. Dieser Autor ist ein diskreter, geduldiger und genauer Erforscher der verschwiegenen Motive der Menschen im komplexen Zusammenspiel mit ihrem sozialen Umfeld und den Instanzen, die ihr Leben bestimmen. In vielen seiner Romane und Erzählungen sind das Mutter Irland und Mutter Kirche.
Auch in "Brooklyn", seinem neuen Roman, geht Colm Tóibín Widersprüchen zwischen den Wünschen eines Menschen und der Wirklichkeit nach. Seine Heldin Eilis lebt mit ihrer verwitweten Mutter und der älteren Schwester Rose in Enniscorthy. In den 1950er Jahren hat die rückständige, ökonomisch stagnierende irische Provinz einem intelligenten 20-jährigen Mädchen keine Zukunft zu bieten: Kaum Aussicht auf Ausbildung, Arbeit und Heirat. Deshalb arrangiert die kluge, tüchtige Rose für ihre kleine Schwester die Auswanderung nach Amerika. Erst im Nachhinein begreift Eilis, dass Rose damit auf eine eigene Zukunft verzichtet hat.
In New York findet sich Eilis zunächst in einer vergrößerten Kopie von Enniscorthy wieder: Auch Brooklyn erweist sich als eine eng gestrickte irische Stadt. Es herrscht die gleiche lückenlose soziale Kontrolle, hier ausgeübt von einer Pensionswirtin und dem Gemeindepriester, die über die Tugend von Eilis und der anderen irischen Mädchen wachen. Doch Eilis schafft sich, quälenden Heimweh-Anfällen zum Trotz, die Grundlagen einer amerikanischen Existenz. Sie verdient ihr Geld als Verkäuferin in einem Textilgeschäft, qualifiziert sich in Abendkursen zur Buchhalterin, findet sogar einen Verlobten – den italienischstämmigen Tony, einen ernsthaften und liebevollen jungen Klempner.
Als Rose unvermutet stirbt, kehrt Eilis kurzfristig nach Irland zurück, um ihrer Mutter beizustehen. Vorher lässt sie sich von Tony, der damit ihre Rückkehr sicherstellen will, zu einer heimlichen standesamtlichen Heirat nötigen. Doch jetzt bietet plötzlich auch Enniscorthy der hübsch erblühten und selbstsicheren Amerika-Fahrerin Eilis eine Zukunft. Soll sie in Irland bleiben oder zu Tony in die USA zurückkehren?
Colm Tóibín zeichnet seine Heldin als eher passives, leicht lenkbares Mädchen, das in ein moralisches Dilemma gerät, dem es nicht gewachsen ist. Eilis kann sich über ihre Zukunftswünsche nicht klar werden, weil die Umwelt ständig Druck macht. In aller Bescheidenheit erlebt sie – ganz ähnlich den Heldinnen der Romane von Henry James – einen Vorgeschmack von Freiheit und die Ahnung eines selbstbestimmten Leben, doch nichts davon kann sich entfalten, die Optionen verflüchtigen sich. Eilis’ Tapferkeit beschränkt sich zuletzt darauf, auf eigene Wünsche zu verzichten, die Augen zu schließen und "sich nichts weiter vorzustellen".
"Brooklyn" zeigt Colm Tóibín auf der Höhe seiner diskreten Einfühlungskunst, ganz auf den Spuren seines Meisters Henry James – voll melancholischer Einsichten in die Menschennatur.
Besprochen von Sigrid Löffler
Colm Tóibín: Brooklyn
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini
C. Hanser Verlag, München 2010
303 Seiten, 21,90 Euro
Tóibín interessieren vor allem die emotionalen und sozialen Einengungen, die Menschen daran hindern, ihre Sehnsüchte auszuleben. Dieser Autor ist ein diskreter, geduldiger und genauer Erforscher der verschwiegenen Motive der Menschen im komplexen Zusammenspiel mit ihrem sozialen Umfeld und den Instanzen, die ihr Leben bestimmen. In vielen seiner Romane und Erzählungen sind das Mutter Irland und Mutter Kirche.
Auch in "Brooklyn", seinem neuen Roman, geht Colm Tóibín Widersprüchen zwischen den Wünschen eines Menschen und der Wirklichkeit nach. Seine Heldin Eilis lebt mit ihrer verwitweten Mutter und der älteren Schwester Rose in Enniscorthy. In den 1950er Jahren hat die rückständige, ökonomisch stagnierende irische Provinz einem intelligenten 20-jährigen Mädchen keine Zukunft zu bieten: Kaum Aussicht auf Ausbildung, Arbeit und Heirat. Deshalb arrangiert die kluge, tüchtige Rose für ihre kleine Schwester die Auswanderung nach Amerika. Erst im Nachhinein begreift Eilis, dass Rose damit auf eine eigene Zukunft verzichtet hat.
In New York findet sich Eilis zunächst in einer vergrößerten Kopie von Enniscorthy wieder: Auch Brooklyn erweist sich als eine eng gestrickte irische Stadt. Es herrscht die gleiche lückenlose soziale Kontrolle, hier ausgeübt von einer Pensionswirtin und dem Gemeindepriester, die über die Tugend von Eilis und der anderen irischen Mädchen wachen. Doch Eilis schafft sich, quälenden Heimweh-Anfällen zum Trotz, die Grundlagen einer amerikanischen Existenz. Sie verdient ihr Geld als Verkäuferin in einem Textilgeschäft, qualifiziert sich in Abendkursen zur Buchhalterin, findet sogar einen Verlobten – den italienischstämmigen Tony, einen ernsthaften und liebevollen jungen Klempner.
Als Rose unvermutet stirbt, kehrt Eilis kurzfristig nach Irland zurück, um ihrer Mutter beizustehen. Vorher lässt sie sich von Tony, der damit ihre Rückkehr sicherstellen will, zu einer heimlichen standesamtlichen Heirat nötigen. Doch jetzt bietet plötzlich auch Enniscorthy der hübsch erblühten und selbstsicheren Amerika-Fahrerin Eilis eine Zukunft. Soll sie in Irland bleiben oder zu Tony in die USA zurückkehren?
Colm Tóibín zeichnet seine Heldin als eher passives, leicht lenkbares Mädchen, das in ein moralisches Dilemma gerät, dem es nicht gewachsen ist. Eilis kann sich über ihre Zukunftswünsche nicht klar werden, weil die Umwelt ständig Druck macht. In aller Bescheidenheit erlebt sie – ganz ähnlich den Heldinnen der Romane von Henry James – einen Vorgeschmack von Freiheit und die Ahnung eines selbstbestimmten Leben, doch nichts davon kann sich entfalten, die Optionen verflüchtigen sich. Eilis’ Tapferkeit beschränkt sich zuletzt darauf, auf eigene Wünsche zu verzichten, die Augen zu schließen und "sich nichts weiter vorzustellen".
"Brooklyn" zeigt Colm Tóibín auf der Höhe seiner diskreten Einfühlungskunst, ganz auf den Spuren seines Meisters Henry James – voll melancholischer Einsichten in die Menschennatur.
Besprochen von Sigrid Löffler
Colm Tóibín: Brooklyn
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini
C. Hanser Verlag, München 2010
303 Seiten, 21,90 Euro