Hier geht es zur Playlist der Sendung.
Komponieren, wie die Kuh Milch gibt?
Vor dem Ersten Weltkrieg begonnen, im Krieg vollendet: Die "Alpensinfonie" von Richard Strauss ist ein Werk zwischen den Zeiten, ein Abgesang auf die Romantik und ein Aufbruch ins Ungewisse. Ein Spaziergang ist sie jedenfalls in keiner Hinsicht.
Mit Richard Strauss und der "Alpensinfonie" ist es ein wenig so wie mit Emil Nolde und der Südseereise: Als Strauss 1915 vom komponierten Gipfel wieder herunterkam (um das Wort "Abstieg" zu vermeiden), begann sich das Land, aus dem er 1911 aufgebrochen war, kriegsbedingt aufzulösen.
Strauss pflegte ein pragmatisches, bisweilen opportunistisches Verhältnis zu den Mächtigen und ließ seine Musik immer wieder in den Dienst der Politik stellen. Aber dass seine "Alpensinfonie" bei ihrer Uraufführung im Oktober 1915 in Berlin als "das erste und einzige hoch aufragende Werk aus der großen Zeit, die wir durchleben" gefeiert wurde, war ihm wohl nicht geheuer: "Es ist widerlich, in den Zeitungen von der Regeneration der deutschen Kunst zu lesen", hatte es schon zuvor in einem Brief an seinen Librettisten Hugo von Hofmannsthal geheißen.
Gipfelsturm zu hundertzehnt
Natürlich kann man nicht umhin, Strauss für diese mal mehr, mal weniger kreativen Missverständnisse mitverantwortlich zu machen: Wer ein umfangreiches Orchesterwerk "Eine Alpensinfonie" nennt, wer dafür eine exzentrische Besetzung von rund 110, gerne auch deutlich mehr Musikern vorschreibt, der nimmt hochtrabende Deutungen ebenso in Kauf wie abgrundtiefe Verdammungen, denen das Werk vor allem in späterer Zeit ausgesetzt war.
Wer sagt, er habe einmal so "komponieren wollen, wie die Kuh die Milch" gibt; wer jedem der 22 Abschnitte des Werks poetische Überschriften gibt wie "Auf blumigen Wiesen" oder "Auf dem Gipfel", und wer dann noch dem Konzertsaal mit Windmaschine und Donnerblech zu Leibe rückt – der muss sich nicht wundern, dass sein Werk in der Wahrnehmung von einer erhabenen Alpensinfonie zu einer gutbürgerlichen Alpenvereinssinfonie zusammenschnurrt. Und Strauss, der durchaus ein Talent dafür hatte, sich und sein Werk zu verkaufen, dürfte das gewusst haben.
Klangkulisse und Künstlerdrama
Was sein Publikum wiederum nicht gewusst haben dürfte – oder es später nicht wahrhaben wollte –, waren die zahlreichen literarischen, philosophischen und biografischen Aspekte dieses Werkes.
Dessen Entstehung verdankt sich nicht nur einem jugendlichen Wander-Erlebnis des Komponisten am Heimgarten im Bayerischen Voralpenland und seiner Freude an der virtuosen Abschilderung alpiner Szenen.
Drei Todesfälle waren für die Konzeption der "Alpensinfonie" als philosophisch grundierter Künstlertragödie nicht minder ausschlaggebend: der Tod des Malers Karl Stauffer 1891, der Tod des Philosophen Friedrich Nietzsche 1900 und der Tod Gustav Mahlers 1911 – letztere Nachricht erreichte Strauss, als er sein seit vielen Jahren geplantes Werk niederzuschreiben begann.
So bleibt die einst bejubelte, dann vielfach gescholtene oder schlichtweg belächelte "Alpensinfonie" eine Herausforderung, der sich in jüngster Zeit besonders der Komponist Helmut Lachenmann gestellt hat – in bewusst dialektischer Wahrnehmung einer Musik, die stellenweise viel avancierter ist, als ihre Satzüberschriften vermuten lassen.
Auch ist die Geschichte dieses Werks im Aufnahmestudio trotz vieler prominenter Gipfelstürme noch lange nicht vorbei, wie Volker Hagedorn in dieser Sendung zeigt.